Das mit den Erinnerungen kennt ja wahrscheinlich sogar jeder ....
Da sitzt man im Familienkreis und erzählt von früher und plötzlich erzählt Muttern von Vorfall xy und verknüpft ihn mit Bruder A während Bruder B lauthals interveniert, die Geschichte sei doch ihm passiert ....
Oder meine Mutter und ich haben an ein und dieselbe Geschichte zwei verschiedene Erinnerungen .... Macht mich wahnsinnig, weil ich mich da frage- wer von uns hat jetzt den Knall im Kopf?
Aber: bei uns in der Familienhistorie gibt es den Fall von Missbrauch ....
Die Person, um die es geht konnte sich aber jahrelang nicht erinnern....
Es kam erst im Zuge einer stationären psychosomatischen Kur zutage, ursprünglich ging es um ein Suchtproblem, weshalb behandelt wurde ...
Für mich ist bis heute da vieles unklar .... Ich war damals 19 Jahre, als es ans Tageslicht kam und zu dem Zeitpunkt des Vorfalls war ich eh noch ein Baby ....
Ich habe gelesen, dass selbst diese "Erinnerung" rein theoretisch eine Lüge sein könnte, die der Missbrauchte für wahr hält ....
Widerspricht aber dem Fakt, dass er sich damals meiner Mutter anvertraute .... Und wohl auch damals als Teenager psychologische Hilfe bekommen haben soll....
Es geht um meinen ältesten Bruder ...
Meine Schwester wiederum kann sich auch nicht daran erinnern, dass sie alle damals in eine größere Stadt mussten, um dort einen Therapeuten aufzusuchen ...
Tja, und auch mein Bruder hat dieses Erlebnis fast 2 Jahre "verdrängt".... Ich nenn es so, weil ich dann nicht wüsste, wie sonst zu benennen?
Was ist es aber dann???
Wenn jemand sich nicht erinnert, dann ist das Vergessen oder "nur" nicht drüber sprechen oder "nur" sich damit nicht beschäftigen.
Vergessen hat in der Regel einen "negativen Beigeschmack" ("hab ich vergessen, war wohl nicht so wichtig") - zu Unrecht wie ich finde.
Ich würde gern deinen Bruder fragen wollen, was in dieser Zeit genau passiert ist und was er tatsächlich gedacht hat (auch das wird "nur" Erinnerung sein, also auch nicht genau das treffen, was in dieser Zeit in ihm passiert ist, aber es ist auf jeden Fall wertvoller, als ihm vorab zu unterstellen, dass er verdrängt hat).
Die Mißbrauchsopfer, die ich kenne und denen der Mißbrauch ab ca. der Pubertät passiert ist, haben definitiv nichts vergessen (aber ich kenne bei weitem nicht alle). Sie sind nur sehr unterschiedlich damit umgegangen.
Kleinere Kinder gehen in der Regel noch mal anders damit um, weil ihnen das, was "normal" ist, ja nicht so präsent ist, wie Erwachsenen (und auch die haben mitunter Probleme damit, was noch in den Bereich des Normalen fällt und was nicht - langes Thema).
Kinder, die ab Säuglingsalter mißbraucht werden, entwickeln (so erschreckend das auch ist) zu dem Mißbrauch ein ganz normales Verhältnis - es ist ihre Normalität (sie kennen ja nichts anderes).
Hinzu kommt, wie den Kindern der Mißbrauch "verkauft wird" ("das ist doch ganz normal", "das machen alle" u.ä.).
Ist das alles "Verdrängen"?
Oder ist das was anderes?
Da "Verdrängen" a priori ganz viel Wertung (auch Abwertung) beinhaltet, bin ich dafür, es als etwas anderes zu bezeichnen und das sollte der Betroffene selbt formulieren, wenn er mag und idealerweise, bevor man ihm das Konstrukt der Verdrängung anbietet (in dem Augenblick passiert schon etwas mit seinen Erinnerungen - sie landen in einer bestimmten "Schublade").
Vor etlichen Jahren hatte ich eine junge, psychisch völlig gesunde Kollegin, die seit ihrer Kindheit von ihrem Vater mißbraucht wurde. Sie wohnte noch zu Hause und der Mißbrauch hielt an.
Ich erinnere mich so gut, weil ich so entsetzt seltenst war (mir ist ja schon vieles untergekommen, aber da wußte ich definitiv nicht mehr weiter, ich war nur wenig älter als sie) - sie fand das völlig ok, hatte keinen Leidensdruck und wollte kein Hilfsangebot annehmen.
Sie verzieh mir, dass ich eine vertrauenswürdige Vorgesetzte einschaltete (ich hatte größte Not), die mit ihr sprach, aber zu dem Ergebnis kam, dass man gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen nichts unternehmen kann.
Von dieser Kollegin lernte ich mehr bzgl. Mißbrauch als aus Büchern und bin deutlich vorsichtiger geworden.
Für mich ist das immer noch eine der schlimmsten Sachen, die einem passieren können, keine Frage, aber die Brachialgewalt, mit der die Gesellschaft auch auf die Opfer einwirkt, kann nach hinten losgehen.