Nachtwind 3 - Winter 1916

Ironwhistle

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Als er aufwachte war es ruhig um ihn herum. Leichter Nebel trieb über die triste Landschaft und er drehte sich auf den Bauch. Sein Fuß hatte sich im Stacheldraht verfangen. Er hatte es nicht bis zum Graben geschafft und irgendetwas hartes hatte ihn am Rücken getroffen. Ihm war kalt, schrecklich kalt und er zog den schmutzigen und zerrissenen Mantel enger um seine Schultern. Er dachte an die Landschaft, wie sie noch vor zwei Jahren aussah; blühende Felder und Bäume, ein Himmel der einen guten Morgen versprach und heute? Ein Niemandsland aus Schlamm und Gräben von allen Seiten umkämpft und mit dem Blut jener durchtränkt die fernab dieser Grausamkeiten als Helden verehrt wurden. Es war pervers, ein Schlachten an einem gigantischem Fließband des Todes dem Tag für Tag neue Gesichter und Schicksale zugeführt wurden. Eine Ehre ist's für das Vaterland zu sterben, aber hier hatte er keine Ehre finden können...

Sein Rücken schmerzte erbärmlich und er hatte Schwierigkeiten zu atmen. Da lag er, im Nebel und Schlamm verborgen und das einzige Geräusch das ihn erreichte war das leise Säuseln des Windes der über die Löcher im Boden strich und die Holzbefestigungen für den überall wartenden Stacheldraht umstreifte. Er fror erbärmlich und schloss für einen Moment die Augen. Eine kurze Pause in dieser Hölle falscher Ehrgefühle...

"Warst du auch immer schön artig?" Es war die Stimme des Weihnachtsmannes, jene Stimme die seltsamerweise immer klang wie die seines Onkels, die er hörte. Er war sechs Jahre alt und stand in seiner besten Kleidung vor dem von Kerzen erleuchteten Tannenbaum, die Hände brav gefaltet und den Blick ängstlich gesenkt und doch voller Vorfreude. Sie hatten ihm eine dieser neuen Puppen gekauft. Einen Bären der einen Knopf im Ohr hatte. Genau so einen wie er ihn sich immer gewünscht hatte. Er sah die Augen des Vaters und die der Mutter, beide zufrieden nun da sie seine Freude sahen. Julius, ja, so würde er seinen Bären nennen...

Der Wind war eisig und die Kälte kroch, ausgehend von einer Stelle in seinem Rücken, mehr und mehr in den Rest seines Körpers. Er würde weitergehen müssen wenn er überleben wollte. Doch wohin? Er hatte die Orientierung verloren und wusste nicht mehr wo sich die ständig wechselnde Frontlinie befand. War er im Gebiet des Feindes? Oder befand er sich noch auf deutschem Boden? Er wusste es nicht und selbst wenn dieser verdammte Nebel nicht gewesen wäre, auf diesem Fließband des Todes sah doch jeder Winkel gleich aus. Er krallte in den Boden, Angst und Verzweiflung ließen ihn eine Träne verlieren - eine von vielen die diesen Boden bereits getränkt hatte und schlammig werden ließen.

Er war schwach und der Wind pfiff über ihn hinweg - erinnerte ihn an seine Mutter, wie sie ihm zum Abschied ihre Hand auf die Schulter legte und wie sie ihn ansah, mit einer Mischung aus Stolz und Angst. Dachte daran wie sein Vater ihm noch sagte das er keine Angst haben bräuchte, das die Feinde keine Gefahr seien und das er ein gutes Christenwerk täte wenn er diesen Hunden den Garaus machen würde. Das Bild des Feindes, es hatte sich hier verändert. Irgendwann mutierten die Monster zu Menschen und später wurden aus den Menschen Schatten, leere Augen die ohne Hoffnung auf ein Morgen zu ihm starten, die das reflektierten was er selber war - ein ausgezehrter Körper mit glasig wirkenden Augen der den Glauben an das verloren hatte, weswegen er hier war.

Sein Vater, jener Mann der ihm zum zwölften Geburtstag seinen Julius nahm - Jungs spielen nicht mit Puppen. Stattdessen bekam er eine Armee aus Zinnsoldaten. Kalt und glatt in ihren aufgemalten Uniformen. Einer glich dem Anderen, Reihe um Reihe, bewaffnet und lächelnd zogen sie in einen Krieg der niemals für sie enden würde. Aber keiner von ihnen war in der Lage ihm den gleichen Schutz in seinen Träumen zu geben wie sein geliebter Bär Julius. Er wagte damals nicht zu weinen, seinen Vater anzuflehen ihm seinen Julius wiederzugeben. Er wusste das sein Vater einen Mann aus ihm machen wollte, keinen weinerlichen Trottel...

Erneut schloss er die Augen, seine Gedanken gingen weg von Julius trieben zu seiner Mutter, zurück in die sicheren Gefilde einer Kindheit die ihm nun so entsetzlich fern schien. Der Wind strich über ihn hinweg und brachte einen Schwall Wärme mit sich - vielleicht ein Feuer das irgendwo in seiner Nähe brennen würde, er versuchte sich vorwärts zu ziehen, gegen die Kälte und die Schwäche anzukämpfen als seine Finger etwas seltsames berührten. Eine vertraute Form, nasses Fell - nicht das Haar eines Kameraden oder eines Pferdes, dafür war das was er berührte zu weich. Er krümmte Seine Finger um das Ding und zog es aus dem Schlamm hervor. Es war ein Teddybär der ihn aus einem Auge ansah während das andere an einem Stück Schnur herab baumelte.

Er begann zu lachen - in seinem Rücken das Feuer das irgendwo brennen musste, welches einen wärmenden Strom in seine Richtung schickte und vor ihm ein zerfledderter alter Stoffbär der ihm just in dem Moment begegnen musste, in welchem er an seinen eigenen Teddybär denken musste. Er hatte seinen Julius geliebt, den kleinen weichen Begleiter. Einen stummen Kameraden der ihn in seinen Träumen begleitete und der die Monster in der Dunkelheit seines Kinderzimmers von ihm fern hielt. Eine stumme, pelzige und treue Wacht mit einem Knopf in seinem Ohr.

Er hielt den Teddybären fest und kroch ein weiteres Stück vorwärts, die Wärme war jetzt näher an ihn heran gekrochen und der Wind trug erste Gerüche zu ihm. Es roch nach Honigkuchen und warmer Milch - vielleicht ein neuer Kampfstoff? Er wusste aus den Berichten der anderen das manche Kampfmittel einen süßen, fast schon angenehmen Geruch verbreiten würde. Nein, er wollte nicht sterben, nicht so, nicht in dieser Anonymität des Feldes. Er wollte nicht das andere über seinen Leichnam hinweg marschieren würden, das sein Körper unter dem Donner der Mörser mehr und mehr zu dem Schlamm werden würde zu dem hier alles wurde.

Er nahm seine Kraft zusammen und stand auf - sein Gewehr würde er liegen lassen, denn die Zeit des Kämpfens war für ihn vorbei. Er blickte sich nicht um, wollte nur noch weg. Mit dem Teddybären in der Hand machte er zunächst mühsam eine Schritt nach dem anderen. Es dauerte bis sein Körper begriffen hatte das doch noch Energie in ihm steckte. Er begann leicht zu laufen, Schritt für Schritt, nur weg von hier, so weit es ginge weg von Belgiens zerschossener und geschändeter Erde.

Der Wind in seinem Rücken wurde stärker, half ihm bei seiner Flucht quer über das Feld und er musste weiterlaufen, denn der süße Geruch verfolgte ihn mit dem Wind. Er sprang über Gräben, stolperte über Draht und ignorierte das stechende Hämmern in seinem Rücken mehr und mehr je weiter er kam. Den Teddybären in seiner Hand floh der verletzte Soldat durch den trüben Nebel nach vorne - wo auch immer dieses Vorne gelegen haben mag. Irgendwann stolperte er, fiel wieder in den Schlamm und berührte etwas hartes. Seine Finger schlossen sich um ein Bild - sein Bild. Es musste bedeuten das sein Vater ihm in den Krieg gefolgt sein musste, es war ihm egal wie unwahrscheinlich es war in diesem Allerlei aus Schlamm, Blut, Tränen und zerschossenen Körpern ausgerechnet Spuren seines Vaters zu finden. Er stellte sich auf und rief nach ihm, rief so laut er konnte und weitere Tränen durchdrangen den aufgeweichten Boden...

Da war er wieder, der süßlich-verlockende Geruch des chemischen Todes - er lief weiter und rief immer wieder den Namen des Vaters ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Während des Laufens steckte er das Bild in seine Brusttasche, etwas das er wieder mit nach hause bringen wollte und irgendwann hörte er auf zu rufen, lief einfach nur noch weiter bis der Nebel sich langsam aufzulösen begann und er an eine kleine Waldgrenze gelangte. Hier standen noch Bäume und vereinzelte Sträucher. Leben das vom Krieg noch nicht ausgelöscht worden war. Er musste weit gelaufen sein, sehr weit und er wusste immer noch nicht wo er war.

Er stolperte durch den Wald, immer noch den süßen Geruch im Nacken und kam irgendwann zu einer Lichtung. Er war nicht mehr alleine, seine Kameraden waren vor der giftigen Wolke wohl in die gleiche Richtung geflohen. Sie sahen nicht viel besser aus als er, aber sie hatten einen neuen Führer gefunden - seinen Vater. Er stand in einer vergleichsweise sauberen Uniform vor ihnen und erklärte ihnen wo sie nun hingehen würden. Ein neuer Befehl von Oben sollte sie nach Hause bringen und er war angewiesen sie dorthin zu führen. Er sah seinen Sohn und winkte ihn herbei - keinen Rüffel weil er einen Teddybären statt seiner Waffe in den Armen hielt, kein Wort des Tadels, nur eine Träne lief über das Gesicht seines Vaters als er seinen Sohn betrachtete...

Der Wind pfiff leise über Belgiens Boden, strich über den leblosen Körper der im Schlamm lag hinweg. Eine Schusswunde die durch den Rücken in die Lunge gegangen war, ein kurzer Moment der ein junges Leben ausgelöscht und seiner Zukunft beraubt hatte. Die rechte Hand des Soldaten nach vorne gestreckt, als wolle sie etwas festhalten was ihm sehr viel bedeutete und das anderen Blicken verborgen bleiben sollte. Sein Name ist nirgendwo vermerkt, ein Unbekannter der für den Irrsinn einiger weniger sein Leben lassen musste. Eine weitere Geschichte über einen Menschen den der Nachtwind erzählt, jener Wind der die Namen und Geschichten unzähliger kennt und der irgendwann auch unsere Namen flüstern wird...
 
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