Liebe Eva,
Moral an sich ist doch für jeden was anderes bzw. veränderlich, vom Zeitgeist abhängig und auch von der jeweiligen Kultur. Genauso die Ethik und, die Bedeutung von Folgen von Verstößen und Verletzungen (zumindest rechtlicher Art). Und dann gibt es noch diese eine Ethik, die , so denke ich, in jedem Menschen steckt, bei jedem gleich ist und manchmal tief vergraben ist. Und weil das so ist , spürt man wohl auch sein Gewissen, auch wenn man "moralisch" einwandfrei gehandelt hat.
Liebe Alana,
ich merke, wir meinen dasselbe, ungeachtet der unterschiedlichen Bedeutungen, die wir, jede aus ihren persönlichen Erfahrungen heraus, bestimmten Begriffen zuordnen.
Den Satz, den ich fett hervorgehoben habe, finde ich dabei entscheidend:
Mit Schuld bezeichne ich die Empfindung, zu der jeder Mensch kommt, der gegen diese, ich möchte es mal "Grundethik" nennen, oder auch Gebot der Menschlichkeit, verstößt.
Das ist die tiefste Schicht. Darüber liegen die von dir angesprochenen, je nach Kultur und Gruppenzugehörigkeit, variablen Einflüsse.
Interessant in dem Zusammenhang ist, dass jeder Verstoß gegen die Menschlichkeit in der Tiefe als solcher wahrgenommen wird. Darum müssen die, denen aus einer Gruppentreue heraus etwas angetan wird, zuerst zu Nicht-Menschen, bzw. Nicht-Berechtigten um-definiert werden. (z.B. als Ungläubige, Menschen minderen Wertes, Feinde jeder Art, die vermeintlich zum Selbstschutz "präventiv" getötet oder vernichtet werden sollen, Angehörige eines minderwertigen Geschlechtes (Frauen!) oder auch, ganz beliebt, Menschen, denen vorsorglich die Schuld an der eigenen Handlung zugeschrieben wird.
Wäre das ( die Ent-Schuldigung/Recht-fertigung und die Schuldverschiebung) denn nötig, würde das eigene Handeln nicht tatsächlich schon als schuldhaft wahrgenommen, wenigstens irgendwo ganz tief im Herzen?
Ich sehe das Grund-Mitgefühl als natürliche Verbundenheit jedes Menschen mit allen Mit-Menschen an, das zwar gründlich verlegt oder überlagert sein kann, aber darunter weiterhin vorhanden.
Verstöße und Verletzungen möchte ich nicht mehr mit "Schuld" betiteln. Einfach deshalb, weil , wie wir wissen, auch Täter Opfer sind und Opfer zu Tätern werden können. Es sind einfach Handlungsweisen , die wir nicht verstehen können, die uns wehtun , und oft warten wir (lange und umsonst) darauf, daß der Täter/die Täterin das irgendwann doch erkennen müßte, wie verletzt wir wurden, weil sie es doch waren und weil sie "Schuld daran" sind. Wenn ich aber davon ausgehe, daß der Täter so gehandelt hat, weil er eben so IST - wie kann ich ihm dann irgendeine Schuld geben? Ich kann dann sehen, daß ich verletzt wurde, daß es niemals mehr ungeschehen gemacht werden kann, gleich ob der Täter erkennt was er getan hat oder nicht, daß es auch keine Wiedergutmachung dafür geben wird von ihm - und dann? Dann kann ich weitergehen. Ohne Schuldzuweisung für irgendjemanden.
Die Schuld, und ich bleibe mal bei dem Begriff und verwende ihn im Sinne meiner Erläuterungen weiter oben, ist Sache des Täters.
Wenn du als Opfer gedanklich die Schuld des Täters händelst, bist du weg von dir und deinem Job. Du kannst sie ihm nicht nehmen, und wenn du ihn noch so gut verstehen kannst. Und du kannst sie nicht steigern oder ihn zur Erkenntnis zwingen, indem du dich über den erlittenen Schaden hinaus leiden lässt, z.B. mit dem Wiederholzwang. Mitfühlen hieße dann, dass du seine Gewissensnot, ob er sie nun selbst spürt, oder (und das bedeutet immer einen Aufwand!) verdrängt, bzw. umdeutet, kennst und sie ihm lässt. Denn so, wie die Folgen der Tat zu deinem Schicksal als Opfer gehören, gehören sie zu seinem Schicksal als Täter.
In Aufstellungen zeigt sich dann eine heilsame Wirkung, wenn solche Zuständigkeiten entwirrt sind.
Den Umgang mit Schuld bringen ja nicht die Aufsteller als Konzept hinein, sondern sie folgern eben aus dem, was sich zeigt.
Schuld entsteht aus der Tat. Und sie misst sich an den Geboten der Menschlickeit, nicht an subjektiven, eben von Gruppenregeln oder kulturell beeinflussten, Urteilen.
Der Missbrauch von Schuldzuweisungen funktioniert übrigens genauso: Eine Handlung wird zur Tat erklärt und es werden Urteile gefällt, auf deren Basis dann Forderungen gestellt oder eben eigene Handlungen gerechtfertigt werden.
Im Kleinen als zwischenmenschliche Manipulationen, im Großen als Pseudorechtfertigung von z.B. Völkermord.
Das konnte ich lange nicht, ich habe immer gehofft, daß einer der "Täter" in meinem Leben das auch sehen würde und dieses Erlösungswort sprechen würde: "ich habe dir sehr wehgetan". Doch das ist nie passiert. Und das hat mir gezeigt, daß da kein Bewußtsein war von Schuld im anderen, höchstens in mir, weil ich mich so fühlte - denn ohne Schuld, wie hätte mich jemand so verletzen wollen? Doch auch ich hatte keine Schuld, als Kind ohnehin nicht und später war ich eben so, wie ich halt bin .
Und wenn ich das für jeden gelten lassen kann, dann gibt es auf der inneren Ebene keine Schuldzuweisung mehr.
Ja, es wäre schon etwas leichter für die Opfer, würden Täter zu ihrer Schuld stehen. Es wäre auch wünschenswert, denn gerade Kinder übernehmen die Schuld für das, was ihnen zugefügt wird. Darum ist auch das Verhalten der Zeugen so wichtig, bzw. später die Haltung des Therapeuten und des Umfeldes. Es ist einfach wichtig, dass Schuld festgestellt und benannt wird, damit das Opfer sie leichter beim Täter lassen kann.
Aus einer solchen Verwirrung heraus halten manchmal ehemalige Opfer dann die Schuld, die sie ihrerseits auf sich laden, für ausgeglichen angesichts dessen, was sie selbst erlitten haben.
Klarheit bringt jedoch nur, und damit auch die Möglichkeit zu ethischem Handeln und ehrenhaftem Umgang mit eigenen Taten, sich auf das eigene menschliche Gewissen einzulassen und die Gewissensarbeit der anderen loszulassen. Das bedeutet auch, sich nicht länger um die Schuld eines anderen zu sorgen und sie bei ihm zu lassen, ganz gleich, ob er sie nimmt oder nicht. (Symbolhafter Vollzug in der Aufstellungsarbeit!)
Und es bedeutet, die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen, ganz gleich was man erlitten hat.
Ich denke ohnehin daß auf der seelischen Ebene Verletzungen und Verstöße gegen die innere Ethik sehr wohl bemerkt werden und auch ein Ausgleich dafür gesucht wird.
Genau davon spreche ich
Und wieder sind wir bei der Aufstellungsarbeit, die wie keine andere Methode Klarheit in und Umgang mit solchen, sich überlagernden ethischen Regeln bringen kann.
Und die, dank Hellinger, mit missbräuchlichen, oft religiös bestimmten, Vorstellungen aufgeräumt hat. Zum Beispiel mit der Idee, Autoaggression und Verzicht auf Lebensglück gleiche eine Schuld aus. Oder Schuldige seien Freiwild für Empörte.
Statt dessen kam die Übernahme der eigenen Verantwortung, auch rückwirkend durch die Generationen, die Versöhnbarkeit und der Ausgleichsgedanke mit Schwerpunkt "Ausgleich im Guten", (auch gegenüber Dritten, wo man dem Opfer nichts geben kann) bzw. auf Deeskalation hinwirkendem "Ausgleich im Schlechten" (nur zwischen Opfer und Täter!) der stets etwas geringer ausfallen sollte.
Mir geht es da nicht um Worte, sondern um Haltungen.
Und um Mitgefühl als Wirkung auf die, die (noch) nicht in Kontakt mit ihrem Mensch-Sein gekommen sind. Spüren sie sich, spüren sie auch, was sie getan haben.
Und dann kann ein guter Weg entstehen.
Lieber Gruß,
Eva