ach, ich hatte noch nicht erwähnt, warum das Verstehen keine Worte mehr braucht. Es ist das Verstehen des Spiegelbildes. Mit wem sollte ich reden? Ich sehe mich selbst, und kann ohne Worte verstehen, einfach direkt. Trotzdem ist da immer noch die Zweiheit da. Das wird anders in der siebten Stufe, der des Schlächters.
Der Schlächter kommt und schlachtet den Ochsen. Der Ochse hat keine Erfahrung im Geschlachtetwerden. Es ist eine einmalige Erfahrung und eigentlich sogar gar keine Erfahrung, einfach ein Wechsel der Betrachtungsebene. Das "ich" hat keine Erfahrung darin, wie es ist, "nicht-ich" zu sein. Es geschieht ganz plötzlich. Vorher war die Betrachtung des Spiegelbildes, bis nicht mehr klar war, wer "ich" und wer "du" ist.
7. ein stiller Dank an die unaussprechliche Gnade, die mir geschenkt wurde - ja, durch das, was mich leiden und wachsen ließ.
Es ist eine Gnade, wenn man von der sechsten zur siebten Stufe durchbricht. Es ist wirklich ein Durchbruch, und nichts gibt es, das diesen Durchbruch "machen" könnte. Keine Technik, keine Magie, keine Meditation. Es ist Gnade, ein Geschenk. Es gibt nur die Voraussetzung, daß man vorher schon in der Stufe des Ochsen gewesen sein muß. Es ist das Durchschreiten einer Tür, von der man vorher nur die eine Seite sehen kann. Eben wie der Tod. Wir sehen hier das Leben, aber wird es ein Leben nach dem Tod geben? Wer kann es schon sicher sagen? Hoffen, ja. Glauben, auch. Aber wissen? Nur wer schon "drüben" gewesen ist. Der "Ochse", das "ich", hat auch keine Möglichkeit, das zu beschreiben, was er hinterher erlebt. Es gibt keine Worte dafür.
Nur eines: Dank. Ich konnte nur Gnade erfahren, ich konnte nur bis hierher kommen, indem ich diesen Weg zurückgelegt habe, indem ich selbst zum "Weg" geworden bin, selbst "Ochse", "ich", geworden bin. Gnade ist der Durchbruch in das absolut unvorstellbare.
Im Hebräischen schreibt sich das Wort für Gnade "chen", das ist in Zeichen "cheth+nun", in Zahlen "8+50". Sowohl die 8 als auch die 50 sind Durchbrüche in eine andere Welt. Die 8 hat sonst die hieroglyphische Bedeutung von "Zaun". Es ist der Zaun, der meine Welt umgrenzt, meinen Lebens-Garten. Was dahinter ist? Erst wenn sich der Zaun unvermutet durchlässig, ja sogar nicht-existent erweist, erscheint alles in einem anderen Licht. Die 8 ist die Zahl, die jenseits der 7 ist, jenseits der Zahl aller Möglichkeiten. Hast du alles ausgeschöpft, was du tun kannst, dann bist du höchstens bei 7, meist noch bei 6.
Aber zur 8 gelangt man nicht durchs Machen. Es ist eine Öffnung von woanders her. Der Schlächter schlachtet den Ochsen. Der Ochse schlachtet sich nicht etwa selbst. Er kann es nicht. Der Ochse mag wohl auch mal müde sein, hat genug von all dem Leben auf der Wiese und dem Trinken von dem Wasser, aber es ist seine Natur, daß er weitermacht.
Die Öffnung geschieht durch den Schlächter. Das Messer öffnet den Kreislauf des Blutes, und das Blut geht aus dem Lebensgarten hinaus, ins Außen. Die Seele ist genauso, sie überschreitet plötzlich die Grenzen der Dualität. Es ist etwas, das niemand, der innerhalb der Dualität steht, begreifen kann.
Das ist das Muster. Innerhalb der Geschichte vom Verzeihen ist es so, daß das wahre Verzeihen auf dieser Stufe das Wiedererlangen der Unschuld ist. Es ist ohne Wissen, offen, verletzlich, ganz neu. Als Ochse weiß ich ja, daß es alle diese Dinge gibt, mit Schuld und Opfer und Täter, und andererseits gibt es sie auch wieder nicht, es sind alles Selbstinszenierungen. Doch als Schlächter ist es etwas, wovon ich gar nichts weiß. Die Wunde ist weg, keine Narbe da, selbst das Denken daran, daß da doch mal eine Narbe war und eine Wunde, ist nicht mehr da. Man kann sich zwar daran erinnern, aber wird es nur dann tun, wenn eine neue Verletzung - bei sich oder bei anderen - das Thema Verletzungen wieder aktiviert.
Dann ist ein tiefes Mitgefühl da, weil man ja alles das kennt einerseits (das beginnt bereits bei der Stufe des Wassers), zweitens weil man weiß daß es zum Wachstum nötig ist und nicht schlimm ist und man sich selbstverständlich als Teil dessen begreift (Ochse) und drittens, weil es wieder die ganz große Gelegenheit schenkt, Gnade zu erfahren. Der erste Ausfluß von Gnade ist Barmherzigkeit. Barmherzigkeit nimmt teil an dem Leiden, nicht als außenstehender Beobachter, der gute Tipps geben kann, oder von seinem Reichtum in ferne Länder spendet, sondern begibt sich mitten ins Geschehen, wird äußerlich genauso dreckig wie alle Beteiligten, aber wirkt innerlich mit der Kraft der Stille, der Heiligkeit.
Dann ist nur Dankbarkeit da, daß ich dies alles erleben durfte und heil werden konnte dabei. Die Dankbarkeit, daß ganz neue Dimensionen von Leben möglich sind und sie durch einen hindurch kommen können.
Damit ist die Betrachtung der sieben sichtbaren Stufen der Geschichte des Lämmchens abgeschlossen. Ich danke Euch allen, es war wundervoll dies schreiben zu dürfen und nur möglich, weil wir ein gemeinsames Feld bilden, innerhalb dessen sich dies so entfalten kann.