In rund einem Dutzend Staaten der USA - die an Washington D. C. angrenzenden Staaten Maryland und Virginia sind darunter - stehen vorehelicher Sex und eheliche Untreue immer noch unter Strafe und werden von der Staatsanwaltschaft auch verfolgt, wenn eine Anzeige vorliegt.
Das Gesetz wurde in den Clinton-Jahren kaum noch angewendet, allerdings verhinderten selbst ernannte Moralapostel immer wieder seine Abschaffung. Durch die Bush-Administration, die jungen Amerikanern Enthaltsamkeit als das beste Mittel gegen Aids anrät und die Förderung von Aids-Hilfsprogrammen in Afrika an die Bedingung knüpft, dass Verhütungsmittel nicht empfohlen oder verteilt werden, hat die staatliche Schnüffelei in den Ehebetten neuen Schwung bekommen. Erst kürzlich wurde ein Jurist in der Kleinstadt Luray, Virginia, wegen erwiesener Untreue zu 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.
Eine entscheidende Rolle bei diesem kulturellen Rückwärtsgang spielt der Vormarsch der so genannten Evangelicals - es handelt sich um religiöse Gruppen, die die absolute Autorität der Bibel für Glauben und Leben betonen. Nach der jüngsten Gallup-Umfrage bekennen sich 42 Prozent der Amerikaner als Evangelicals oder als "wiedergeborene Christen". Im amerikanischen Kongress soll sich der Anteil der Evangelicals von etwa 10 Prozent in den siebziger Jahren auf heute 25 Prozent erhöht haben. Es habe ihn erstaunt, vermerkte William D'Antonio, Verfasser einer Studie über das Verhältnis von Politik und Religion, in wie hohem Maße das religiöse Bekenntnis die ideologische Kluft zwischen Demokraten und Republikanern präge. Die große Mitte der Wählerschaft sei in wichtigen Fragen im Kongress gar nicht mehr repräsentiert. So würden die meisten Amerikaner quer durch die Parteien eine Abtreibung unter bestimmten Bedingungen - Lebensgefahr für die Mutter, Vergewaltigung, Deformierung des Fötus - befürworten. Im Kongress dagegen seien nur noch das - demokratischen Wählern oft zu liberale - Pro der Demokraten und das strikte, von den Evangelicals getragene Contra der Republikaner vertreten.
Kein Kandidat kann heute Präsident der Vereinigten Staaten werden, wenn er nicht im Wahlkampf über sein Verhältnis zu Gott Auskunft gegeben hat. Beide, der Katholik Kerry wie auch der "wiedergeborene Christ" Bush haben dies, wenn auch nicht mit derselben Inbrunst, getan. Nach eigenem Eingeständnis hat Bush in der schweren Stunde der Entscheidung vor dem Angriff gegen den Irak das Zwiegespräch mit Gott gesucht - und offensichtlich Rat erhalten. Gefragt, ob er hin und wieder seinen Vater um Rat ersuche, sagte Bush, er rede viel mit dem "höheren Vater".
Bei dem ehrgeizigen Versuch der Bush-Leute, 40 Jahre liberale Geschichte der USA ungeschehen zu machen, konnte es nicht ausbleiben, dass auch der Vietnam-Krieg - als Vorläufer des Irak-Kriegs - rehabilitiert wurde. Die zwei Seelen in der breiten Brust der Vereinigten Staaten hatten sich nie auf die Erkenntnis einigen können, dass der Vietnam-Krieg ein Irrtum - wenn nicht gar ein Verbrechen - war. 1971 hatte der damals blutjunge Vietnam-Veteran John Kerry den Kongress mit einem Satz herausgefordert, der klassisch geworden ist: "Wer kann den letzten Soldaten dazu auffordern, sein Leben für einen Irrtum zu opfern?"
George W. Bush, der den Vietnam-Krieg befürwortet hatte, aber dann nicht hingegangen war, suchte (im Gespräch mit einem seiner Biografen) auf Kerrys Frage mit 30-jähriger Verspätung eine Antwort. Dabei folgte er auch hier seinem Vorbild Ronald Reagan, der den Krieg als eine "noble Sache" bezeichnet hat und den "mangelnden Siegeswillen" der Demokraten und die "von Hippies und verwöhnten College-Studenten" angeführte Protestbewegung für die Niederlage verantwortlich machte.
"Hat Bush jemals begriffen, dass Vietnam ein Wahnsinn war?", fragte kürzlich Jeffrey H. Smith besorgt in der "Washington Post". Die Frage erscheint deswegen dringlich, weil Bush im Irak-Krieg offenbar derselben Logik folgte, der seine Vorgänger während des Vietnam-Kriegs anhingen: Sie hatten einen längst als falsch erkannten Krieg viele Jahre lang weitergeführt, um ihren Irrtum nicht eingestehen zu müssen - denn: 58 000 amerikanische Soldaten können ihr Leben nicht für einen Irrtum verloren haben! Das gilt auch jetzt wieder: Die einzige Supermacht auf der Welt kann nicht eingestehen, dass sie einen falschen Krieg aus den falschen Gründen begonnen und ihn mit katastrophaler Inkompetenz geführt hat. Das vom "anderen Amerika" nie verarbeitete Desaster des Vietnam-Kriegs geht bruchlos in die Rechtfertigung des absehbaren Irak-Desasters über - am Ende ging und geht es nur noch darum, das amerikanische Selbstbild aufrechtzuerhalten, das Bush und seine Leute beschwören: "American Exceptionalism" - amerikanische Auserwähltheit. Die von Gott auserwählte Nation kann sich nicht wirklich irren.
Bei dem Parteitag in New York ist es den Strategen der Bush-Kampagne gelungen, die Invasion in den Irak als "die zentrale Front" im "Krieg gegen den Terror" zu verkaufen. Dies, obwohl alle bisher eingesetzten Untersuchungskommissionen zu dem Schluss gelangt sind, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen mehr besaß und dass es keine relevanten Beziehungen zwischen der Baath-Partei und al-Qaida gegeben hat.
Was ich hier beschreibe, ist auf den ersten Blick ein Rätsel: Eine Mehrheit der Amerikaner äußert in Umfragen die Meinung, dass der bisherige Irak-Krieg die Kosten an Menschenleben und an Geld nicht wert war. Wenn dieselbe Mehrheit trotzdem einem Mann folgt, der sie mit erwiesenermaßen falschen Behauptungen in diesen Krieg geführt hat, muss man sich Sorgen machen.
Vielleicht die beste Antwort auf dieses Rätsel gab mir Jay Tolson, ein Journalist vom "US News & World Report": "Nach dem 11. September war ein Präsident gefragt, der bewies, dass er handeln konnte. Auch wenn er, wie jetzt im Irak-Krieg, offensichtlich falsch gehandelt hat - wenigstens hat er gehandelt. Bei Kerry weiß man nicht, ob er handeln würde."
Keine beruhigende Aussicht, wenn man sich vorstellt, wie ein trotz des Irak-Desasters wiedergewählter Präsident, der aus seinem Wahlerfolg schließen würde, dass der Akt der Handlung wichtiger ist als ihr Sinn, in einem neuen Ernstfall (eine schmutzige Bombe im Hafen von Los Angeles, ein iranischer Nukleartest?) handeln würde.
Einstweilen spielen die Strategen von Bushs Wahlkampagne ein gewagtes Spiel. Da sie in Sachen öffentlicher Armut, Gesundheitsversorgung, Bildungspolitik, Wohlstandswachstum, Haushaltsdefizit, Staatsverschuldung nur negative Bilanzen vorweisen können, setzen sie auf eine einzige Karte: Krieg gegen den Terrorismus. "Noch nie ist ein regierender amerikanischer Präsident während eines Kriegs abgelöst worden" - so der heimliche Gospel der Bush-Kampagne. Folglich muss der Kampf gegen den Terrorismus "Krieg" genannt werden, und dieser "Krieg" muss täglich beschworen werden. "Wir sind im Krieg", dröhnt es von den republikanischen Podien, "Wir sind im Krieg", bekommt man aber auch in moderaten Gesprächskreisen in Washington zu hören, wenn jemand die fortschreitende Aufhebung von Bürgerrechten in den USA beklagt. Wer den Begriff "Krieg" unangemessen findet, wer ein anderes Wort benutzt, steht im Verdacht, kein Patriot zu sein. Also muss der Krieg verkündet, am Leben erhalten und durch ständige Appelle zu erhöhter Wachsamkeit beschworen werden.
Da jedoch auch die Kriegsbilanz im Irak katastrophal ist, hat die Bush-Kampagne einen radikalen Weg gewählt: Nieder mit der Wirklichkeit, hoch die Illusion. Die Realität hat in dem von Karl Rove geführten Wahlkampf nichts mehr zu suchen. "Wir sind jetzt ein Imperium", sagte ein Bush-Berater zu dem Journalisten Ron Suskind von der "New York Times", "und wir schaffen uns unsere eigene Realität. Während Sie diese von uns geschaffene Realität studieren, schaffen wir bereits neue Realitäten, die Sie wiederum studieren können. Wir sind die Akteure der Geschichte, und Ihnen, Ihnen allen bleibt nichts, als die Realität zu studieren, die wir geschaffen haben!"
Inzwischen gilt es als illoyal, ja als unpatriotisch, Tatsachen, Zahlen, Analysen gegen die Gospels der Kriegsbegründer anzuführen. An die Stelle einer rationalen Analyse, die sich auf Tatsachen stützt und Zweifeln zugänglich bleibt, ist eine Sicherheit höherer Art getreten: Glaubensstärke, Gottvertrauen. Und weil der fromme Bush zweifellos gehört hat, dass der Teufel im Detail steckt, macht er um jedes Detail einen weiten Bogen. "I don't do nuance" ("Ich gebe mich nicht mit Nuancen ab"), soll Bush gesagt haben. Vieles, was er in diesen Tagen von sich gibt, erinnert eher an Bekreuzigung, Selbsthypnose oder schiere Halluzination, denn an eine Wahlaussage.
Je katastrophaler die Tatsachen im Irak-Krieg, desto positiver fallen Bushs Lagebeurteilungen aus. "Die Demokratie ist im Irak auf dem Vormarsch", dekretiert er in jeder Wahlveranstaltung, obwohl ihm sein Geheimdienst CIA gerade eine düstere Studie vorgelegt hat, die im besten Fall eine Fortdauer der unstabilen Lage, im schlimmsten Fall einen Bürgerkrieg voraussagt. Auf den Widerspruch mit der CIA-Studie angesprochen, fertigte Bush den Frager - und seinen Geheimdienst - mit der Bemerkung ab: "They were just guessing" ("Sie haben einfach so herumgeraten").
Die unerschütterliche Entschlossenheit, die Bush und seine Wahlkämpfer als Markenzeichen des Präsidenten verkaufen, gründet sich auf eine entschlossene Verleugnung der Wirklichkeit. Der Präsident glaubt offenbar, höherer Gewissheiten teilhaftig zu sein, er selbst ist der Glaube, der Berge versetzt. Einem - vom Weißen Haus prompt dementierten - Gerücht nach, das Ron Suskind im "New York Times Magazine" kolportiert, soll Bush in einer intimen Wahlveranstaltung mit Mitgliedern einer Amish-Gemeinde geäußert haben: "Ich vertraue darauf, dass Gottes Stimme durch mich spricht."
Wenn aber spirituell grundierte Charakterstärke zum wichtigsten Kriterium wird, sind alle Fragen nach dem Sinn eines Krieges überflüssig - Hauptsache, man führt ihn mit Entschlossenheit. John Kerry, von Arnold Schwarzenegger in New York als "girlie man" geschmäht, hat in der TV-Debatte mit dem Präsidenten endlich einen erlösenden Satz gegen den Macho-Kult der Entschlossenheit gefunden: Gewissheit, sagte er, sei kein Wert an sich. Man könne einer Sache völlig sicher sein und dennoch völlig falsch liegen.
Das Unheimliche ist, dass die einfache Formel der Republikaner - Realität zählt nichts, Entschlossenheit und "Charakter" alles - von einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit beklatscht wird. Die Bush-Leute beschwören einen nostalgischen Traum von Amerika - einem Amerika, das selbst von den Völkern, über die es herfällt, geliebt wird, einem Amerika, das nie einen falschen Krieg geführt und niemals, weder in Vietnam noch im Irak, seinen "moralischen Kompass" verloren hat und folglich das Recht hat, jeden, der Amerika wegen seiner Irrtümer oder gar wegen Kriegsverbrechen kritisiert, als einen Terroristenhelfer zu denunzieren.
Hinter "unserem verharmlosenden Gerede über die Wirklichkeit des Irak-Kriegs", glaubt der Journalist Peter Beinhart in der "New Republic", "steht eine frappierende Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, die wir angeblich retten wollen. Es spielt keine Rolle, dass die Iraker uns nicht als Befreier sehen, solange wir uns als Befreier sehen. Es ist völlig gleichgültig, ob die Welt ihr Vertrauen in uns verliert, solange wir Vertrauen in uns selbst haben".
Es passt zu Bushs bunkerhaftem, verschlossenem Regierungsstil, dass er bisher niemanden aus der verschworenen Gemeinschaft der Realitätserschaffer im Weißen Haus fallen gelassen hat. Nach dem Skandal von Abu Ghureib, der das Bild Amerikas - vor allem in der arabischen Welt - wahrscheinlich auf Jahrzehnte beschädigt hat, wäre der Rücktritt des verantwortlichen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld zwingend gewesen. Aber die Inhaber von Wahrheit und Gewissheit, die derzeit das Weiße Haus besetzt halten, können sich eine derartige Geste der Selbstkritik offenbar nicht leisten - dass Rumsfeld, wie es kürzlich hieß, kein zweites Mal mitregiere, ist bisher nichts als ein Gerücht. In einem Pantheon, das von höheren Gewissheiten zusammengehalten wird, führt das Herausziehen eines einzigen Steins zum Einsturz des ganzen Gebäudes. Wer einen einzigen Zweifel zulässt, gibt bereits das Ganze preis.
Der 2. November bezeichnet tatsächlich das Datum einer Entscheidungswahl. Der megalomane Ralph Nader und seine Grünen haben Unrecht: Es ist nicht egal, ob John Kerry oder George W. Bush gewinnt. Trägt Bush noch einmal den Sieg davon, wird sich ein tief gespaltenes Amerika von seinen Wurzeln in der Aufklärung und vom Hauptweg der westlichen Demokratien ein weiteres Stück entfernen.