Liebe Viva,
das gefällt mir am besten.
wir mussten mal in einem Kurs alles aufschreiben was wir an anderen Menschen nicht ausstehen konnten und am meisten ablehnten.
Danach durften wir es freudig vortragen und bekamen danach gesagt, dass genau das unser eigener Schatten sei. Es wurde ruhig und jeder dachte über das aufgeschriebene nach.
daran ist wohl etwas wahres, aber ich finde, dass du dies einseitig - also nur von einer Seite - darstellst. Du beschreibst Kritik so, dass dies immer als ein Problem des Kritikers erscheinen lässt. Das trifft auf den Kritiker nur dann zu, wenn auch wirklich ein Problem, eine starke Identifikation, ein Konflikt im Kritiker vorliegt, der dann, anstatt sich seinem inneren Problem zuwenden möchte, die Außenwelt so verändern möchte, damit sein inneres Problem vergeht.
Ein Beispiel: ein Mann findet plötzlich seine Freundin nicht mehr attraktiv und übt dann sehr viel Druck auf seine Freundin aus, dass sie sich einer Schönheitsoperation unterzieht. In diesem fall soll sie sich verändern, die Kritik, den Druck etc. ertragen, damit er (voraussichtlich) das alte Wohlgefühl wieder spürt.
Nun kann man anhand dieses Beispiels aber auch schön zeigen, inwiefern deine Position nicht zutrifft. Deiner Bestimmung von Kritik zufolge hätte diese Frau, die von ihrem Partner derart behandelt wird, lediglich ein eigenes Problem, wenn sie ihn dafür kritisiert, dass er dies von ihr verlangt.
Und noch extremer ausgedrückt: wenn ein Mensch von einem anderen vergewaltigt wird oder wenn ein Mensch zusehen muss, wie ein anderer Mensch Schaden nimmt und er daraufhin dien Täter kritisiert, dann hätte aufgrund deiner Bestimmung lediglich der Kritiker ein Problem, weil er irgendetwas in seiner Umwelt ablehnt.
Auf diese Weise schafft man ein Ideal eines Menschen, der nie Grenzen zieht, der nie Nein sagt, der nie seine Bedürfnisse entgegen den Bedürfnissen eines anderen ausspricht, der sich alles gefallen lässt und sich mit eben diesem Ideal identifiziert, das keinerlei Liebe zu sich selbst zum Ausdruck bringt eventuell gerade aus einer Harmoniesucht mit der Außenwelt oder einer Rolle des braven Kind heraus.
Das zeigt doch meines Erachtens, dass es durchaus Fälle geben kann, in welchen Kritik vorgenommen wird, die nicht einfach auf einer Projektion beruhen, sondern wo eine tatsächliche Tätigkeit vorliegt und meine eigene Selbstliebe und meine Liebe zu anderen Menschen mir deutlich sagen, dass hier eine Grenze gezogen werden muss, die derjenige, dem ich diese Grenze mitteile, als Kritik erscheinen wird, da ihm gerade sehr viel daran liegt, diese Grenze zu missachten.
Und nimmt man nun beide Fälle zusammen, dann ergibt sich ein komplexeres Bild als jedes der Bilder es nahe legt, dann zeigen sich 3 Fälle.
1. Zwei Menschen können sich gegenseitig kritisieren und es kann sein, dass sie sich lediglich mitteilen, dass der jeweils andere unwissend eine Grenze übertreten hat. Sie können das tun, ohne hierbei Aggression ausüben zu wollen, sondern lediglich aus Liebe.
2. Zwei Menschen können sich aber auch gegenseitig kritisieren und in die eigene Kritik so sehr hineinsteigern, dass die Kritik einerseits ein inneres Problem, eine starke Identifikation widerspiegelt und zugleich kann diese Kritik dennoch etwas Notwendiges aussagen, da sie auf existentiell wichtige Grenzen verweist. Den Partnern gelingt es hier einerseits, wichtige Grenzübertretungen anzusprechen, aber andererseits nicht in einer liebevollen, sondern in einer aggressiven oder manipulierenden Weise.
(Für diesen zweiten Fall kann man noch einmal unterscheiden, wie sehr den beiden Partnern bewusst ist, dass sie hier auch projizieren und ob sie fähig sind, miteinander diese aggressiven oder manipulierenden Verhaltensweisen aufzulösen und sich gegenseitig liebevoll zu begegnen, auch dann, wenn sie dem anderen Nein sagen und Grenzen aufzeigen..)
3. Zwei Menschen können sich schließlich auch gegenseitig kritisieren und in dieser Kritik lediglich alte jeweilige Verletzungen ausagieren, dass die Kritik nicht nur eine starke Identifikation, sondern auch eine Verschlossenheit, eine Eingeschlossenheit in die eigenen Verletzungen und Bedürfnisse widerspiegelt. Den Partnern geht es in diesem Falle nicht um die offene, liebevolle Klärung des gegenwärtigen Seins, sondern sie agieren beide blind aneinander alte Muster und kompensierende Bedürfnisse aus.
Liebe Grüße,
Energeia