Die Bank am See
Sie erinnerte sich an ihren Traum und an das, was er erzählt hatte. Damals in seinem Vorgarten. Eine Wegbeschreibung, zu einem ganz besonderen Ort. Ein Ort, den sie schon hundert Male zuvor in ihren Träumen sah. Träume in denen ein riesiger Turm aus dem Gewässer donnerte. Der Turm in dem er symbolisch und fühlbar bis heute gefangen war und sie selbst im Traum nur davor stehen und zusehen konnte.
Als sie diesen wunderschönen, romantischen Ort das erste mal wirklich erreichte, war sie sehr überrascht. Jedes Detail stimmte. Der sandumwobene, gelbe Berg, mit den alten Bäumen. Der See mit den Wildgänsen und Bibern. Ein Strand-Berg mitten im Wald, zu dem ein wildromantischer, baumumringter Bach führte. Zu den passenden Jahreszeiten wunderschön. Atemberaubend schön.
Er hatte so recht… Denn das war ein wahrhaft magischer Ort.
Von da an, kam sie in gesunden und fitten Zeiten, fast jeden Tag dort hin. Zu verschiedenen Tageszeiten. Doch ihn sah sie nie dort, am Fuße des gelben Berges. So blieb die Energie des Traumes, seine Erzählungen und die kleinen Momente, in denen er ihren Weg kreuzte.
Doch heute, heute war alles anders. Es kräuselte sich ein gewisses Vorgefühl in der Nase. Herzklopfen, Herzschmerz. So heftig, dass sie sich ein paar mal umschaute. Sie musste sich beherrschen, nicht laut zu fragen: Bist du hier? Ich nehme dich wahr!“
Doch alles was sie wirklich greifbar wahrnehmen konnte, war das sanfte Rauschen der Bäume und der angenehme Geruch von Erde und Laub.
Der Weg führte über viele Brücken und Felder. Unter anderem an einer ehemaligen Bahnstrecke vorbei, die jetzt von Joggern, Fahrradfahrern und Hundebesitzern genutzt wurde. Ihr tagtäglicher Weg beim Laufen, mit freiem Blick auf den weiten, blauen Himmel und Feld. Ein Stück von beschwingender Freiheit!
Hier ist sie ihm schon oft begegnet. Nie geplant. Immer überraschend.
Und da war sie, die Brücke. Die Brücke zwischen ihrem Heimatort und dem verwunschenen Wald. Der Wald mit den vielen Tümpeln und Bächen. Die Brücke die über allem stand. Vor allem über der kaltherzigen, rationellen Geschäftigkeit jener laufenden Menschen.
Direkt unter ihr die Hauptstraße und Autos, die ein schnelles Ziel verfolgten. Es fröstelte sie bei diesem Gedanken.
Irgendwie kribbelig, stellte sie die Kopfhörer lauter, während sich unter ihr und der Brücke Spaziergänger aufeinander zu- und wieder voneinander weg bewegten. Doch auch die rhythmisch vibrierende Musik mit dem metallisch schlagenden Takt, vermochte es nicht, ihren ebenfalls rhythmischen Herzschlag zu verringern. Ganz im Gegenteil. Mit jedem Schritt in den Wald, wurde er lauter. Bumbumbumbumbum… Wie ein gewaltiger Vorschlaghammer.
Das hier in diesem Teil ihres Heimatortes, andere Gesetze herrschten, merkte sie schnell… Schmetterlinge, Frösche und Raben umkreisten sie scheinbar. Und hier wurde ihr wieder mal bewusst, an was für einem zauberhaften, spirituellen Ort sie Beide wohnten. Sie und er. Jeder für sich und seinem Leben, aber trotzdem nie getrennt. Nicht eine stille Sekunde lang. Wie konnte es sein, dass sie sich selten fern von ihm fühlte?
Nun legte sie noch einen Gang schneller zu… Bumbumbumbum machte die Musik und Silbermond schrie ihr jedes nur erdenkliche Leid dieser Welt direkt ins Ohr. Durch die Nacht… Jaja… Gib mir irgendwas das bleibt… Hmhm… Und den Kriegern, die darauf hoffen, dass sich für sie endlich mal der Himmel öffnen würde… Die ganze Zeit. An grünen, paradiesischen Stellen vorbei. Die ganze Zeit, dieser unerdenkliche Schmerz im Herz.
Und da war sie nun. An diesem besonderen Ort. Ihr erster Blick, traf die Stelle, an der jener Traumturm, mit Getöse aus dem Wasser wuchs. Doch das Wasser, es blieb in Wirklichkeit still und tobte nicht. Als würde es schweigen. Erzählend schweigen. Denn es verriet ihr zusammen mit dem Krach in ihrem Herzen so einiges.
Ganz in Gedanken, blickte sie auf die spiegelnde Wasseroberfläche, während Silbermond über Regen und Meer vor sich hin jammerte. Regen und Meer. Ja so ist das wohl auch bei uns, dachte sie sich traurig. Irgendwie zusammen und doch nicht zusammen.
Doch was war das? Aus ihrem Spiegelbild, trennte sich eine weitere Gestalt. Schemenhaft.
„Ich bin hier“ hörte sie die Gestalt leise flüstern. Eine Hand auf ihrer Schulter. „Ich bin hier…“ flüsterte die Stimme erneut. „Und ich hab auf dich gewartet.“
Und da war er. Die ständig traurige Sonne mit den blauen Augen… Ihre Sonne. Er.
Sie sprachen kein Wort. Denn jedes weitere Wort, hätte den Moment zerstört. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die außer ihnen niemand verstand. Eine Sprache, die so oft der Kopf übertönte und für viele Missverständnisse sorgte, für soviel Unruhe und Schmerz gesorgt hatte.
Doch diesmal nahm er einfach nur ihre Hand und zog sie zum Berg hinauf. Mühelos. Zu einem Punkt, an dem tatsächlich eine Bank stand. Dort oben standen sie am höchsten Punkt ihrer weltlichen Ebene und alles ging mit ihm so leicht… So leicht. Als könnten sie fliegen. Es gab nur Romeo und Julia, die nichts weiter taten, als sich tief und ungehindert in die Augen zu schauen.
Für einen Augenblick ganz fern von Zwängen und Türmen.
Fallen lassend. Nur bei ihm. Mit ihm.
Sie schloss die Augen, um den Moment zu verinnerlichen. Nur jetzt. Nur hier.
Es waren nur 2 Sekunden. Zwei verdammte, kleine Sekunden. Und sie fand sich allein wieder. Erwacht aus einer Vision, einem Traum.
Da saß sie nun im Schneidersitz. Allein. Mitten im grünen Gras.
Während Rio Reiser sich überschlagend in einem „Für immer und dich“ verlor…