Du meinst "wenn sie wahr sein könnte" ohne Beweise. Denn wenn es Beweise gäbe, ist das Thema ja sowieso geklärt. Warum reicht es Dir privat nicht, einfach die wissenschaftlich neutrale agnostische Haltung zu übernehmen? Warum muss es da zwingend ein Ja oder Nein geben, wenn es dazu keine ausreichende Beweisevidenz in Deinem Zugriffsbereich gibt? Ich persönlich behalte zu vielen (spirituellen) Themen eine agnostische Haltung, wenn ich keine eigenen Erfahrungen dazu gemacht habe. Ich finde diese agnostische Haltung sehr angenehm und ent-lastend, denn ich versperre mir nichts, lege mich aber auch nicht fest. Warum sollte ich das denn? Ich will meine Welt nicht unnötig verkleinern, aber auch nicht unnötig überladen.
Was also gibt Dir der Atheismus als Glaube der Nichtexistenz Gottes, was nicht auch der agnostisch neutrale wissenschaftliche Standpunkt leisten kann? Warum braucht es da eine Entscheidung dafür oder dagegen?
Ich finde es interessanter (nicht zu verwechseln mit schöner bzw. meinen Wünschen entsprechend, wie ich auch schon beschrieb), für offene Fragen eine nicht-göttliche Erklärung zu suchen und auch ggf. zu finden.
@Neutrino hat ja schon die Stichworte Emergenz und Übersummativität genannt. Alleine damit lassen sich schon grandiose Erkenntnisse erzielen, die ohne Gott o.ä. auskommen.
Kennst Du das japanische Brettspiel Go. Eins meiner Hobbies (sofern ich Zeit dazu finde... leider zu wenig). Die Regeln sind relativ schnell erklärt. Aus den Regeln emergieren aber mitunter komplexe Gesetzmäßigkeiten. Man muss mehrere Züge im Vorraus denken können, Zugfolge-Variationen durchdenken können und die Situation auf dem Brett einschätzen können, um es gut spielen zu können. Die Meister haben Jahre ihres Lebens trainiert und studiert. Es gibt - wie beim Schach auch - ganze Bücher über gute und schlechte Strategie - Joseki, Fuseki, Tesuji ... In Japan gibt es Go-Schulen, wie es in Europa Sport-Internate gibt. Diese Komplexität braucht keinen Gott sondern kommt als Prämissen mit einer halben Seite Spielregeln und vielleicht zwei oder drei Seiten näherer Erläuerung aus.
In der Informatik ist eine aktuelle Mode, Algorithmen zur "künstlichen Intelligenz" zu entwickeln. Die Grundlagen dieser Algorithmen sind dabei auch ziemlich einfach erkläert: Im Computer werden da tatsächlich sowas wie neuronale Netze programmiert - Datenstrukturen, die sich grob wie die Neuronen in Nervennetzwerken, verändern und arbeiten. Natrülci hkann man noch keine ganzen Gehirne simulieren, und die KI-Algorithmen, die es aktuell gibt, kommen an menschliche Intelligenz noch lange noicht ran. Das wird auch eine ganze Weile noch so bleiben. ABER es gibt tatsächlich Aufgebenbereiche, in denen diese KI-Algorithmen der menschlichen Intelligenz überlegen sind. So ist es vor ein paar Jahren gelungen, ein KI-Proghramm zu schreiben, was oben genanntes Brettspiel Go so meisterhaft spielt, dass der als der beste Go-Spieler weltweit geltende Mensch vom Computer besiegt wurde. Anfänglich geschah das noch unter Aufwendung großer Rechen-Power. Aber die Entwickler gingen noch einen Schritt weiter und "entschlackten" das Programm. Es wurde wirklich einfacher programmiert... und interessanterweise in der Folge noch besser.
Ob der Mensch nun von dem Computer lernen kann und im Go-Spiel wieder aufholen kann... ich weiß es nicht... ich halte es für zumindest nöglich. Die Profis, die die Go-Spiele zwischen Computer und Go-Meister analysieren, tippen sich da jedenfalls die Finger wund, Schlussfolgerungen über gute Strategie o.ä. zu ermitteln. Es ist aber schon äußerst interessant, dass und wie sich hoch-komplexe an Intelligenz angenäherte Fähigkeiten alleinigt aus vergleichsweise wenigen - vor allem nicht-göttlichen - Prämissen entspringen.
Da wir hier auch schon über die Evolutionstheorie gesprochen haben: In der Informatik gibt es für Optimierungsaufgaben auch die sog. "genetischen Algorithmen", die die Evolution aus zufälliger Mutation und Selektion (mit gegebenem Selektionsdruck) für die gegebenen Probleme nachstellt. Die Mutation geschieh da zufällig - sei es durch berechnete Pseudo-Zufallszahlen, aber auch mit elektronischen echten Zufallszahlen-generatoren, die z.B. das elektronische Zufallsrauschen einer Zenerdiode auslesen, um so echt zufällige Zahlen zu generieren. Die optimierung geschieht alleinig durch den Selektionsdruck. Es funktioniert wunderbar ohne, dass bei den Mutationen eine Zielrichtung vorgegeben ist. Und in der Biologie deutet NICHTS drauf hin, dass die Mutation in der Natur nicht-zufällig stattfindet. Die Evolution funktioniert auch hier ohne eine Intention annehmen zu müssen (siehe u.a. "Der Blinde Uhrmacher" von Richard Dawkins).
Dieses Bild eines Fraktals hier:
hat mein Computer anhand eines Programms erstellt, was ich geschrieben habe (bzw. die Graustufen des Bildes. Die Färbung habe ich später per Hand mit GIMP erstellt). Das Programm zu schreiben war einfach; die Mathematik dahinter ist ungefähr Oberstufen-Niveau... also mit ein wenig Vorbildung darin leicht zu kapieren. Die Komplexität des Ergebnis - bzw. von Fraktalen allgemein - emergiert aus simplen Grundprämissen und kommt ohne Gott aus. DAS finde ich spannend.
Gleichzeitig erkenne ich bei vielen (nicht allen!) spirituell veranlagten Menschen den großen Drang, offene Fragen mit einem Lückenbüßer-Gott aufzufüllen. Und nicht einmal nur offene Fragen, sondern auch durchaus "materialistisch" beantwortbare Fragen.
Schlimmer noch gibt es unter Gläubigen Menschen den Fehlschluss, Atheisten und Agnostiker würden keine Ethik/Moral kennen - sie würden ja keine Strafe Gottes o.ä. fürchten und könnten deswegen ungestraft und ohne Reue Massenmorde begehen. DAS ist kompletter Humbug, und eine gut brauchbare Ethik bzw. Moralvorstellung OHNE Gott ist sehr gut möglich. Als Atheist oder Agnostiker wird man nicht automatisch zum emphatielosen egomanischen potentiellen Schwerverbrecher, nur, weil man nicht die Strafe Gottes oder Karma oder was weiß ich, was für spirituelle Modelle es für Ethik gibt, fürchtet.
Kurz gesagt: Der Atheismus bringt mir unter anderem, dass ich nicht Gefahr laufe, Gott vorschnell in eine Wissenslücke (tatsächliche oder auch nur angebliche) zu setzen. Vor allem, da "gottlose" Erklärungen und Beschreibungen in vielen Fällen einfach für sich alleine schon irrsinnig spannend, interessant und schlüssig sind (wie gesagt: nicht zu verwechseln mit "schöner" oder meinen Wünschen entsprechend o.ä.) Darüber hinaus bin ich großanteilig stark enttäuscht von den Menschen, die behaupten Gottesbeweise o.ä. zu haben.