2.2.2. Mystik
Der Begriff Mystik leitet sich vom griechischen Adjektiv "mystikós" (dt. mit den Geheimnissen (Mysterien) verbunden; geheimnisvoll) ab und beschreibt die unmittelbare, das Rationale übersteigende Erfahrung göttlicher oder transzendenter Realität.27
Mystik ist mehr als eine spezielle Frömmigkeitsform. Mit ihr hat es etwas Wundersames auf sich, das sich in allen Religionen verbreitet hat. Erst durch Mystik wird Spiritualität erfahrbar, alles andere bleibt Gedanke oder oberflächliches Gefühl und kann den Menschen nicht wahrhaft wandeln. Besonders eine Grundfunktion des Menschen ist hier eher hinderlich. "Was nach der Vernunft lebt, lebt gegen den Geist", schreibt schon Paracelsus. Mystik bedarf nicht der Vernunft, Mystik bedarf des ungefilterten, unreflektierten Erlebens der Wirklichkeit. Oder anders gewendet: "Wirklichkeit ist ein Erlebnis, eine Erfahrung in der der Erlebende eins wird mit dem Inhalt seiner Erfahrung". Dem entgegen steht verstandesmäßige Wahrheit, die eine Aussage ist, d.h. die "Feststellung eines Tatbestandes". Etwas feststellen zu wollen aber bedeutet die Wirklichkeit und das ihr innewohnende fließende Leben zu verraten (zu morden).30 "Der Wille zur verstandesmäßigen Wahrheit ist der Wille zur Entwirklichung der Welt."31
Eng mit Mystik verknüpft ist der Begriff der Esoterik (von griech. "eso", innen; im Gegensatz zu "exo" außen), wie er in spiritueller Hinsicht verstanden werden sollte. "Esoterik" als Geheimwissen richtet sich an einen Kreis von Eingeweihten, die innere Erfahrungen gemacht haben. Um eine deutliche Abgrenzung zur heutigen Benutzung des Wortes zu schaffen, ist festzuhalten, daß sich der Inhalt dieser Erfahrungen dadurch, daß er nicht mitteilbar ist, gleichsam selbst schützt. Schon Paulus spricht als Betroffener einer inneren Erfahrung vom "inneren Menschen". Seine Briefe, sowie das Johannesevangelium sind äußerst mystisch geprägt. So verwundert es nicht, daß das Christentum, abseits der Institutionen schon immer esoterische Blüten trieb.33 Vor allem im zweiten und dritten Jahrhundert gewannen einerseits Neuplatoniker und andererseits Gnostiker34 (von Gnosis, dt. Erkenntnis) mit ihren animistischen Geheimlehren an Einfluß.35 Plotin, der prominenteste Vertreter des Neuplatonismus, erkannte den Weg des Menschen in der Rückbindung an den Ursprung des eigenen Seins und somit an das Ur-Eine, das in seiner Überfülle stufenweise alles Bestehende ergossen hat.36 Obwohl sich die meisten gnostischen Richtungen zum Christentum bekannten, unterschieden sie sich maßgeblich vom Glauben der Frühkirche37 und stellten für diese, genau wie der Neuplatonismus, eine ernst zu nehmende Gefahr dar. Der Gnostizismus verstand sich als Geheimwissen über das Göttliche. Nach gnostischer Lehre fielen Funken oder Samen des Göttlichen Wesens aus der transzendenten geistigen Sphäre in die materielle Welt. Als Quelle des Leids wurde nicht Sünde, sondern Ignoranz und Mangel an Selbsterkenntnis identifiziert. Durch Wiedererweckung des göttlichen Elements mittels der Erkenntnis kann der Mensch in seine göttliche Heimat zurückkehren. Stellen im gnostischen Gesang des Philippus weisen darauf hin, daß das Himmelreich "nur das Symbol für einen transformierten Bewußtseinszustand ist."38 "Wer die Gnosis erlangt hat, ist kein Christ mehr, sondern er ist Christus geworden."39 Die Christusnatur ist dem Menschen von Beginn an mitgegeben. Auch hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zu Buddhismus und Hinduismus, von denen man die Gnostiker beeinflußt wähnt.