Nachfolgend eine Passage von Jack Crittenden, aus dem Vorwort zu dem Buch: Ken Wilber: Das Wahre, Schöne, Gute, (S.9f, Krüger Verlag 1999)
"Er [Wilber] hat eine stimmige Vision vorgelegt, welche die Geltungsansprüche der unterschiedlichsten Fachgebiete zu einem nahtlosen Ganzen zusammenführt: Physik und Biologie, Ökowissenschaften, Chaostheorie und Systemwissenschaft, Medizin, Neurophysiologie und Biochemie, bildende Kunst, Dichtkunst und Ästhetik, Entwicklungspsychologie und ein weites Spektrum psychotherapeutischer Richtungen von Freud über Jung bis Piaget, die Theoretiker der Großen Kette von Platon und Plotin im Westen bis Shankara und Nagarjuna im Osten, die Modernisten von Descartes und Locke bis Kant, die Idealisten von Schelling bis Hegel, die Postmodernisten von Foucault und Derrida bis Taylor und Habermas, die weitere hermeneutische Tradition von Dilthey über Heidegger bis Gadamer, die Gesellschaftstheoretiker von Comte und Marx bis Parsons und Luhmann, und die kontemplativen und mystischen Schulen der großen östlichen und westlichen meditativen Traditionen in den großen Weltreligionen. Und dies ist nur eine Auswahl. Wer wollte sich also darüber wundem, daß diejenigen, die sich auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert haben, es nicht hinnehmen wollen, wenn dieses Gebiet nicht als der Angelpunkt des Kosmos dargestellt wird? Mit anderen Worten, für die Kritiker steht einiges auf dem Spiel, und man wird es mir an dieser Stelle nicht als Parteinahme auslegen, wenn ich sage, daß diejenigen, die sich ihr Lieblingsthema in Wilbers Ansatz herauspicken, bloß einen bestimmten Zweig am Ast seiner Darstellung attackieren. Wenn man aber statt dessen den ganzen Baum betrachtet, und wenn Wilbers Ansatz grundsätzlich richtig ist, dann beinhaltet er mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte.
Wie kommt das? Worin besteht letztlich Wilbers Methode? Sie besteht darin, daß er bei der Betrachtung eines jeden Fachgebiets einfach auf eine Ebene der Abstraktion zurückgeht, auf der eine Gemeinsamkeit zwischen den widerstreitenden Ansätzen sichtbar wird. Nehmen wir zum Beispiel die großen religiösen Traditionen der Welt: Stimmen sie darin überein, daß Jesus Gott ist? Nein. Also müssen wir dies über Bord werfen. Stimmen sie alle darin überein, daß es einen Gott gibt? Dies hängt davon ab, was man unter »Gott« versteht. Bejahen sie alle einen Gott, wenn man mit »Gott« einen Geist meint, der in vielerlei Hinsicht nicht beschreibbar ist, von der buddhistischen Leerheit bis zum jüdischen Geheimnis des Göttlichen? Ja, dies ist eine taugliche Verallgemeinerung, was Wilber eine »Orientierungs-Verallgemeinerung« oder eine »profunde Schlußfolgerung« nennt. In derselben Weise setzt sich Wilber mit allen anderen menschlichen Wissensgebieten auseinander, von der bildenden Kunst bis zur Dichtkunst, vom Empirismus bis zur Hermeneutik, von der Psychoanalyse bis zur Meditation, von der Evolutionstheorie bis zum Idealismus. In allen Fällen extrahiert er eine Reihe profunder und verläßlicher, um nicht zu sagen unwiderleglicher Orientierungs- Verallgemeinerungen. Er hält sich nicht mit der Frage auf - und dies sollten auch seine Leser nicht tun -, ob andere Fachgebiete die Schlußfolgerungen eines bestimmten Fachgebietes akzeptieren oder nicht; man sollte sich zum Beispiel nicht daran stören, wenn die Schlußfolgerungen des Empirikers nicht mit Schlußfolgerungen des Gläubigen übereinstimmen. Man trägt einfach die Orientierungs-Verallgemeinerungen zusammen, als enthielte jedes Gebiet außerordentlich wichtige Wahrheiten.
Dies ist der erste Schritt in Wilbers integrierendem Verfahren, eine Art Phänomenologie allen menschlichen Wissens auf der Ebene von Orientierungs-Verallgemeinerungen. Mit anderen Worten, man nimmt alle Wahrheiten zusammen, die jedes Fachgebiet der Menschheit anbieten zu können glaubt.
Man nimmt für einen Augenblick einfach an, daß sie wirklich wahr sind.
Dann fügt Wilber diese Wahrheiten zu Ketten oder Netzen miteinander verknüpfter Schlußfolgerungen zusammen. Dabei wendet sich Wilber scharf von jeder bloßen Eklektik ab und versucht eine Synopsis. Dieser zweite Schritt in Wilbers Verfahren besteht darin, daß er alle Wahrheiten oder Orientierungs-Verallgemeinerungen, die er im ersten Schritt gewonnen hat, zusammennimmt und fragt: In welchem kohärenten System ließe sich die größtmögliche Zahl dieser Wahrheiten zusammenfassen? ...Wenn also Wilbers Vision gültig ist, dann enthält und berücksichtigt, das heißt integriert sie mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte. Der Grundgedanke ist ganz einfach. Es geht nicht darum, welcher Theoretiker recht hat und welcher unrecht. Wilbers Gedanke ist vielmehr, daß jeder im Grunde recht hat, und er möchte herausfinden, wie so etwas möglich ist. Ich glaube nicht, so Wilber, daß irgendein Mensch sich zu einhundert Prozent irren kann. Statt also zu fragen, welcher Ansatz richtig und welcher falsch ist, nehmen wir vielmehr an, daß jeder Ansatz wahr ist, aber nicht vollständig, und versuchen dann herauszufinden, wie viele Teilwahrheiten zusammenpassen und wie man sie integrieren kann, statt uns für eine von ihnen zu entscheiden und die anderen zu verwerfen."
Der dritte Schritt in Wilbers Ansatz ist schließlich die Entwicklung eines neuen Typs einer kritischen Theorie. Sobald er sein Gesamtschema der größten Zahl von Orientierungs-Verallgemeinerungen fertiggestellt hat, kritisiert er damit die Begrenztheit der engeren Ansätze, ohne die grundlegenden Wahrheiten dieser Ansätze zu verwerfen. Er kritisiert also nicht ihre Wahrheiten, sondern nur ihre Unvollständigkeit. Diese seine integrale Sichtweise liefert letztlich die Erklärung für die polaren Reaktionen auf sein Werk, das heißt für die Auffassung einerseits, daß es zum Bedeutendsten zählt, was je geschrieben wurde, und die wütenden Angriffe des Chors der Entrüsteten andererseits. Die heftigste Kritik kommt fast ausnahmslos aus den Reihen der Theoretiker, die ihr eigenes Fachgebiet für das einzig wahre Fachgebiet und ihre eigene Methode für die einzig gültige Methode halten. An Wilber wurde bisher nie ernstzunehmende - Kritik deshalb geübt, weil er eines der Wissensgebiete, die er betrachtet, falsch verstanden oder falsch dargestellt hätte, sondern deshalb, weil er Gebiete berücksichtigt, die der Kritiker jeweils nicht für wichtig hält, oder einfach deshalb, weil sie sich von ihm nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen. Die Freudianer sagen nie, daß Wilber Freud nicht verstanden hätte, aber sie finden, daß er die Mystik weglassen sollte. Die Strukturalisten und Poststrukturalisten sagen nicht, daß er ihr Fachgebiet nicht verstanden hätte, aber sie meinen, daß er all diese schrecklichen anderen Disziplinen weglassen sollte. Den Angriffen liegt immer dieselbe Haltung zugrunde: Wie können Sie es wagen zu sagen, mein Fachgebiet sei nicht das einzig wahre! Jedenfalls steht, wie gesagt, viel auf dem Spiel.
Ich habe Ken Wilber einmal gefragt, wie er selbst seine Arbeit sieht, und er antwortete mir:
Sie ist vielleicht eine der ersten glaubwürdigen weltumspannenden Philosophien, eine wirkliche Zusammenfassung von Ost und West, Nord und Süd.
Ganz in diesem Sinne äußerte sich vor kurzem der bekannte Religionswissenschaftler Huston Smith: Niemand, auch nicht Jung, hat so wie Wilber die westliche Psychologie für die überdauernden Einsichten der großen Weisheitstraditionen der Welt sensibilisiert. Langsam, aber sicher, Buch um Buch, legt Wilber die Grundlagen einer echten west-östlichen Psychologie.
Zugleich aber sagt Wilber auch: "Man sollte nicht zuviel Aufhebens davon machen. Es sind ja nur Orientierungs-Verallgemeinerungen. Die Details kann jeder so ergänzen, wie es ihm gefällt. Anders ausgedrückt: Wilber will uns nicht in eine begriffliche Zwangsjacke stecken. Im Gegenteil: Ich hoffe zu zeigen, daß es im Kosmos mehr Raum gibt, als man sich vielleicht vorgestellt hat."
Karuna
