Lieber Holztiger,
vor einiger Zeit hatte ich mich intensiv mit der Erforschung meiner Ahnen beschäftigt. Mit etwas Glück ist es mir gelungen, bis in das Jahr 1602 zu kommen. Bei jeder Eheschließung hat sich logischerweise eine neue Nebenlinie aufgetan und damit ist auch eine neue Konstellation von Genen mit eingeflossen. Alle diese Konstellationen können immer wieder auftreten und auch aktiviert werden.
Ja, man kann bei einer Reise in die eigene Vergangenheit in diese Welt eintauchen und miterleben, aber in die Gefühle und das Wesen dieser Menschen nur im begrenzten Maße. Sicherlich lässt sich die Regenerierungsrate der Haut nachvollziehen – aber nicht über etwas, das sich nur über einen größeren Zeitrahmen beobachten lässt.
Ich weiß auch aus meiner Familie einen Gendefekt, der sich zumindest in meiner direkten Linie wie ein roter Faden durch die letzten zweihundert Jahre zieht – ich kann aber nicht sagen, wie lange diese Kette aber wirklich ist. Ja, er kann sogar bis in die Zeit der Bildung erblicher Familiennamen führen, weil er sich auf die Äußerlichkeiten einer Person bezieht. Trotz dieser gemeinsamen Äußerlichkeit weiß ich aber, dass ich mich von den vorherrschenden Wesenszügen in meiner erweiterten Familie grundsätzlich unterscheide und mich bestenfalls an zwei Urgroßonkel aus der Zeit um 1872 und 1890 verbinden könnte. Ob diese beiden Wesensmerkmale jedoch aus der Linie meines Urgroßvaters kommen oder aus der Nebenlinie meiner Urgroßmutter, könnte ich nur durch einen Gentest mit anderen Nachkommen aus dieser Linie erfahren.
Mit den mündlichen Überlieferungen zum Wesen eines Menschen ist das jedoch eine zweifelhafte Sache, denn da spielen die persönlichen Befindlichkeiten der jeweiligen Zeitzeugen eine große Rolle. Je nach dem Verhältnis zum Verstorbenen werden da gerne bestimmte Merkmale herausgestellt oder auch ausgeblendet. Sicherlich können die Cherokees bei einem Fest ein Plätzchen für ihre Ahnen freihalten, wenn ich aber in meine Ahnentafel blicke, müsste ich dafür sicherlich einen Festsaal anmieten. Um all die Dinge aus der Vergangenheit meiner Vorfahren in einer Chronik festzuhalten, musste ich drei dicke Bände mit insgesamt ca. 650 Seiten verfassen. Ich kann mir das alles jedenfalls nicht merken und muss da zu Details oder einzelnen Namen oft selbst nochmals nachschlagen.
Ja, ich habe gesehen, wie man durch den Namen längst Verstorbene wieder aus dem Nebel des Vergessens lösen und in gewissen Grenzen zu neuem Leben erwecken kann. Das ist eine Tradition, die aber nicht nur auf die Indianer Nordamerikas beschränkt ist, sondern in viele Kulturen ein Bestandteil ihrer Spiritualität ist und war.
Ich sehe zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und der spirituellen Erfahrung nichts Trennendes, deshalb sehe ich in einer ganzheitlichen Betrachtung der Dinge auch keinen Widerspruch. Nicht mehr oder weniger wollte ich eigentlich mit meinem Beitrag #479 zum Ausdruck bringen.
Bis in die Zeit der Aufklärung gab es diese Aufteilung einer Erkenntnis zu Wissenschaft und Glaube ja auch noch nicht. Anstatt aber durch die Aufklärung zu einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen diesen Polen zu finden, hatte man sich vom reinen Glauben einfach nur der anderen Extreme zugewandt. Der Mensch besteht aber nicht nur aus Logik, sondern wird im Wesentlichen von seiner Gefühlswelt bestimmt. Warum folgen wir also nicht einfach uns selbst, indem wir diese innere Logik der Seele zulassen. Dem Glauben schadet das gewiss nicht, ihm Gegenteil, denn mit dieser Sichtweise wird das Glauben auch leichter zu einer tiefen Überzeugung.
Merlin
Lieber Merlin,
die Antwort erst jetzt, da ich inhaltlich mit dem, was du schreibst, keine Reibung empfinde, obwohl mein Zugang gänzlich anders ist, aus Erfahrung, nicht im Glauben, ohne jedoch den Glauben in seinem Wert dadurch als minder zu sehen.
Ergänzend sei nur erwähnt, daß der "Ahnensessel" bei festlicher Aktivität ein symbolischer Platzhalter ist. Bei derlei Festivität erscheinen auch niemals alle Vorväter und-mütter, sondern nur jene, die etwas zu sagen haben, etwas, das für das Wohlergehen der Lebenden von Bedeutung sein mag. Gewisse Ahnen mögen hier häufiger zu Gast sein als andere.
Punkto Ahnenarbeit ist nicht nur das Erforschen (Wer waren meine Ahnen) wichtig, sondern und ganz besonders das "Vergeben".
Bei scheinbar bewußt gewordenen Reinkarnationen werden oft Helden, Könige, Weise der Vergangenheit wahrgenommen, aber nur ganz selten der Dieb, der Mörder, der Misanthrop, den es auch in einer jeden Familie gab, gibt oder geben wird.
Ein Lakota Elder erwähnte mir einmal gegenüber die Bedeutung der Ahnenarbeit liegt viel weniger darin, die Macht der Ahnen anzurufen, sondern eher darin, denen zu vergeben, die Leid verursacht haben, wissend, daß sie taten was sie konnten, selbst wenn es nicht genug war - sie wußten es nicht besser.
Dieser Punkt kann heftige Kontroversen aufrufen. Ganz speziell, wenn jemand in der Identitätsarbeit nicht den Helden der Vorzeit, sondern all jene Übel und Schatten der Familie wiederfindet, in sich selbst...so gehört auch die Selbstvergebung zu jener Schattenarbeit dazu.
Es ist genau jener dunkle Anteil der Vergangenheit, die Finsternis, welche auch die Gegenwart überschatten mag - die hier und jetzt Licht und Klarheit bringen kann,
nur durch die Lebenden. (die vergeben können)
Die Ahnen mögen inspirierend sein, aber handeln (auch im Sinne der Erkenntnis) können nur die Lebenden, im Hier und Jetzt.
Dies einmal wissend, ist Karma eine ganz schlechte Ausrede für die eigene Verfassung, ganz gleich wie weit die Wurzeln zurückliegen mögen - es gibt immer etwas, das in der Erinnerung bleibt. Bohrt man hier nach, ists wie bei einem faulen Zahn...zuletzt bleibt nur die Frage, ob der Zahn zu retten ist, oder gezogen werden muß, denn faule Zähne stinken und machen krank!
Auf einen gesunden Biss, allerseits!
Ich möchte hier gern noch ein Gedicht teilen, zu dem mich meine Ahnenarbeit vor über 10 jahren inspiriert hat - möge es auch für andere eine Inspiration sein!^^
Oh wunderschöner Strauch!
Du suchst die Wurzeln deiner Vergangenheit, längst abgestorben
Neue Lebenskraft fließt in deinen Adern
Solange du nicht in deiner Mitte bist
Deinem Schicksal ausgeliefert, mußt du hadern!
Siehst du die alte Eibe?
Die Erle, die Zeder, gleich blühendem Jasmin?
Dein Wurzelwerk mit dem Ihrigen mag sein verwoben
Unwissend findest du dich gar selbst darin!
Du bewunderst die Bäume
Deren Äste sich höher ranken im Licht?
Manch alter Baum ist innen hohl
Sag, warum kennst du dein innewohnendes Feuer nicht?
Die Leichen der Alten, sie nähren dich, sie geben dir Kraft
Doch wirst du nicht fließen hören
In modrigem Laub deinen eigenen Saft!
Den morgigen Tag du nicht ständig brauchst zu schauen
Die Zeit, in der du erblühen wirst, kommt näher
Mit wachsendem Gottvertrauen
Durchdrungen vom Sein des großen Baumes,
Gefallen, wie all die and'ren auch
Hast du den freien Willen zur Selbsterkenntnis
Oh wunderschöner Strauch!