Der Briefe schreibende Paulus

Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Das Interesse erwacht

(1.9)​

Alles, was wir von Paulus über Jesus erfahren
bleibt eigentümlich blass und substanzlos:
Jesus ist "von einer Frau geboren,
geboren unter dem Gesetz" (Gal 4,4);
als Same Abrahams (Gal 3,16) und ein Nachkomme Davids (Röm 1,4; vgl. 2 Tim 2,8), [16]
gehört er zum Volk Israel (Röm 9,3f.; 2 Kor 11,22; Phil 3,5; vgl. Apg 22,3); [17]
er hat gelitten (Röm 8,17; vgl. 2 Tim 2,11),
er war am Kreuz gestorben (Röm 6,6; Gal 5,24; 6,14; Kol 2,12),
er wurde begraben (Röm 6,4) und auferweckt (Röm 4,24f.; 6,4.9; 7,4; 8,11; 10,9; 1 Kor 6,14; 15,4ff.; usw.).

Wann und wo dies alles geschah, erfahren wir nicht.
Wie im Glaubensbekenntnis der Apostel gibt es eine gähnende Lücke zwischen der Geburt und dem Tod Jesu.
 
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Das Buch „Der gefälschte Paulus“ wurde 1995 erstmals vom Patmos-Verlag herausgegeben. Detering verstarb im Jahr 2018 und im gleichen Jahr wurde dieses Buch von einem anderen Verleger neu aufgelegt.

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Merlin
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Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Das Interesse erwacht

(1.10)

Im Grunde ist die Tatsache, dass Paulus überhaupt nichts über den historischen Jesus sagt, mehr als seltsam;
ebenso merkwürdig wie die Tatsache, dass er unmittelbar nach Erhalt der "Offenbarung",
die ihn zum "Apostel" berufen hätte, für drei Jahre nach Arabien ging (Gal 1,17f.)
anstatt sich drum zu erkundigen,
  • wo die jüdische Vertreter der Person
    • die ihm in Damaskus "erschienen" war (Apg 9,3f.) sind
      • um mehr Informationen über dessen Leben zu bekommen.
Es ist mehr als merkwürdig, dass jemand
  • der gerade den entscheidenden Wendepunkt seines Lebens
    • durch eine Offenbarung erlebt hatte,
keine Interesse für die desjenigen, der im Zentrum dieser Offenbarung stand, hatte,
  • (Taten und Aussagen die er in seinen Briefen auch kaum erwähnte).
 
Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Das Interesse erwacht

(1.11)​

Ich selbst war jedenfalls nicht in der Lage, die hartnäckige Ignoranz, mit der Paulus die Geschichte Jesu behandelte, zu reproduzieren. Die wichtigsten theologischen Disputen, die an dieser Stelle von den meisten Gelehrten vorgebracht werden -
  • z. B. dass Paulus ausschließlich an dem "erhobenen Christus" interessiert sei,
  • oder, vielleicht noch radikaler, dass Paulus Jesus nur als Muster für seine eigenen theologischen Vorstellungen benutze
- waren zwar rational erhellend, [18] aber nur Vermutungen.

Sie mögen für einen akademischen Theologen, der den Apostel in erster Linie als Träger einer Idee
(oft nur seiner eigenen Idee) wahrnahm, zufriedenstellend gewesen sein.
Aber für jemanden, der Paulus als einen Menschen wahrnimmt,
dessen Verhalten menschlich und psychologisch nachvollziehbar sein muss, würde dies nicht ausreichen.

Oder war der Paulus des Galaterbriefes letztlich kein Mensch aus Fleisch und Blut,
sondern nur das Produkt eines akademischen Theologen?
 
Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Das Interesse erwacht

(1.12)​
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir die Frage,
ob Paulus nur das Produkt eines akademischen Theologen war,
freilich noch nicht gestellt.

Aber ich war überrascht, wie leicht es den meisten Theologen fiel,
diesen merkwürdigen Sachverhalt - also das rätselhafte Schweigen des Paulus zu Jesus - zu übergehen
und wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Ich wollte nicht, dass das bei mir der Fall ist. Obwohl ich immer noch keine Erklärung für dieses merkwürdige Verhalten des Paulus hatte, wurde meine historische Neugier auf den Apostel Paulus zum ersten Mal geweckt. Mein Interesse an ihm hatte von Anfang an weniger mit seiner Theologie zu tun, die mir zum Teil sehr wolkig und widersprüchlich erschien, sondern mit dem Rätsel und der Widersprüchlichkeit seiner Biographie.

Erst später erkannte ich, dass es einen direkten Zusammenhang
  • zwischen den biographischen
  • und theologischen Ungereimtheiten gibt
und dass die Theologie des "Briefschreibers" viel leichter zu verstehen ist,
wenn die historischen Probleme, die mit der Person des "Paulus" verbunden sind, zuerst gelöst werden.
 
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Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Die Quellen

(1.13)​

Wer sich über eine bestimmte Person aus Vergangenheit oder Gegenwart informieren will und nicht nur auf Berichte, Vermutungen oder Meinungen anderer angewiesen ist, braucht zuverlässige Quellen. Vielen Menschen ... greifen lieber gleich zur Sekundärliteratur (Übersetzungen, Kommentare) [19], um sich aus zweiter Hand über die Person, die sie interessiert, zu informieren.

Ich habe das nie so empfunden. Für mich ist das Lesen von Quellen immer eine fesselnde, ja geradezu spannende Angelegenheit. Es ist bekannt, dass jede Biografie, jede Studie über eine bestimmte historische Person, immer von der Sichtweise desjenigen, der schreibt, geprägt ist. ...

Die "Gefahr" der eigenen Lektüre von Quellen sollte nicht unterschätzt werden. Sie besteht in der Möglichkeit, dass der Leser am Ende zu einer ganz eigenen Sicht der Dinge gelangt, die ihn in scharfen Konflikt mit konventionellen Ansichten und Vorstellungen bringt.

In Bezug auf "Paulus" ist die Frage der Quellen recht einfach. Im Allgemeinen kann man sagen, dass unser historisches Wissen über den Apostel hauptsächlich auf zwei "Säulen" ruht:
a) Die "Apostelgeschichte", die insofern einen entscheidenden Nachteil hat, als ihr historischer Wert heute von einer wachsenden Zahl von Gelehrten in Frage gestellt wird.
b) Die unter dem Namen Paulus überlieferten Briefe, die von größerem historischen Wert zu sein scheinen.
 
Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Die Quellen

(1.14)​

Die Grundelemente unseres Bildes von Paulus

Was wissen wir über Paulus, oder was glauben wir über ihn zu wissen?
Vielleicht haben wir im Religionsunterricht oder anderswo einmal gehört,

1. dass wir es hier mit einem Juden namens Saulus zu tun haben,
2. dass dieser Mensch zunächst einmal ein Verfolger der frühen Christengemeinde war,
3. dass er dann außerhalb von Damaskus plötzlich zum Christentum bekehrt wurde ("Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?")
4. und dann der wichtigste christliche Missionar wurde und mehrere Missionsreisen durch den Mittelmeerraum unternahm
5. bis er schließlich, nachdem er in Jerusalem gefangen genommen worden war, nach Rom gebracht wurde.

Wenn wir fragen, woher diese historischen Daten stammen, die wir als absolut sicher ansehen und die unser Bild von Paulus bestimmen, müssen wir zugeben, dass sie
  • nicht aus zeitgenössischen Zeugnissen über den "Apostel"
    und auch nicht aus seinen Briefen stammen (aus denen sich manches nur indirekt ableiten lässt), sondern aus der "Apostelgeschichte" des "Lukas" (9,4; 13,2; 21,27).
 
Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Die Quellen

(1.15)

Die Grundelemente unseres Bildes von Paulus 2​

Dass die historischen Daten, die wir als absolut sicher ansehen und die unser Bild von Paulus bestimmen,
  • nicht aus zeitgenössischen Zeugnissen über den "Apostel"
  • und auch nicht aus seinen Briefen (aus denen sich manches nur indirekt ableiten lässt),
  • sondern aus der "Apostelgeschichte" des "Lukas" (9,4; 13,2; 21,27) stammen,
muss für jemanden, der an gesicherten historischen Fakten sehr interessiert ist, eine herbe Enttäuschung sein.
Er wird sich ängstlich fragen, ob ein Werk,
  • das mit einer ausführlichen Beschreibung der Himmelfahrt Jesu beginnt,
  • die in keiner Weise besonders symbolisch klingt,
als zuverlässige historische Quelle gelten kann.

Wie in theologischen Kreisen seit langem bekannt ist, gleicht die "Apostelgeschichte" in vielerlei Hinsicht eher einem imaginären, wunderbaren Roman als einer historischen Darstellung,
  • auch wenn der Verfasser im Vorwort das Aussehen eines Historikers annimmt
  • und in seiner Darstellung den Gepflogenheiten eines antiken Geschichtsschreibers folgt,
(siehe auch "Lukas" als "Historiker", Lysanias Tetrarch von Abilene)
 
Hermann Detering: Der gefälschte Paulus

Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Die Quellen

(1.16)

"Apostelgeschichte" - ein Augenzeugenbericht?
Reisegefährte des "Paulus"

Für die Beurteilung des historischen Wertes der "Apostelgeschichte" ist es auch im Hinblick auf den Verfasser des Werkes ("Lukas") wichtig zu beachten, dass wir es hier nicht mit einem Augenzeugen zu tun haben, wie früher oft angenommen wurde. ...

Man sollte damit rechnen, dass ein Augenzeuge es kaum für nötig halten würde, dem Leser Legenden anstelle von historischen Ereignissen zu erzählen. Jedenfalls wird in der heutigen neutestamentlichen Forschung, auch von konservativen Gelehrten, anerkannt, dass der Autor, anders als früher oft angenommen, kein Reisegefährte des "Paulus" war.
 
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Kapitel 1:
Die Erforschung der Paulusbriefe
als Geschichte der Entdeckung ihrer Fälschung
Die Quellen

(1.18)

"Apostelgeschichte" - ein Augenzeugenbericht? 2

Wäre "Lukas" ein Augenzeuge gewesen, müsste man sich fragen,
warum er ein völlig anderes Bild von "Paulus" zeichnet als die Briefe ihn beschreibt.

Philipp Vielhauer bemerkt:
"Der Schreiber macht historische Fehler im Leben des Paulus,
die kein Weggefährte machen würde"
,
und führt als Beweis dafür "neben allem anderen" folgenden merkwürdigen Umstand an:

"Ein Mann, der den Titel und die Ehre eines Apostels ausschließlich den Zwölfen vorbehält
und dies bei "Paulus" konsequent leugnet,
obwohl "Paulus" das Apostolat für sich beansprucht und verteidigt,
kann kein Gefährte des Paulus sein. "2
 
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