Ja. Aber wie und warum haben die Rechten die Möglichkeit, das Boot auch auf ihre Sache auszubreiten? In dem Beispiel, was Du entworfen hast: Wie kommt ein Reichsbürger dazu, auf einer Demo gegen Atommüll eine Reichsflagge zu schwenken? Wie käme er drauf, dass das irgendwie thematisch passt?
Da kann ich nur spekulieren. Es könnte sein was es ausdrückt, im Sinne von „Flagge zeigen“, eben seiner Gesinnung gemäß. Es kann auch eine Art „zu eigen machen“ sein, also der Versuch sich ein Thema anzueignen. Wollte ich sowas wirklich analysieren, dann würde ich versuchen herauszufinden inwiefern jemand oder eine Gruppe strategisch agiert oder einfach nur impulsiv. Ich halte die Frage aber nicht mal für besonders wichtig. Letztlich ist das alles Symbolik und darauf gebe ich nicht übermäßig viel.
Darum wünsche ich mir oft klarere bzw. konkretere Demo-Themen, bei denen auch klar ist, welche Themen nicht dazu gehören.
Aber denk auch über die Konsequenz dieses Wunsches nach. Letztlich forderst Du damit engere Gesetze, oder nicht? Denn wie würdest Du z.B. verhindern wollen das Menschen ihre wie auch immer geartete Gesinnung über Symbole ausdrücken wenn Du diese Symbole nicht gesetzlich verbietest? Und genau deshalb schwenken die doch die Reichsflagge - die ist ja schon ein Ersatz. Du würdest also so viele Verbote aussprechen müssen das am Ende Konformität steht. Und das wäre wieder irgendwie selbst nazimäßig, oder nicht?
Oder: Stell Dir eine Kundgebung vor auf der Reden gehalten werden. Wie würde man verhindern wollen, dass jemand vom Thema Atommüll nicht auf einmal anfängt irgendwelche Verschwörungstheorien zu äußern die in eine extreme Richtung gehen? Und wenn Du so etwas nicht nur auf der rechtsextremen Seite unterbinden willst, sondern vielleicht auch auf der linksextremen Seite, dann werden sich solche Redner zuerst anpassen und am Ende werden nur noch Redner auftreten die ihr Manuskript vorher absegnen ließen. Das wäre das Ende der Redefreiheit und eine sehr große Macht derer die da den Daumen heben oder senken.
Insofern… so ein Wunsch kann zuerst mal plausibel wirken, ist aber nicht umsetzbar ohne Freiheit zu begrenzen.
Das mit den realen Problemen ist tatsählich ein guter Punkt. Denn ein Diskurs über die wird dadurch natürlich gestört bzw. fast verunmöglicht. Und - um beim Topic zu bleiben - bezüglich den Covid19-Maßnahmen gibt es durchaus auch Probleme und Verbesserungsbedarf. Es sind da auch Demo-Inhalte gut möglich, denen ich wohlwollend gegenüber stünde. Wenn es z.B. darum ginge, Künstler und Kleinunternehmen besser zu unterstützen, oder darum, endlich mal ein tragfähiges und konkretes Maßnahmen-Konzept für die Schulen zu entwerfen. Sobald da dann aber auch vemehrt Plakate auftauchen, die das Virus leugnen o.ä. würde mein Wohlwollen aber schnell schwinden.
Ja, es gibt nachvollziehbare Gründe. Was auf solchen Demos momentan vor allem passiert ist: Menschen drücken ihre Wut aus. Und sie kennen nicht mal zwingend die Ursachen, können nicht wirklich greifen was denn nun schief gelaufen ist oder schief läuft, warum sie so fühlen. Man kann viele Theorien und Äußerungen dumm finden, aber wenn ich entscheiden könnte ob Menschen das dürfen oder nicht, dann bin ich dafür. Denn auch dieser eher konfuse Ausdruck der Unzufriedenheit kommt „oben“ an und das muss auch so sein. Wärest Du Bundeskanzler wäre Dir wesentlich lieber dass Du z.B. anhand solcher Demos „etwas“ sehen kannst, anstatt alles zu unterdrücken und dann aber auch blind zu sein bis das Ganze explodiert.
Zum einen habe ich Angst davor, weil nunmal nicht die Mehrheit so denkt, wie Du. Und vor allem in hitzigen Diskussionen, in denen das Gegenüber es nicht unbedingt gut mit einem meint, kommt es eben vor, dass das Gegenüber einem aus solchen Begebenheiten versucht Stricke zu drehen bzw. jede kleinste Äußerung von einem auf die Goldwage legen und überdrehen. Ich habe das schon in diversen Diskussionen erlebt.
Und selbst wenn viele Menschen so denken würden wie Du, so ist nicht jedem Betrachter des Bildes der genaue und konkrete Kontext des Bildes bekannt. Und wenn das Bild oder der Bildausschnitt versehentlich oder gar aus böser Absicht als eiziges Plakat diese Reichsflagge zeigt - es ginge aus dem Bild also nicht hervor, worum die Demo eigentlich ging - und davor irgendwie in der Nähe bin auch ich zu sehen, wie ich irgendeine Parole rufe... da wird auch differenziert denkenden Menschen nicht sofort klar, dass es mir nur um Atommüll ging und definitiv NICHT darum, dass ich das deutsche Reich zurück-wähne.
Und es geht dabei nicht nur um neutrale Menschen, die das Bild sehen könnten. Besonders unangenehm wäre es mir z.B. wenn der Flaggenschwenker das Bild dann irgendwie veröffentlicht mit der Unterschrift: "Meine Gesinnungsbrüder und ich demonstrieren für ..." - d.h. wenn eben in diesem Beispiel der Reichsbürger meine Gegenwart für seine Sache mit ausschlachtet. Diese Gelegenheit möchte ich denen auch nicht gerne geben.
Ja, finde ich alles verständlich. Würde mir grundlegend nicht anders gehen. Aber wenn mir ein Thema wirklich wichtig wäre, um mal wieder auf vergiftetes Wasser oder Atommüll oder was auch immer zu kommen, dann würde ich dieses Risiko eingehen. Und Menschen die mich kennen würden vielleicht sogar erstaunt nachfragen, ich könnte das aber mit einem Satz erklären, zur Not auch mit drei oder fünf. Frag Dich mal ob jene Menschen die Dir wirklich wichtig sind tatsächlich ein Problem wären. Meine Vermutung wäre: Nein, die wären nicht das Problem. Die würden Dich vermutlich nicht einfach vorverurteilend falsch verorten, bräuchten wahrscheinlich nicht mal nachfragen. Was also ist das Problem? Eine eher abstrakte Vorstellung wie „andere Menschen“ denken. Das Problem ist eher eine Stimmung an der m.A.n. Medien und soziale Netzwerke eine Hauptschuld tragen. Die Urteile kommen in aller Regel vor allem „aus dem Internet“. Wer aber sind jene die so hochdrehen, so gerne auf andere zeigen? Das ist eine anonyme Masse und viele, m.A.n. eine Mehrheit von denen, agieren einfach nur ihre ganz persönlichen Probleme aus und haben vom jeweiligen Thema Null Ahnung und auch von jenem Thema, für das sie zu kämpfen vorgeben, nicht viel mehr. Das Problem dabei ist: Man hat es fast immer mit Menschen zu tun die entweder totale Theoretiker und weltfremd sind, so klug sie auch sein mögen, oder aber mit Menschen die einfach nicht die hellsten Kerzen auf der Torte sind und sich daher einfach einer Strömung anpassen. Dazwischen ist dann jede Kombination denkbar. Und egal ob ich es da mit Rechten oder Linken zu tun habe, ich passe mich dem nicht an.
Ein Beispiel: Ich diskutiere - auch hier im Forum - schon seit Jahren mit Menschen, die nicht an den menschengemachten Klimawandel glauben. Vor ein paar Jahren gab es in der globalen Temperaturkurve mal das Phänomen, dass sie kurzfristig abzuflachen schien. Dieses Verhalten habe ich in einer solchen Dikussion auch mal kurz "zugegeben" bzw. erwähnt OHNE dabei irgendwie Entwarnung zu geben o.ä. Mein Gegenüber damals hat das aber derart ausgeschlachtet und meine Bemerkung so überdreht und fehlinterpretiert. Und jede Erklärung meinerseits, was ich dazu und darüber denke und wichtiger was ich NICHT darüber denke, wurden ignoriert oder abgetan. Nun hast Du natürlich Recht, dass damit dann jegliche Diskussion sich erübrigt, wenn mein Gegenüber derartig oberflächlich, dumm und unwillens ist. Und in einem persönlichen Gespräch ohne Mitleser o.ä. wäre es dann das Beste, einfach den Dialog zu beenden. In einem Forum lesen aber nunmal auch viele weitere Menschen mit, und da gönne ich meinem gegenüber da nicht das "letzte Wort" - auch dann nicht, wenn jedem denkfähigen Menschen sofort auffällt, wie dumm mein Gegenüber da pseudo-argumentiert hat. Und solche Situationen sind dann anstrengend.
Bleiben wir mal bei Deinem hypothetischen Beispiel: Wie würdest Du dann damit umgehen, wenn Dir dann über sozialen Medien ein Bild zugespielt wird, wo dann nur die Reichsflagge zu sehen ist, diverse Menschen, die darum stehen und irgendetwas rufen - in der Menschenmenge erkennst Du auch Dich - und jemand postet zu dem Bild: "Meine Waffen- und Gesinnungsbrüder demonstrieren für das Gute des Reiches." o.ä. Nun gut, Menschen, die Dich kennen, werden das einzuordnen wissen. Aber wie sieht es mit dem Rest aus? Wie sieht es z.B. aus, wenn Dich dann jemand im Supermarkt erkennt, oder ein möglicher Arbeitgeber …?
Zuerst mal: Du beschreibst hier sehr perfekt was ich kritisiere. Das man in so einer Situation überhaupt solche Sorgen haben muss. Ich bin nämlich der Ansicht das niemand Angst um seinen Job haben müssen sollte solange er sich im Rahmen der Gesetze bewegt. Aber ja, es ist zum Teil anders.
Natürlich würde mir so ein Bild absolut nicht gefallen und grundlegend vermute ich, dass ich an einer Demo teilnehmen könnte ohne in so eine Situation zu kommen. Denn man kann solchen Leuten ja durchaus aus dem Weg gehen solange genug andere da sind. Aber nehmen wir an es wäre so: Mir wäre ausschließlich wichtig, was jene denken die mich kennen und mir wichtig sind. Vielleicht würde ich mich sogar bemüßigt fühlen eine kurze Klarstellung zu posten oder als kleine Rundmail zu verschicken. Würde ich nun in sozialen Netzwerken von Menschen angegriffen die ich nicht mal kenne (was eigentlich nicht möglich ist weil ich nirgends mit echtem Namen bin) würde ich vielleicht auch darauf reagieren. Aber ich wäre nicht defensiv. Bei mir würden solche Vorwürfe nicht landen.
Mein Punkt ist einfach: Wenn mir ein Thema wirklich wichtig wäre, so dass ich deshalb auf eine Demo gehen würde, dann würde ich dieses eher unwahrscheinliche Risiko in Kauf nehmen. Der Grund ist: Ich weiß immer genau warum ich etwas tue und bin im Reinen damit. Mehr braucht es eigentlich nicht.