Es macht mich traurig, wenn ich meinen zweigesichtigen Charakter betrachte. Mama wäre enttäuscht, könnte sie es heute noch erfassen, was aus mir geworden ist. Sie hat immer an das Gute in mir geglaubt und schon in der Jugend, wenn mal die Polizei vor der Tür stand, hat sie immer zu mir gehalten, mich vor Konsequenzen beschützt, für mich gelogen oder meine Strafen bezahlt und die Wahrheit wieder verdrängt.
Ich wurde als Spätling geboren, meine Schwester hat aus dem Haus geheiratet als ich drei war und ich wurde zwischen mittelalterlichen und alten Damen herumgereicht, wie ein lächelnder Porzellanengel und konnte mit meinem Gemüt durchaus die Herzen der Damen erfreuen. Ich war freundlich, friedlich und heiteren Gemüts. Das darf ich sagen.
In der Schule tat ich mir nicht so leicht. Nicht wegen dem Lernstoff, eher weil ich ein Außenseiter war, obwohl ich rein optisch keine sonderlichen Anomalien aufwies. Ich verstand nicht, warum man mich immer veräppelte, mir die Dinge klaute und mich wie einen Zirkusaffen durch die Klasse trieb und mir mit Büchern auf den Kopf schlug. Und ich war nicht in der Lage, zurück zuschlagen, war an diesen Konflikten nicht interessiert. Mama hatte mir das nie gelernt. Sie hat mir immer nur eingetrichtert, ich solle ausweichen, wenns wo Rauferein gab. Als ob das so leicht wäre. Auch im Park wurde ich manchmal verprügelt, ohne zu wissen, warum. Mama wollte ich mit meinen Problemen nicht belasten, wollte das Bild des unzerbrechlichen Porzellanengerls aufrecht erhalten und so habe ich meinen Groll eben tief in mir selber vergraben.
In der Hauptschule hatte ich eine Freundin, in der selben Klasse. Die war sehr dick und hatte Brillen vor den Augen, die so stark waren wie Einmachgläser. Sie saß in der ersten Reihe und konnte trotzdem kaum lesen, was an der Tafel geschrieben wurde. Ich setzte mich zu ihr, um ihr ein wenig zu helfen. Mit ihr fühlte ich mich solidarisch, denn auch auf ihr wurde immer herum gehackt. Zu zweit waren wir stärker und konnten die Rabauken besser ertragen.
Gegen Ende der Hauptschule hatten mich drei ältere Jugendliche in ein Gebüsch geschleift. Ich fürchtete damals wirklich um mein Leben, denn so verprügelt wurde ich zuvor noch nie. Daraufhin lief ich fast ein Jahr mit einer massiven Angststörung im Gehirn durch die Welt ohne mit irgendwem darüber zu reden.
Dann begann ich Alkohol zu trinken und alles wurde anders. Meine ganzen Ängste waren weg und alles, was ich die Jahre über unverdaut runtergeschluckt habe, kam im Rausch unkontrollierbar aus mir heraus. 11 Jahre hab ich durchgesoffen, wie ein Geistesgestörter und viele Unschuldige wurden in Mitleidenschaft gezogen.
Dann lernte ich eine sehr hartnäckige Frau kennen. Die vermutete, hinter meiner Maske eines geistesgestörten, kranken Tieres einen Menschen zu erkennen und ich bemühte mich, wieder vom Alkohol loszukommen, denn ich wusste ja selbst, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte und das der Alkohol mich immer tiefer in einen Abgrund zog.
Alles wurde wieder besser. Ich trank nichts mehr, führte mich nicht mehr auf, wie ein Vandale, machte ein wenig Sport, Yogaübungen, meditierte, ging in den Wald wandern. Aber ich war abhängig vom Einfluss dieser Frau. Das wurde mir im Laufe der Jahre zu eng und ich zerriss das Band. Trennte mich von ihr und begann kurz darauf wieder zu saufen.
Ich bin ein Trinker vom Epsilon-Typ. Monatelang interessiert mich der Alkohol nicht die Bohne. Doch dann... entweder aus einem Stimmungs-Tief oder einem Stimmungs-Hoch heraus, schlage ich unwillkürlich zu. Jener Teil in mir,
der weiß, dass ich absolute Alkohol-Karenz einhalten muss, scheint dann abgespalten von mir und ausgeflogen zu sein. Dann besaufe ich mich Tage oder Wochenlang völlig sinnlos, bis ich wie ein totes Tier zusammen breche. Und in diesen Räuschen offenbare ich immer wieder ein Gesicht von mir, Charakterzüge, die ich nüchtern nicht gut heißen, nicht vertreten und verantworten kann, weil sie dem sozialen Leben kontraproduktiv und destruktiv entgegen wirken.
Vielleicht bin ich schizophren. Ich weiß es nicht. Der Psychiater sagt, er vermutet Bipolare Störungen als Grundkrankheit. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: ich habe mich jetzt für eine ambulante Alkohol und Tablettenentzugstherapie angemeldet. Kommenden Montag hab ich ein Erstgespräch und wenn sie mich nehmen, bin ich zweimal pro Woche im Programm. Höchste Eisenbahn.
Und ich weiß, mit diesen Charakterzügen, die da im Rausch zu Tage treten, bin weder ich noch mein Umfeld wirklich glücklich. Vor lauter Unglück über meinen versauten Charakter wollte ich mich wahrscheinlich bei meinem letzten Alkoholrückfall wegmachen. Mit einer Flasche Rum und Schlaftabletten. Ich saß da, mixte den Rum mit Energydrink und spülte die Tabletten wie Zuckerl runter, während ich mir Youtube-Videos reinzog.
Solange, bis optisch akustische Täuschungen meine Sinne verwirrten und ich aus den Augenwinkeln sah, wie die Leute aus dem Stammlokal redend und gröhlend um meinen Wohnzimmertisch saßen und sich mit mir an den Videos erfreuten. Immer wenn ich ihnen den Kopf zudrehte, waren sie weg und im Raum war es still.
Soviel zu meinem Kerbholz. Weiter läßt sich die Maske im Moment nicht lüften.
Mama hat immer an das Gute in mir geglaubt. Ich bin eine echte Enttäuschung für sie.