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Stuttgart 21: Bunte Bilder und Zitate statt fachlicher Recherche
02.10.10 (Bahnhöfe, Deutschland, Marginalien, Strecken)
Ich bin auf dem Weg in einen kurzen Urlaub und hätte gern mehr Zeit für die Recherche, auch wenn mich dieser Beitrag wieder zwei Stunden gekostet hat. Denn auch mit etwa 43 Jahren ernsthafter Eisenbahnerfahrung (als Hobby- und Eisenbahnjournalist) weiß ich nicht alles über das hochkomplexe System Eisenbahn. Jedes neue Fachwissen, etwa über ETCS, offenbart weitere Lücken, gibt aber den Anreiz, tiefer einzusteigen.
Nun könnte ich wieder einmal einen Stein aus dem Glashaus werfen und Kollegen in den Redaktionen beschimpfen, die sich nicht die Mühe machen, tiefer einzusteigen und der Bevölkerung klarzumachen, dass Stuttgart 21 allein aus technischen Gründen ein hirnverbranntes Projekt ist. Das Projekt von Politikern und Leuten, die es gewohnt sind, in großen Würfen zu denken und sich nicht mit dem Kleinklein der Bahn- und Bautechnik beschäftigen wollen. Aber den lieben Kollegen fehlt es an Wissen (sie halten ja nicht einmal Zug- und Lokführer auseinander), an Zeit und vermutlich auch am Ehrgeiz, sich in die Materie einzuarbeiten und nach Experten zu suchen, die ihnen beim Lernen und Verständnis helfen. Das wäre zwar guter und verantwortlicher Journalismus, ist heute aber aus verschiedenen Gründen weder von den Verlegern gefragt noch mit knappem Personal machbar. Von dem unseligen Hang zur Contentschieberei und Copy&Paste-Journalismus (Agenturen, Pressemitteilungen, Politikerzitate) ohne weitere Recherche einmal abgesehen.
Es gibt immerhin einen Redakteur, der sich wirklich hineingekniet hat in das Projekt Stuttgart 21 und mehr davon versteht als jeder andere: Arno Luik vom Stern. Ich bedauere sehr, dass die Medien nur kurz und oberflächlich auf die Ankündigung seines am Donnerstag erschienenen Beitrags reagiert haben. Denn er bietet zahlreiche Ansätze für tiefere Recherche, wenn man nur einen Hauch von Hintergrundwissen über die Eisenbahn hat und eine Viertelstunde über seinen Beitrag nachdenkt.
Ich habe leider nicht die Zeit zu recherchieren, welche Radien die Profile moderner Eisenbahntunnel haben. Denn man kann nicht einfach aus den Querschnitten auf den Radius schließen, weil der runde Tunnel unten ja mit Material und dem Gleisbett aufgefüllt wird. Nun sollte sich mal jemand hinsetzen, rechnen und die Eisenbahnplanungsbüros fragen, wie (laut Stern) sich ein auf 4,05 m verkleinerter Durchmesser statt 5,10 m auf die Querschnittsflächen auswirkt. In Wikipedia steht: Die Querschnittsflächen von Bahntunneln tendierten im Zuge der technischen Entwicklung zu immer größeren Werten: So war etwa im Dampflokzeitalter für zweigleisige Eisenbahntunnel in Deutschland ein Regelquerschnitt von 46 m² vorgesehen; Die für 300 km/h trassierten Schnellfahrstrecken der DB weisen einen Regelquerschnitt von 92 m² auf. Alle seit 1998 für den Mischverkehr geplanten Tunnel weisen zwei parallele, eingleisige Röhren auf. In der Schweiz begnügte man sich beim 15 km langen Gotthardtunnel (Vmax 125 km/h) mit 38 m², erhöhte die Fläche aber beim Hauenstein-Basistunnel (Vmax 140 km/h) auf 48 m², beim Heitersbergtunnel (Vmax nach aerodynamischen Kriterien: 170 km/h) auf 58 m² und bei den Tunneln des Bahn-2000-Projekts (Vmax 200 km/h) auf etwa 70 m².
Bei 4,05 m Radius entsteht eine Fläche von 51,5 m². Bei 5,10 m sind es 81,7 m², wenn ich mich nicht völlig verrechnet habe ich bin kein Mathegenie. Und das jeweils ohne das (schätzungsweise) Fünftel oder Sechstel, das für das Gleisbett abgezogen werden muss. Eins ist dabei klar: Die S21-Tunnel sind sehr eng dimensioniert für 160 km/h-Züge! Wieso, verdammt nochmal, fragt nicht endlich mal eine Zeitung nach?! Und zwar nicht bei der Bahn, die entweder nichts sagt oder erfahrungsgemäß etwas zurechtlügt, sondern bei den vielen Ingenieurbüros mit Tunnelbauerfahrung.
Von den Fernsehjournalisten verlange ich schon gar keine Recherche mehr. Bei Kollegen, die heute über Obstbau, morgen über Krankenversicherungen und übermorgen ein Segelbootrennen berichten, kann man ernsthaft kein Fachwissen erwarten. Noch immer zeigen sie, wie Phoenix, die allerersten luftig-leichten Ingenhoven-Illustrationen, die nichts mehr mit dem geplanten Dunkelbau im Untergrund zu tun haben. Der clevere Ingenhoven hat sie ins Netz gestellt, und da die Medien am liebsten das verwenden, was nichts kostet und keine Arbeit macht, werden eben diese zur vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit angebotenen Skizzen fröhlich ins Bild genommen. Man macht sich zum naiven Handlanger des Architekten. Genauso, wie bei dem überwiegenden Gefasel von Politikern, das unkommentiert gesendet wird. Von Fernsehredakteuren erwarte ich nichts mehr. Sie schwimmen an der Oberfläche der Nachrichten wie Öl auf dem Wasser. Schillernd bunte Bilder statt Fakten-Vermittlung, das ist ihr Metier. Von wenigen Ausnahmen, etwa die hart fragende Marietta Slomka beim ZDF, einmal abgesehen. Gute Fernsehjournalisten sind extrem selten geworden.
Recherche wäre leicht. Wer dieses Dokument des Eisenbahnbundesamts zur Sicherheit in Tunneln durchliest, stößt auf zahllose weitere Punkte, die ohne großen Aufwand untersucht werden könnten: Die Fahrbahn in Tunneln muss für Straßenfahrzeuge befahrbar sein, wenn bei parallel verlaufenden Tunnelröhren eine Rettung über die jeweils benachbarte Tunnelröhre vorgesehen ist, heißt es da. Straßenfahrzeuge müssen die Tunnelenden erreichen können. Wie, bitteschön, soll das in dem neuen U-Bahnhof Stuttgart Hbf erfolgen? Was ist mit den Rettungswegen, den Zufahrten? Fragt da mal einer nach? Bei 66 km Tunneln. Ach, wird schon gutgehen. Was für eine peinliche Ignoranz, liebe Kollegen!
Der Stern schildert die Abwesenheit aller Planungen für Oberleitung, Signale und Sicherungssysteme. Klar, die kann man noch später planen, wie die Deutsche Bahn abwiegelt. Aber man muss sie einplanen, weil sie Geld kosten und Platz brauchen! Die DB, erzählten mir Insider, wolle kein ETCS, weil ihre auf Hochgeschwindigkeitsstrecken vorhandene Linienzugbeeinflussung LZB in vielerlei Hinsicht die selben Funktionen hat. Die DB muss aber ETCS einbauen, weil es die EU so will und es nur dann Fördergelder für die Neubaustrecken gibt. Denn der grenzüberschreitende schnelle Güterverkehr ist darauf angewiesen und genau der Eisenbahnverkehr mit dem größten Wachstum. Güterverkehrsmagistralen sind das Thema europaweit. Niemand fährt 9 oder 15 Stunden mit der Bahn durch Europa. Zumal dann, wenn das Fliegen weit schneller und billiger ist.
Die vielen Beteiligten an ETCS aus ganz Europa haben sich endlich auf brauchbare Protokolle verständigt, die in Richtung eines einheitlichen Standards gehen. Ein ETCS-gesteuerter Zug müsste aber allein für die Stuttgarter Tunnelei neben der LZB zusätzlich eine teure ETCS- Ausrüstung an Bord haben, die zu allem Überfluss heute noch in jedem EU-Land, das befahren wird, extra zugelassen und modifiziert sein muss. Und, in der Tat: In Deutschland gibt es außer einer Handvoll Versuchsfahrzeugen keine Lok und keinen Triebwagen mit ETCS. Schon gar keine S-Bahnen.
Im Klartext bedeutet das: Die Tunnel müssen mit ETCS und LZB ausgerüstet werden, weil beide Systeme noch ein, zwei Jahrzehnte parallel existieren werden. Auch dann noch, wenn 2025 oder 2030 die Tunnel, wenn überhaupt, fertig wären. LZB benötigt aber an Gefahrenpunkten zusätzlich Lichtsignale. Die S-Bahnen brauchen sogar überall Lichtsignale, wenn ich mich nicht täusche. Und diese großflächigen Tafeln brauchen Platz, um eingebaut und gesehen zu werden. Das winzige Tunnelprofil, das ja auch noch in sehr engen Kurven verlegt ist und alles andere als eine Hochgeschwindigkeitsstrecke ist, reicht also nicht aus.
Eine Oberleitung ist nicht einfach ein Draht. Ein Tragseil hält die Fahrleitung, die durch simple Gewichte, die Platz brauchen, gespannt werden muss. Eine Oberleitung braucht einigen Platz in der Höhe, etwa 1,5 m. Bei wenigen ausländischen Tunneln und im Berliner Hauptbahnhof griff man deshalb zu Stromschienen. Die sind für 160 km zwar schon einmal im Simplontunnel (auf nur einem Kilometer) getestet wurden, aber nicht zugelassen. 15.000 Volt dicht unter einer nassen, dank Anhydrit sich bewegender Tunneldecke sind kein Spielzeug. Fazit: Wer einen Tunnel ohne Oberleitung plant, dem hat man, auf gut Schwäbisch, ins Hirn geschissen.
Ein bisschen Hirn muss bei einigen Verantwortlichen ja wohl vorhanden sein, auch wenn ich es kaum noch glauben mag. Die irrwitzige, frei erfundene Behauptung, dass die Zukunftsfähigkeit von Baden-Württemberg von Stuttgart 21 abhänge (wie Innenminister Rech mehrfach sagte), scheint die Hirne von Bahnvorständen und Politikern allerdings mit dickem, schwarzen Baumaschinenruß narkotisiert zu haben. Hirne kurz vor der Stilllegung? Große Visionen können leider auch wenig Hirn berauschen, zumal im Zweifelsfall für die Unterstützer der lokalen Wirtschaft noch etwas Bakschisch abfällt.
Wie sagte Antoine de Saint-Exupéry: Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Bauunternehmer, Architekten und Regierende (Typ: Schlaule = schwäbisch für Schlaumeier) haben ihren Parteien und Wählern ebendies eingeredet. Sich selbst wahrscheinlich auch. Doch solche Sehnsüchte sollten sich nach 15 bis 20 Jahren gelegt haben. Vor allem dann, wenn sich die Zeiten geändert haben. Ein Bahnhof unter der Erde ist kein vorzeigbares Monument der Modernität.
Stuttgart 21 zeigt nur, dass man etwas zu verbergen hat in der Autostadt. Um sich den eigenen Provinzkaspergeist von vermeintlichen Stararchitekten und Investoren, die mit der Attitüde des Weltmannes auftreten, füllen zu lassen. Geschmack und Weltläufigkeit kann man aber bei Menschlein, die in Sigmaringen, Pforzheim und Östringen geboren wurden und nie über Stuttgart hinausgekommen sind (von den Porsche-, Daimler-, Trumpf- und Stihl-Messeständen in Shanghai, Hannover, Frankfurt und Detroit einmal abgesehen), nicht erwarten. Solchen Kleinbürgern redet ein eloquenter Düsseldorfer mit Powerpoint binnen Minuten das bombastischste Bauprojekt ein. Zumal es sich ja von selbst finanziert. ;-) Politiker dieser außergewöhnlichen Qualität glauben auch an ein perpetuum mobile, wenn man es ihnen mit schicken Fremdworten erklärt.
Der Stern präsentierte hier nur zwei der vielen Belege, dass die Kosten geschönt und unrealistisch heruntergerechnet wurden. Belege, dass hier Betrüger am Werk sind. Manche sprechen bereits von Politkriminellen. Es ist Betrug an sich selbst, an den Parlamentariern, an den Instanzen und den Wählern.
Rational denkende Menschen würden erst recht nach den Ereignissen vom Freitag sofort einen Baustopp einlegen und neu rechnen lassen. Denn es spricht einfach alles dafür, dass das Projekt aus Kostengründen im Sande bzw. Anhydrit verläuft und eingestellt wird. Ohne die Tunnel ist der U-Bahnhof aber nicht zu betreiben. So einfach ist das.
Aber lieber zerstören Politiker und ihre naiven Freunde bei der DB schon mal den Bahnhof, den Park und den Glauben in unseren demokratischen Staat. Zu Lasten der Steuerzahler, versteht sich.
(Railomotive; Eisenbahn-Blog Friedhelm Weidelich Fachjournalist)