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2. September
Auch wenn damit zu rechnen ist, dass der Autor selber alt werden könnte, er will es nicht werden und so schon gar nicht.
Heute sitze ich bei einem gestressten Alfred im Bistro an der Theke und wir schlagen mutwillig die Zeit tot.
Zuerst versuchen wir es, indem wir Alfreds Armbanduhr ausgiebigen Tauchversuchen in den Bierresten von gestern unterziehen. Aber ausnahmsweise scheint die Aufschrift Waterproof nicht nur einem reinen Werbecharakter zu entsprechen, sondern eine Sachaussage darzustellen.
»Das funktioniert nicht.«, lege ich fest und frage Alfred: »Hast du irgendwo einen Hammer rumliegen?«
»Hammer nicht,...«, greift der unter die Theke, »...aber das da.« und kommt mit einem Aluminium-Baseball-Bat in der Hand wieder hoch. »Hilft dir das?«
»Sicher.«, bestätige ich, exponiere Alfreds Uhr und zermahle sie beherzt zu glitzerndem Metallstaub mit Quarzglaseinlage.
Alfred stellt fest. »Wirkt nicht.« und weist mit ausholender, umfassender Bewegung auf den zähen Fluss der Passanten vor dem Fenster mit den gerüschten Kaffeehausgardinen.
»Hab‘ ich mir fast gedacht. Hat aber trotzdem Spaß gemacht.« Ich stehe auf, richte mich zur Toilette aus und rufe im Abgehen: »Geh‘ nicht weg. Bin gleich wieder hier. Falls es noch ein Gleich gibt.«
»Kein Problem!«, ruft mir Alfred nach, wie er es immer tut, wenn er was nicht verstanden hat.
In weniger als zwei Minuten bin ich dann auch zurück und Alfred war in der Zwischenzeit zu einem lustlosen Gläserspülen übergegangen.
»Schade, dass es nicht geklappt hat.«, setze ich unser unterbrochenes Gespräch fort und spiele mit der Baseball-Keule, die übrigens hervorragend in der Hand liegt. »Habe immer gedacht, dass man mit so einem Ding...«, ich lasse das Bat mit Wucht in die Theke einschlagen: »...so ziemlich alles klein kriegt.«
Alfred wirft mir das Abtrockentuch zu: »Haste ja auch. Nämlich meine Uhr. Und als Ersatzleistung kannst du die Gläser polieren.«
»Du bist doch nicht etwa sauer deswegen?«
»Nein. Aber in Eile. In 15 Minuten kommt eine Gesellschaft.«
Während ich sorgfältig ein Standard-Schnapsglas ausreibe, frage ich nach: »Und deshalb versuchtest du die Zeit totzuschlagen?«
»Naja, der Abend gestern war ziemlich lang. Und ich bin noch nicht so ganz fit heute.«
Ich suche mir sorgfältig das nächste Glas aus, einen Kognakschwenker der minderen Sorte mit Werbeaufschrift. »Ihr müsst ganz schön durcheinandergetrunken haben, zumindest legt die Gläservielfalt diesen Verdacht nahe.«
»Kann sein. Ich weiß das nicht mehr so genau.« Alfred spült die Zapfhähne. Als er wieder, mit hochrotem Kopf, unter Theke hochkommt, schnauft er: »Aber es hätte schon was Reizvolles. Man lässt einfach mal so die Zeit stehen. Und holt das Leben endlich wieder ein.«
»Nicht ganz unrichtig. Aber wenn das jeder machen könnte? Das ganze Universum im Stop-and-go-Betrieb. Nee du, lieber nich.«
»Sollte vielleicht nicht jeder machen können. Aber die, die es wirklich nötig haben. So wie eine Kur. Man hat den Anschluss verloren und bekommt sechs Wochen Time-Out zum Aufholen, zum Beispiel auf Krankenschein.«
»Und die Politik nimmt sich der Zuteilung an.« Ich spucke mein für diesen Zusammenhang reserviertes, im Halse steckenbleibendes Lachen. »Stell dir das mal vor. Der kleine Hans verkauft freihändig an die Meistbietenden Berechtigungsscheine und Gerhard sowie Helmut legen fest, wer oben auf den Listen steht.« Ich greife über Theke, das grade polierte Bierglas in der Hand: »Das halt ich nüchtern nicht aus. Mach voll, aber schnell.«
Bevor Alfred meiner Forderung nachkommen kann, geht die Tür auf und das gemischte Festkomitee unseres örtlichen Seniorenkomplexes betritt im Gänsemarsch, sorgfältig die Gehhilfen im Gleichschritt setzend, das Bistro.
»Ist das deine erwartete Gesellschaft?«
»Ja.«
»Dann haste dein Ziel doch noch erreicht. Wegen denen steht in unserem Land doch schon die ganze Zeit die Zeit still.«
6. September
Schweigen ist Gold,
Reden ist Silber,
Demokratie ist was?
Heute setzt die Regierung unvermittelt eine Schweigewoche unter dem Motto Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht! an.
Den konkreten Anlass dazu gaben sicherlich die vorlauten Äußerungen eines nach Europa abgeschobenen Hinterbänklers, der öffentlich über eine zukünftige Volksabstimmung nachdachte. Aber in unserem Gemeinwesen herrscht schon immer ein starker Hang zur Bürgerbegrenzung.
Ab sofort also ist das Reden bei Strafe verboten, besonders das Reden über politische Themen, das soll dann wohl die Luft über den Stammtischen klären, in der das häufige Auftreten brauner Nebelschwaden vermutet wird, unser Gerhard, Kreisvorsitzender mit ansprechendem Medienprofil, schlägt gerne zwei Fliegen mit einer Klappe, oder auch drei oder auch einen seiner Adjutanten.
Wir aber, die betroffenen Bürger, behelfen uns, krampfhaft gesetzestreu und schweigend, mit einer spontan erfundenen Zeichensprache, deren indirekte Verständigungsmittel sich allerdings als unzuverlässig und unvollkommen erweisen, die Missverständnisse häufen sich.
Auch die stillschweigende Einführung einer Zettelwirtschaft schafft nur kurzfristig Erleichterung, dann bricht dieses System unter der Last der hinterlassenen, schriftlichen Beweise zusammen. Überall liegen Papierfetzen mit der Aufschrift Das habe ich nie geschrieben! oder Und das hier? Ist das etwa nicht deine Schrift? herum und die Menschen gehen sich mürrisch aus dem Weg.
Um die Mittagszeit wird ein Pärchen in einem schlecht beleuchteten Lokal bei einem mündlich vorgetragenen Heiratsantrag erwischt und, unter reger Beteiligung, auf dem Marktplatz gesteinigt. Die verwendeten Pflastersteine tragen alle sie identische Aufschrift Warum die und wir nicht?, wobei bis zum Abend nicht zu klären ist, aus welch defätistischer Quelle diese offensichtlich beigestellten Utensilien stammen, unsere paranoiden Verschwörungstheoretiker verweisen auf die üblichen Verdächtigen wie Freimaurer, Banken, Regierung und Sozialamt, vereinzelt aber tauchen in der Folge in aufgelassenen Herrentoiletten Graffiti in der Form Ich war‘s auf, was auch nicht grad zur Klärung beiträgt.
Wie auch immer, wir entdecken am frühen Nachmittag, dass verschärftes Trinken auch ohne verbale Kommunikation funktioniert und versammeln uns um die örtlichen Theken zum Zwecke chemischer Betäubung, wenn wir schon im eigenen Lande nichts zu sagen haben, müssen wir nicht auch noch darunter leiden.
Während der Kinderstunde, die ohne Ton, aber mit Untertiteln, über die Bildschirme läuft, kommt es zu ersten, vereinzelten Verstößen gegen das verordnete Mitwirkungsverbot, immer wieder brandet der Ruf »Winke, Winke!« auf.
Die Täter werden vor die neu und gegen Rechts geschaffenen Gesinnungsschnellgerichte gezerrt, mit aller Strenge des Gesetzes verurteilt und in die wiedereröffneten Urangruben im Osten verschickt.
Unter den Zurückgebliebenen verstärkt sich die Unruhe zunehmend, es schnauft und gickst, es schluckt und hustet, es druckst und räuspert, es nähert sich vernehmlich der verbalen Artikulation, schließlich unterscheidet uns die Sprache vom Vieh und selbst das muss besser und artgerecht behandelt werden.
Wir zucken und zappeln, in uns haben sich die Erlebnisse einer scheinbar unendlich langen Zeit angesammelt und wollen mitgeteilt werden, wir haben so viel Gutes zu geben und dürfen nicht und es drängt uns die Luft gewaltsam aus der Lunge die Luftröhre hinauf, an den erwartungsvoll gespannten Stimmbändern vorbei in die vorgeformte Mundhöhle und, pünktlich zum Sonnenuntergang, bricht es melodisch aus allen Mündern: »Wir lassen uns das Reden nicht verbieten....«
Unsere vereinigten Stimmen fegen die Ordnungskräfte und Beschränkungen vom Markt, jagen sie über die Ortsrandlinie und vielleicht auch noch weiter, aber wen interessiert das schon.
Gerhard, der immer wusste, was gebacken ist, zeigt einen recht brauchbaren, zu uns passenden Bariton und darf deshalb bleiben, zumindest vorläufig.
Und wir reden alle, zugleich und durcheinander, und fühlen uns wunderbar und endlich und wirklich frei.
9. September
Wozu Verdienste? Es gibt sicher noch mehr auf der Welt.
Heute, ich sortiere gerade meine Wettscheine mit hohen Einsätzen auf ein Verspäten des Herbstlaubs, schließlich soll in jeder Katastrophe ein Gewinn verborgen sein, man muss ihn nur zu heben wissen, als draußen vor dem halben Fenster meiner Souterainwohnung ein wilder Streit losbricht. Ich erkenne die Stimmen von Gerhard, unserem medial so geeigneten Kreisvorsitzenden und Helmut, unserem heimischen Gendefekt mit der unerklärten Verdienstanrechnung.
Leider steht die billige Akustik unseres Hinterhofs einem Verständnis wirkungsvoll im Weg, und ich bin deshalb gezwungen, meinen zukünftigen Reichtum in der Sperrholzschublade meines beinamputierten Küchentischs zu sichern, an den in letzter Zeit begehrten und bewohnten Kellerabteilen vorbei, durch die vermooste Waschküche und unbemerkt in den Rücken der beiden Streithähne zu schleichen.
Sie bemerken mich auch wirklich nicht und zanken deshalb unbeeinflusst weiter.
Helmut faucht, und das hört man von ihm selten: »Dieser Titel gehört mir. Nur mir!«
Was Gerhard in seiner zurücklehnend artikulierenden Art gemütlich kontert: »Aber ich hab‘ ihn angetragen gekriegt. Ich. Und. Nicht. Du!« Er stopft diese letzten Worte geradezu in Helmuts Richtung, der schluckt sie auch vernehmlich.
Dann hat er für die Entgegnung ausreichend Luft gesammelt: »Weil du ihn mir gestohlen hast. Wie auch mein Amt. Und mein Denkmal. Und was sonst noch alles.«
Gerhard lehnt sich sprachlich noch weiter zurück, falls das überhaupt möglich ist und serviert boshaft unaufgeregt: »Wenn ich dich richtig verstanden habe, warst du so überlebensgroß, dass du dich nur noch selbst zu Fall bringen konntest. Was du ja dann auch erfolgreich gemacht hast.«
Mich hält es nicht mehr, ich klatsche Beifall.
Die Beiden stürzen auf mich los und bilden spontan eine Koalition: »Wer hat dich denn gefragt?«
Ich weiche vor dieser Machtansammlung zurück und versuche mich rauszureden: »Ihr wart so öffentlich, da konnte ich gar nicht anders. Ich musste einfach zuhören.« Die beiden Politiker beruhigen sich und ich falle in meine normal vorlaute Art: »Um was geht‘s denn eigentlich?«
Helmut schnaubt: »Der...«, er zeigt mit einem vorsätzlich nackten Zeigefinger absichtlich mitten auf Gerhard: »..., der hat mir meinen Titel geklaut.«
Gerhard grinst das angestrengte Lächeln des zeitweiligen Siegers: »Man hat mich für würdig gefunden und mir den Titel angetragen.«
Bevor Helmut seine Gegenmeinung veröffentlichen kann, springe ich in die kurze Gesprächslücke: »Und um welchen Titel geht es?«
»Den Preis für...«, Gerhard dehnt diesen Moment genüsslich, während er Helmut vorsätzlich ignoriert:»...den Preis für den...«, wir bekommen noch mehr Dehnung, aber dann ist der Bogen überspannt und bricht, was heißen will, dass Helmut sich des angefangenen Satzes endlich annimmt: »Den Preis für den bestaussehensten Staatsmann halt.«
»Sonst habt ihr keine Probleme?«, rutscht es mir raus, dann aber entschuldige ich mich vorbeugend: »Wobei, und wie auch immer, in Zeiten verschärfter Medienwirkung, da könnte das wirklich ein relevantes Thema sein.«
»Genau, du hast‘s erfasst.«, koalieren die Beiden schon wieder und fordern mich dann auf: »Also! Wer von uns hat diesen Preis verdient?« Sie rücken sich in Positur.
Ich mustere die präsentierte Farblosigkeit und beschließe, mir bei dieser einmaligen Gelegenheit etwas von dem uns vorenthaltenen Spaß der letzten 18 Jahre zu verschaffen: »Das ist gar nicht so einfach. In diesen Kleidern seid ihr ziemlich gleichwertig.«
Gerhard als ein Mann schneller, aber nicht unbedingt überlegter Entschlüsse, begreift sofort: »Dann ziehn wir uns halt für dich aus. Wenn‘s zur Wahrheitsfindung beiträgt .«
»Nicht mit mir.«, blubbert Helmut.
»Verlierertyp!«, zischt Gerhard, lässt sein Designerjackett achtlos hinter sich fallen, reißt Krawatte linker- und Hemd rechterhand synchron vom Leib, stößt Anzug– und Unterhose hinab zu den Knöcheln, kickt sie sportlich zur Seite und steht, der frischen Morgenbrise einschrumpelnd Tribut zollend, blankgezogen vor uns.
»And the Winner ...«, setze ich grade an, als ich sehe, wie Helmut sein Jackett sorgfältig gefaltet neben sich auf den Boden legt, und so frage ich ihn: »Du bist also doch noch im Wettbewerb?«
»Ich kann doch den nicht kampflos gewinnen lassen.«, schnauft Helmut, während er auf einem Bein hüpfend seine Hose auszieht.
Endlich ist dann das Werk geschafft und die Beiden bilden, die Hände vor dem unterkühlten Geschlecht verschränkt, eine kümmerlich weiße Mauer.
»Wenn ich ehrlich sein soll, und das möchte ich in diesem Augenblick ausdrücklich und wahrhaftig sein, dann werde ich das nächste Mal Verona wählen, die macht einfach mehr her als ihr. Aber wenn ihr trotzdem eine Entscheidung wollt, dahinten in der Biotonne habe ich vorhin einen angebissenen Apfel gesehen, wer ihn als Erster findet, hat den fraglichen Titel redlich verdient.«
Und ich gehe in Richtung meiner hoffnungsvollen Wettscheine ab, das brünstige Brechen einer überbeanspruchten Plastiktonne hinter mir lassend.
13. September
Immer wenn eine Idee auf ein ungestilltes Verlangen trifft, entsteht eine Massenbewegung.
Heute glaube ich diese ganze Sache hier vergessen zu müssen und suche mir den Spaß des Lebens.
Dazu starte ich bei meiner seit langem im Stillen verehrten Nachbarin einen Anbaggerversuch, der wohl auf ein ebenso langes, latentes Gegenverlangen stößt und mich so in erstaunlich kurzer Zeit bis auf ihre nackte Haut bringt. Wir knutschen und speicheln uns ganzkörpernutzend am Anderen von oben nach unten und zurück, stülpen unsere gespitzten Münder über alle zarten Hautaustülpungen und saugen, was der Nippel hält, sinken erhitzt auf den Reisstrohteppich und streben uns und dem vorbereiteten Vollzug entgegen.
Ich biege grade auf den Startplatz für das beginnende Rein unseres kommenden Rein-Raus-Spiels ein, als sie mich mit leichter Hand aufhält: »Du. Ich habe den Virus.«
Mir wird nicht so ganz klar, was sie damit sagen will und ich schaue sie aus meiner Höhe entsprechend fragend an.
Sie versteht mein Unverständnis: »In der Schublade sind Gummis.«
»Ach, du meinst Aids. Egal...«, und ich stoße in sie vor: »...ich will Spaß!«
Später und draußen stolpere ich in ein südosteuropäisches Waffengeschäft an der Ladekante eines Kofferraums und lasse mir ein Schweigen mittels einer gefüllten Pumpgun abkaufen.
Das kühle Metall des Abzugs lutscht mir meinen rechten Zeigefinger und der gratige, schwarze Kunststoff des Repetieres schneidet lustvoll in mein bebendes Fleisch. Ich will Spaß, Spaß um jeden Preis!
Die Splitter des Plastik-Abfalleimers an der Bushaltestelle treiben mir die Blutfäden auf die erhitzten Wangen und die ungeteilte Aufmerksamkeit der zufälligen Passanten zu.
Ich promote mein heutiges Motto: »Ich will Spaß!« und die Masse vor mir teilt sich in ungleich große Gruppen. Nur in den kleinen, abgesonderten Haufen an den Rändern greifen Einzelne zu ihren Handys und wollen meine Lebensfreude bei irgendwelchen unerwünschten Behörden anschwärzen.
Ich halte unter dem Beifall: »Ich will Spaß!« meiner Gefolgsleute voll drauf und beruhige die vorlauten Vieltelefonierer letal.
»Will jemand?«, beeile ich mich zu teilen, aber zu spät, die Munition und die Ziele sind alle.
Wir rufen uns ein letztes Mal: »Ich will Spaß!« über das Blutbad zu und ziehen geschlossen dem ferneren Ortsrand entgegen.
Unser Rufen und Singen erregt die zustehende Aufmerksamkeit unserer Mitbürger, man tuschelt sich grade vergangene Ereignisse zu, schließt sich immer mehr unserem Motto: »Ich will Spaß!« und unserem Zug an, lässt dafür Arbeit und Verpflichtungen liegen, wirft Werte und ähnlichen Ballast ab, springt aus dem üblichen Rahmen und über den eigenen Schatten, darf der Mensch sein, der zu sein man sich sonst nicht traut: »Ich will Spaß!«
Dann sind wir endlich weg und draußen, vor uns nur noch den weißen Sand unserer steten Träume, wir fallen uns um den Hals und in einen umlaufenden Wechselgesang: »Ich will Spaß!«
Unsere Kleider schmelzen im wüsten Überfluss unseres ariden Verlangen nach persönlichster Freiheit, die Mutigsten finden sich sofort zum öffentlichen Beischlafen, Andere sagen zum ersten Mal im Leben laut und im Beisein wieder Anderer vernehmlich: »Ficken!«, was in noch Anderen bisher unterdrückte Gelüste freisetzt, die unter Mitwirkung Dritter in wirkliches Leben umgesetzt werden, die Quote an ausgeübten analen oder orale Praktiken dürfte die höchste seit Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit durch die Evolution sein.
Die Befriedigten sammeln sich um unsere Getränkevorräte und Kraft für die hereinbrechende Nacht.
Noch später, der Mond titscht auf dem schwarzen Horizont unserer eingeschränkten Sicht sich selbst deformierend auf, schlagen grellbunte Flammen aus unseren zurückgelassenen Häusern.
Wir wehren uns: »Ich will Spaß!«
Viel später, ich liege fröstelnd alleine und kühle meinen vom allgegenwärtigen Sand wunden Penis im letzten Bier, während ich das Flackern des zufälligen Lichts der brennenden Stadt hinter mir auf den ermatteten Körpern vor mir verfolge, krächze ich ein letztes Mal für diesen Tag: »Ich will Spaß! «
Dann schlafe ich ein, denn Morgen wird ein neuer Tag und wir werden sicher viel Spaß haben.
16. September
Früher, als mobil telefonieren noch in Zellen stattfand, hingen überall Plakate mit dieser Forderung, Zu freundlichem Bitten hat es halt damals noch nicht gereicht, unser Land war arm.
Heute, wo uns das leisten könnten, schaffen wir die Zellen ab und stressen uns mittels permanenter Erreichbarkeit.
Und irgendwo dazwischen fiel diese Satire durch den groben Rost der wirklichen Welt.
Heute fallen mir schon beim Einschalten des Notebooks immer wieder die Augen zu und ich gleite in überfällige Entspannung ab.
Von überall kommen schwarze Punkte und umzingeln meinen Rest an Wachsein.
Mir fällt noch nicht mal mehr die Pointe zu meinem Standardwitz ein und so bleibt mir nur noch der beschämte Weg ins nahe Bett, schlafen bis nächsten Mittwoch oder bis ich von alleine aufwache, was immer auch zuerst eintreffen will.
20. September
Wir sind unaufhaltsam auf dem Weg in die moderne Dienstleistungsgesellschaft.
Und zwar in allen Belangen des täglichen Lebens.
Heute wache ich an dem Gedanken auf, ob ich dieses Leben denn wirklich haben muss?
Während meines frugalen Frühstücks treffe ich die nötige Entscheidung und bin dann sehr zufrieden mit mir.
Ich habe noch die Krümel schmerzhaft an den freien Zahnhälsen kleben, als ich auch schon meinen Chef anrufe: »Morgen. Ich will dann nur mal sagen, dass ich jetzt nicht mehr komme. Alles Gute auch noch für die hinterbliebenen Kollegen.«
Mein Chef, ein Choleriker reinsten Wassers mit einer Beschleunigung von Friede, Freude, Eierkuchen bis Amok in Null-Komma-Nix, blafft umgehend: »Dir schneid ich den Schnuddel ab.« und meint damit den firmeneigenen Internetzugang. »Und dann sorg ich dafür, dass du in diesem Land nirgends mehr arbeitest.«
»Kein Problem.«, reize ich ihn noch ein wenig: »Hab‘ schon immer einen Zweitprovider mit Flatrate für den Notfall. Und das mit dem Arbeiten, für so was hab‘ ich in meiner geplanten Zukunft einfach keine Zeit. Schönen Tag noch.«
Dann mache ich mich dran, den anderen Beziehungsteil in meiner Existenz zu kappen, fahre dazu das Notebook hoch und beginne sorgsam eine feinfühlige Mail zu schreiben.
Endlich habe ich dann die unumgänglichen Härten der Mitteilung semantisch ausreichend entschärft und lese befriedigt den entstandenen Text:
Meine Liebe!
Wie es halt immer so geht, es muss geschieden sein.
Und zwar sofort und jetzt.
Es ist nicht deine Schuld, also sei nicht allzu traurig.
Und immer dran denken, das Leben ist ungerecht,
besonders zu den Guten.
Gruß!
Dein EX!!!
Diesen Satz am Schluss über die Ungerechtigkeit des Lebens finde ich besonders gut gelungen, tief und tröstend, hoffe, dass sie ihn so nimmt, wie er gemeint ist.
Ich klicke den Sendebutton und schaue zu, wie mein Abschied durchs Netz zugestellt wird.
Dann holt mein Programm über hundert Schmähbriefe meines Ex-Chefs aus der Mailbox, die alle den Tatbestand der Beleidigung erfüllen würden, hätte ich die Zeit und Lust, sie an den zuständigen Staatsanwalt entsprechend kommentiert weiterzuleiten , aber auch für so was habe ich keine Zeit.
Hinter den Schmähmails liegt noch eine kurze Antwort meiner Ex: Du Schwein!
Ich stecke den gesamten Inhalt meines Adressbuchs in meinen Mailfilter und ihre gesammelten Worte komprimiert ins Archiv, schließe damit diesen Teil dieses, meines nur noch kurzen Lebens endgültig ab.
Mit einer überregionalen Lebensmittelkette vereinbare ich einen Dauerauftrag über die Lieferung einfach zu garender Lebensmittel, melde mich noch kurz arbeitslos, löse mein Aktiendepot zu Gunsten meines überzogenen Girokontos auf, schreibe gleichlautende Abschiedsmails an alle relevanten Verwandten, hänge einen Zettel außen an die Wohnungstür: Bitte nicht stören! Lieferungen einfach abstellen. Mir geht es gut., verschenke meine noch Tage gültige Monatskarte an die arbeitslose Nachbarin, lasse sämtliche Rollläden lautstark in ihre geschlossenste Position fallen, schalte den Fernseher ein und ploppe mich auf dem Rechner nach bigbrother.de.
Und da erscheinen sie auf den Monitoren, diese wunderbaren Leute, die ab sofort mein Leben für mich leben werden, vollgepackt mit Aufregung, Glanz und großen Momenten, dieses Leben halt, welches mir das Leben bisher immer boshaft versagt hat.
23. September
Lassen Sie sich keinen Bären aufbinden.
Der Sachverhalt ist längst nicht so kompliziert und vollkommen anders.
Heute, vor meiner einzigen Dachluke fetzt gerade ein surrealer Streit um die soziale Gestaltung des Benzinpreises , straft ein tauber, schwarzgrauer Novembermorgen den Kalender mit seinem aufgeschlagenen, spätsommerlichen Septemberblatt plumpe Lügen.
Ich wische den feuchten Beschlag von der Scheibe und stelle einzelne, amorph geballte Schneeflocken im freien Fall fest. Unten, am Dachsaum, ballen sich weiße Grüppchen, bevor sie sich schmelzend zu ihren Vorfahren in der Dachrinne versammeln. »Kein Zweifel.«, und ich wische ich mir den kalten Vorschweiß der unausweichlichen Grippe von der skeptisch gefältelten Stirn: »Der Winter ist da. Was aber,..«, frage ich mich, während ich die Stiefel hinter dem Porzellansitz der Toilette hervorkrame: »...ist aus dem Spätsommer und dem Herbst geworden.« Dann stapfe ich nach draußen und dort durch die beginnenden Schneeverwehungen.
Die Uhr vor dem Supermarket zeigt abwechselnd eine Temperatur um den Gefrierpunkt und späten Vormittag an. »Zu kalt und zu dunkel.«, lege ich fest und flüchte in das Gebäude.
Die Verkaufsstrategen haben mal wieder zugeschlagen und alle Artikel zufällig umgruppiert, sie wollen damit kundenseitige Gewöhnungseffekte vermeiden. Ich finde den Rum nicht, den ich immer zu Winteranfang kaufe.
»Wo habt ihr diese Woche den Sprit stehen?«, rufe ich Alfred, unserem örtlichen Marketender, zu.
»Gleich dahinten links.«, zeigt er vage in die Richtung: »Bei den Weihnachtssachen.«
»Wieso Weihnachtssachen? Wir haben September.«
»Nach der Urlaubszeit kommt die Weihnachtszeit.« Alfred ordnet sein reichhaltiges Sortiment: »Lebkuchen. Marzipan. Christstollen. Nein, falsch, das heißt ja jetzt Butter– oder Persipanstollen. Wir sind ja schließlich korrekt. Und Spekulatius. Trockengebäck geht immer gut. Dazu Winterpullis, Streusalz, Schneeschaufeln, Eiskratzer und, wichtig in einem Zeitalter zunehmenden Durchschnittsalters, Angoraunterwäsche.«
»Aber doch nicht im September. Das bedeutet Spätsommer, manchmal noch 28 Grad im Schatten, letzte Abende im Freien und Frauen in Tops mit so weiten Armausschnitten, dass man bis zu den Nippeln sieht. Was will ich jetzt mit Angoraunterwäsche? Ich brauch Grillkohle.«
Alfred umfasst mit einem Blick den wilden Schneesturm vor seinem Schaufenster: »Ist das etwa kein Winter. Wir passen uns nur an.« Er zählt mit der Linken den gestreckten Zeigefinger der Rechten: »Da wäre, erstens, Ostern, also Waffeleier, Osterhasen und Ziergras. Dann kommt, zweitens, Urlaub, wo wir mit Luftmatratzen, Badetüchern und Brustbeuteln für die gefährdete Urlaubskasse dabei sind. Anschließend, drittens, Weihnachten, was sich unschwer an Spritzgebäck, Wachskerzen und Nikolausmützen erkennen lässt. Ist doch rund, oder?«
»Gab‘s früher nicht mal vier Jahreszeiten? So was wie Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter?«
»Wenn ja, dann war das eine ziemliche Verschwendung.« Alfred schüttelt verständnislos den gedankenschweren Kopf. »Was hätten wir schon im Herbst verkaufen können.«
»Drachen vielleicht?«
»Ist kein richtiger Markt. Der Anteil an Heimwerkern ist dabei viel zu groß, da kommen wir nie über die Gewinnschwelle.«
Ich trete den dünnen Schneefaden zwischen uns zu einem platten Schneebrett: »Hast du dir eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, dass sich unser Klima an eure voreilende Verkaufsgewohnheiten anpassen könnte?«
»Nö. Aber wenn du das so sagst. Man könnte es wirklich meinen.« Alfred teilt mein Schneebrett mit dem scharfen Rand seiner Designersohle in drei gleiche Teile.
»Dann lass uns einen Versuch starten. Hast du noch was vom Sommer übrig? Schwimmflügel, Bikinis oder Sonnencreme?«
»Klar.«
»Dann lass es aufbauen. Anstatt der Weihnachtssachen.«
Alfred kann managen, das Warenangebot wendet sich unter seinen Anweisungen schnell ins Sommerliche.
Draußen vor dem Fenster strahlt eine volle Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel.
»Dann waren wir das also.«, stöhnt Alfred schuldbewusst auf.
»Tja.«, stimme ich ihm zu. »Der Einzelhandel als Verursacher der Klimakatastrophe.«
27. September
Sicherlich wird sich die Tatsache, dass wir eine Republik haben, in den kommenden Generationen unter den zuständigen Staatsdienern herumsprechen.
Heute findet, mal wieder, auf unserem Marktplatz eine der beliebten, weil kostenlosen, öffentlichen Abstrafungen statt.
Der Platz füllt sich lange vor der angesetzten Zeit, schließlich meint kostenlos, dass keine Plätze erworben oder erschlichen werden konnten und das wiederum bedeutet, dass wir einem ungewohnten Leistungsprinzip ausgesetzt werden, aber wer fremde Leiden sehen will, muss sich halt Quasidemokratie stellen.
Meine sonst so diskriminierungsanfällige Leibesfülle verhilft mir nach dem Eisbrecherprinzip schnell in die erste Reihe vor die provisorisch aufgestellte Bühne. Ich vertreibe mir die Wartezeit mit der Kenntnisnahme der Sponsoren des kommenden Events und versuche dabei die Motive der Entscheidungsgremien auszurechnen:
JuniorManager1: »Also ich finde das gut.«
JuniorManager2: »Also ich weiß nicht recht.«
SeniorManager: »Die Nähe zur Macht ist immer gut. Das hat so was Seriöses.«
JM 1 + 2: »Genau!«
An dieser deprimierenden Stelle angekommen, beginne ich zu hoffen, dass ich mit meinen Überlegungen nicht recht habe, aber das hatte ich schon mehrmals - das Hoffen.
Oben bewegt sich endlich was, wie immer zu spät und zu schwach, aber wir sind in diesen Zeiten verknappter Aussichten leicht zufrieden zu stellen. Also spenden wir ermutigenden Beifall, als Bodo, unser Advokat fürs Grobe, unerwartet aus dem fahlen Hintergrund in die politische Frontlinie zurückkehrt. »Hallo, Leute.«, volkstümelt er, ein probates Mittel in Zeiten zunehmender Veralterung, weil Überalterung ist nicht korrekt und einen Namen muss dieses Erscheinung ja haben, der wir täglich auf allen Strassen begegnen. »Hallo, Leute.«, wiederholt Bodo und dann fängt er wirklich an: »Furchtbare Dinge tun sich in unserem Land. Dinge, über die ein anständiger Mensch nicht reden mag, geschweige redet. Dinge, die so abstoßend sind, dass die zuständigen Richter die Öffentlichkeit nicht nur von der Verhandlung, sondern auch von Tat, Motiv und Gelegenheit ausschlossen. Dankenswerterweise haben sie uns die Bestrafung gelassen. Und dies auch noch im Steigerungsfalle einer öffentlichen Veranstaltung. Wir danken deshalb...« und Bodo zählt alle Beteiligten auf, er fängt im Justizministerium an und betet sich bis zum Würstchenverkäufer an der Ecke runter.
Endlich, mit: »Und so kommen wir.. « fällt das Stichwort für die Büttel und sie schleppen den Delinquenten auf die Bühne.
»Verurteilt im Namen des Volkes..«, was in den hinteren Rängen Heiterkeit erregt: »wg. unaussprechlicher Verbrechen, vollziehen wir hier und heute das Urteil.«
Sie reißen dem jungen Mann die Kleider vom Leib und machen selbst vor seinem CK-Slip nicht halt. Die anwesenden Damen (Nicht die Frauen) glucksen und halten Sichtkontakt, wobei die kalte Luft über unserem Markt ihnen ziemlich schnell den Spaß verdirbt.
Der Oberbüttel verteilt Handschuhe, Deckenbürsten und gebrauchte Farbeimer an seine Unterbüttel und dann fassen sie aus dem dampfenden Vorratsgefäß am Bühnenrand zähflüssiges Tiefschwarz.
»Los geht‘s.«, schallt das Kommando und der junge Mann wird von oben nach unten gleichmäßig schwarz eingefärbt. Der Vorgang läuft ruhig und gesittet ab, egal, was man uns abfordert, wir ertragen es mit Anstand.
Irgendwo links intoniert ein linksrheinischer Kegelklub im fortgeschrittenen Stadium »Zeig noch mal die Möpse.«, was nicht ganz passend scheint, aber die Stimmung doch ziemlich auflockert.
Oben auf der Bühne stopfen 5 unterbezahlte Krankenschwestern den geteerten Jungen in ein gebrauchtes Federbett, das sie aus dem Sterbezimmer am Ende des langen Krankenhausflurs mitgehen haben lassen.
Neben mir sagt eine sonore Stimme: »Da wird die Andrea aber wieder Löcher ins Budget kriegen.«
»Sag mal, Gerhard, du unser medial so erfolgreicher Chef«, drehe ich mich zu ihm um: »Was hat der arme Kerl da oben eigentlich getan. Du kannst es mir ruhig sagen, ich erzähl‘s garantiert nicht weiter.«
»Also, das ist ja ganz lustig. Er hat ein Bild von mir auf eine Dartscheibe geklebt. Und dann die Leute kostenlos werfen lassen.«
»Verstehe.«, nicke ich zustimmend. »Und das kannst du dir natürlich nicht bieten lassen und hast Anzeige erstattet.«
»Ich? Nee. Hab‘ ich doch gar nich nötig. Wofür gibt es schließlich eifrige Staatsdiener, die dazu noch im vorletzten Jahrhundert denken.«
30. September
Da war dann noch die Sache mit der Farbe des Grases.
Heute, ich suche unseren örtlichen Einzelhandel nach übriggebliebenem, billigen Salatöl als Dieselersatz ab, stoße ich auf Gerhard und Helmut , wie sie mit Hilfe ihrer steuerfinanzierten, gepanzerten Limousinen den knappen Parkraum zwischen Bürgermeisterei und Supermarket freipressen.
Sie wenden die übliche Leberwurstmethode an und drücken die erbosten Besitzer noch nicht abgelaufener Parkscheine mitsamt zugehörigen Fahrzeugen unter Billigung vereinzelter Blechschäden durch die Ein– und Ausfahrt auf die eh schon überfüllte Straße. Der kleine Hans verwehrt hartleibigen Fahrern die Rückkehr auf die leere und damit Begehrlichkeiten weckende Fläche mittels der freihändigen Androhung jährlicher Buchprüfungen und erzielt Erfolge, die unser Steuerzahlerbund noch nicht mal in drei Schwarzbüchern unterbringen würde.
Endlich ist der Platz vollständig geräumt und Helmut (Ausfahrt) sowie Gerhard (Einfahrt) weisen den reichlich auftretenden Baumaschinen den vorgedachten Weg.
In der hinteren Ecke fräst ein junger Verwandter der Braunkohle-Tagebau-Bagger die im Frühjahr neu aufgebrachte Teerdecke mitsamt den marmorierten Parkbuchtbegrenzungen im Akkordtempo weg und entsorgt sie in einem flüssigen Arbeitsgang auf die im Schritttempo defilierenden Abraum-LKWs.
Dann schaltet der Operator an seinem Joystick einen Gang tiefer und fördert den schwach vergorenen Müll früherer Generationen, unsere Vorfahren waren schließlich auch keine Habenichtse. Wir schauen einfach weg und warten auf satte Plappen jungfräulicher Lehmschollen, dass sich auch einstellt, sobald das Schaufelrad unterhalb des Steinzeitniveaus angekommen ist.
Dann hebt Gerhard einhaltgebietend die Hand, was Helmut so nicht auf sich sitzen lassen kann, weshalb er auch die Hand hebt, die Beiden entwickeln in der Folge einen Wettbewerb im einarmigen Händeschütteln und Fingerschnippen wie zwei gedopte Musterschüler unter Notenverbesserungszwang. Der Baggeringenieur begreift aber dann ohne weitere Anweisungen den Sinn der zweiarmig vorgetragenen Übung und stoppt sein Gerät, nur wenig noch und wir wären preisgünstig Zaungäste der Olympiade auf den Antipoden in Sydney geworden.
Aus dem über uns störend kreisenden Propellerflugzeug fällt ein Knäuel Mensch, welches sich zu einer offensichtlich einstudierten, symmetrischen Formation entwickelt und dabei in deren freien Innenraum ein azurblaues Gewebe aufspannt. Die Plane bläht sich zum bremsenden Schirm und der schnelle Sturz wird zum kontrollierten Fall.
Nur einer stürzt noch alleine und frei, dann reißt er an seinen Gurten, worauf sein Schirm aus der Verpackung springt, entfaltet und ihn, den Springer, sanft in der Mitte der neuen Grube absetzt. Der Trupp mit der Plane landet nur unwesentlich später, ordentlich um den Grubenrand herum verteilt. Die alarmierte Feuerwehr befreit Jürgen von der unerwünschten Bedeckung durch die azurblaue Teichfolie und das große Werk schreitet zügig fort.
Helmut dirigiert die Wagen mit dem weißen Quarzsand, der rund um die Folie abgekippt wird, der kleine Hans zieht das Ganze glatt und Gerhard mischt in der Zwischenzeit den Inhalt der jetzt versiegelten Grube an: warmes Wasser + blaue Farbe, eine Handvoll Kolibakterien, dazu Quallen, Seeigel und Stichlinge.
Jürgen, der sich zum wiederholten Male wieder erholt hat, übernimmt die Steuerung der Hubschrauber mit den Stahlgittermasten, die großflächige Höhensonnen tragen. Ein befreundetes Möbelhaus arrangiert noch schnell die üblichen Strandmöbel und schon bietet sich uns ein kleines Paradies mitten in unseren gewohnten Grauheit.
»Warum in die Ferne schweifen..«, beginnt Helmut und Gerhard setzt nahtlos an: »...wenn das Gute liegt so nah.«
»Komm, wir machen die Nagelprobe.«, zeigt Helmut auf einen einzelnen Mann, der gerade das Reisebüro auf der anderen Straßenseite verlässt.
»Genau.«, stimmt Gerhard zu und brüllt über den fließenden Verkehr: »He, Sie! Kommen se mal rüber.«
Der Mann, ein guter Bürger, gehorcht widerspruchslos und sofort.
»Wohin haben Sie gebucht?«, empfängt ihn Helmut.
»Na ja, die Insel halt.«
»Und das da?«, fragt Gerhard. »Da haben Sie doch alles genauso wie auf der Insel.«
Der Mann schaut lange auf den Strand, dann, noch länger, auf Helmut und Gerhard. Dann schüttelt er entschieden den Kopf: »Ich muss weg!«
4. Oktober
Man hört in letzter Zeit von starken Männern und deren möglichen Aufräumungsarbeiten.
So geht das aber nicht!
Heute, ich spüre immer noch das parteipolitische Ziehen in den Zahnwurzeln vom vergangenen Feiertag, besteige ich einen zufällig vorbeikommenden Bus und fahre aufs Land.
Draußen färben sich die verbliebenen Blätter an den bereits seit zehn Jahren überfälligen Bäumen und mahnen an die Vergänglich– und Fehlbarkeit ideologisch fundierter Vorhersagen.
Drinnen krümmen sich Menschen, die an Vorhersagen erkrankt sind, nach denen sie zwangsläufig unter einer vergifteten Umwelt leiden müssen.
Ich frage mich, wer wohl mehr Opfer fordert – die vergiftete Umwelt oder die leichtfertigen Vorhersagen.
Die Sitzreihen hinter mir sind mit rüstigen Mitsiebzigern besetzt, welche in den Guten-Alten-Zeiten zumindest hinfällig oder lange tot gewesen wären.
Meine galligen Überlegungen zum weiten Thema paranoider Angstweckung als gängiges Mittel des Polit-Handwerks enden mit einem weiten Blick ins Grüne, der zwei Reihen vor mir bei einer jungen Frau in für den öffentlichen Nahverkehr eigentlich zu anspruchsvollen Kleidern endet.
Sie spannt Mund und Augen konzentriert, fährt mit der Zunge von rechts unten nach links oben, ihr höllenfeuerroter Lippenstift zeigt bereits deutliche Spuren, dann ordnet sie ihr Haar hinter das linke Ohr, macht unten, mit Händen, Undefinierbares, nickt bestätigend, das weggeräumte Haar strähnt nacheinander vor, streift flüchtig über eine gesund gerötete Wange und sie, die junge Frau, beginnt von vorn: Mund, Augen, Zunge, Haar, Ohr, Hände, Wange.
Ich lege die Unterarme auf die Lehne der freien Vorderreihe, lasse den Oberkörper unauffällig folgen, stütze das Kinn auf den gefalteten Händen ab und bekomme so freien, vollständigen Einblick in das bewusste Sitzgefach schräg vorn.
Ihr rechter Oberschenkel ist weitgehend von einer bekannten, aufgeschlagenen Tageszeitung von heute verdeckt, den Rest der Zeitung spannt die Frau, die auch als Mädchen durchgehen könnte, zwischen den Beinen fest, ein Muskel am linken, mit zugewandten Schenkel, zuckt regelmäßig. Ihre rechte Hand gleitet blickführend über den gedruckten Text der Zeitung, verharrt, gleitet weiter, stoppt wieder, diesmal länger, die Frau liest, unter sichtbarem Einschluss der Lippen, die gefundene Stelle.
Dann tippt die stiftbewehrte Linke das Resultat auf einem unregelmäßigen Kasten bestätigend nach.
Ich beuge mich noch weiter vor und erkenne, unter einer dicken Schicht Elektronikpatina, einen ursprünglichen Palmtop, ein Modell, wie ich es vor Jahren auf Yuppie-Parties, stark überteuert, als unverzichtbares Accessoire moderner Lebensführung vorwiegend an die Frau gebracht und nebenbei meine Zukunftsfähigkeit trainiert habe.
Das Gerät interessiert mich, besonders die sicherlich nicht originalen Anbauten, und dann ist diese Frau auch noch recht hübsch. Ich rücke zwei Reihen auf, erreiche damit gleiche Höhe, bin also nicht abseits, aber ungedeckt und unbeachtet.
Scheinbar spontan, zumindest spiele ich diesen Eindruck, entdecke ich das Gerät auf der anderen Gangseite und oohe zur Erregung ihrer Aufmerksamkeit.
Es funktioniert. Sie blickt von ihrer Tätigkeit auf und zu mir herüber. Erst geht die rechte, dann die linke Augenbraue in Richtung Stirn, über ihrer Nasenwurzel tieft sich eine skeptische Falte und sie fragt: »Ist was!«
»Dieses Gerät da.«, ich weise vorsichtig nach unten, nur nicht zu weit oder zu tief, nur nicht in Richtung ihrer Mitte: »So eins hatte ich auch mal.« Ich nicke bestätigend, klopfe den Anflug einseitigen Interesses fest. »Nur war bei mir nicht so viel dran.«
»Möglich.«, räumt sie die vorderste Abwehr beiseite. »Das ist zusätzlicher Speicher. Ein Bekannter von mir macht in Elektronik.«
»Sind aber...«, und ich beuge mich über den Gang zwischen uns: »...ne ganze Menge.«
»Brauch‘ ich auch.«
»Geht mich zwar nichts an, aber kommt ein so gut aussehendes Mädchen wie du zu so einem massiven Speicherbedarf.«
Sie steckt beidhändig und beidseits die dunklen, mittellangen Haare hinter ihre regelmäßigen Ohren: »Es fing in der Schule an. Unser Deutschlehrer war ein richtiger Arsch. Also schrieb ich bei Vollmond um Mitternacht auf einer dunklen Wegkreuzung seinen Namen auf eine Slipeinlage.« Sie nickt ernsthaft, nimmt mir die Gelegenheit zur scherzhaften Einrede. »Dann ging meine Liebe kaputt. Dann die meiner besten Freundin. Dann kamen haufenweise Absagen auf meine Bewerbungen. Inzwischen gingen mir die unbefleckten Wegkreuzungen aus. Außerdem war die Nachttischschublade voll.« Sie klopft auf den erweiterten Palmtop. »Mein Bekannter kam damals mit dem Ding da an. Spielte damit in Gesellschaft rum und pries es an. Ich probierte es aus und fand es gut. Besser als Slipeinlagen. Und handlicher. Ein paar Minuten unbequemen Sex und ich hatte es. Seitdem speichere ich jeden darin, der sich an der Vermehrung der Hoffnungslosigkeit öffentlich beteiligt. Politiker, Banker, Chefs, die Ärsche halt.« Sie streichelt über die aufgeklebten Speicherbänke. »Bald war das Ding voll und wir mussten anbauen. Und wieder anbauen. Und wieder. Jetzt sind wir am Ende, hat was mit Adressen zu tun oder so. Ist aber auch weiter kein Problem. Ich habe bald alle erfasst.«
»Und dann?«
»Dann drücke ich das da. Bei Vollmond auf einem Kreuzweg.« Sie zeigt auf einen mit Pflaster abgeklebten Bereich.
»Das? Was ist das?«
»Die Löschtaste.«
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