Blick vom Tellerrand Satiren für jede Gelegenheit


Darwin sei Dank! (3)

1. Juli
Fürsorge erweist sich in den seltensten Fällen als tödlich.
Aber sie ist unheilbar.


Heute, immer noch unterziehe ich mich diesem absurden Versuch einer direkten Bürgereinflussnahme, folge ich zügig der hinter dem nahen Horizont verlegen abtauchenden Sonne, lege dabei eine Spur aus abtrünnigen Schlammschnipseln auf den graniten gepflasterten Weg und pfeife mir eins - schließlich bin ich alleine.
Mein Weg folgt einem weitgehend naturbelassenen Verlauf, windet sich nachgiebig zwischen allerlei Unebenheiten, weicht unablässig aus, gehorcht der Bodengeometrie vorbeugend, indem er Platz für eventuelle, zukünftige, vertikale Erweiterungen vorsieht, sonst aber leistet mir der Weg keinen Widerstand, er zieht keine Überraschungen aus allegorischen Zauberhüten, nein, dieser Pfad scheint fair, wenn er auch weite Wege für kurze Strecken geht.
Der saure Schweiß unter meinem scheuernden Football-Panzer brennt schmerzend auf der grade freigelegten Haut, mein Helm drückt sich am verkürzend eingezogenen Genick ab und nimmt mir das eingeprägte Gesichtsfeld, die Druckstellen auf meinen Oberarmen pulsieren erinnernd im eiligen Pulsschlag, meine Beine haben alle Leichtigkeit verloren, ich sehne mich nach einem nahen Ende, gleich welcher Art.
Und dann entwickelt sich der Weg unvermittelt in einen schnurgeraden, steilen Pass. Ich beuge mich im Gehen weit nach vorn, fast schon schleifen meine Hände auf den grindigen Pflastersteinen, mit einem schnellen Schritt komme ich meinem absehbaren Fall jeweils zuvor, schneller und schneller stürze ich den Berg hinauf.
Endlich öffnet sich der kurze Sattel des Passes um mich, ich laufe einige Schritte bremsend aus und komme am scharfen Rand einer abrupten Schlucht zu stehen. Von der anderen Seite des Einschnitts grüßt, hämisch blinkend, eine rosarote Leuchtreklame: Ziel, ersehnt, selten erreicht!
Rechts von mir scheint, das verfügbare Licht lässt nur noch wenige Gewissheiten zu, die Unregelmäßigkeit des Landschaftsbruchs exakt beschnitten zu sein, ich forsche gehend nach und finde einen Pfad aus zwei gespannten Tragseilen und aufgesetzten Planken, die mir unbekannten Erbauer hielten allerdings wenig von unserem mitteleuropäischen Sicherheitsbedürfnis und dem sich daraus ergebenden Geländer.
Ich denke nach.
Unten, in den sich verhärtenden Schatten der Schlucht, schwimmen tiefere Schatten durch die scheinbare Leere. Es zuckt dort und wälzt sich, es rührt und bewegt sich. Ich reiße beide Augen restlichtsuchend weit auf und ahne, sehr plausibel und damit gewiss, das Schicksal meiner wenigen Vorgänger. Verstrickt in das auffangende, soziale Netz, krümmen sie sich enttäuscht und wütend auf der Stelle.
Ich denke nach – das rosarote Ziel morst inzwischen unverständlich, aber einladend, offenbar freundliche Botschaften.
»Sei‘s drum!«, schließe ich meine Gedanken und setze den linken Fuß auf die ersten Planken. Sie halten. Also den rechten Fuß, mein ganzes Gewicht wandert langsam von der festen Kante über den schwarzen Abgrund. Die Planken fühlen sich immer noch gut an, ich beginne auf eine erfolgreiche Überquerung zu hoffen.
Da schlägt ein Einwand auf meiner Schulter auf, und ich wäre zweifellos abgestürzt, träfe mich nicht unmittelbar danach von der anderen Seite eine Behinderung. Ich höre vom gegenüberliegenden Schluchtrand Befehle, dann verfehlt mich ein Fächer spontaner Bedenken nur knapp. »Ladet!«, höre ich, dann: »Legt an!« und gleich: »Feuer!« Wieder werde ich getroffen, schwanke mit den Armen rudernd auf der Suche nach einer neuen, sicheren, stabilen Lage.
Wieder kommandiert es drüben und ich lasse kurzerhand Hoffnung und Stolz fahren, falle auf die Knie, beuge den Oberkörper, werfe mich flach auf den Bauch und krieche in tiefster Gangart, fest an die haltenden Planken gepresst, in die jetzt vollständige Dunkelheit.
Mein persönlicher Demutsfall wird von drüben enttäuscht quittiert, erneut befiehlt es und ich verstehe: »Abrücken!«, weiterer Beschuss bleibt aus und ich komme jetzt gut voran.
Harter Stein ersetzt die weichen Planken unter mir, ich stehe auf und gehe die wenigen Schritte bis zu dem ungepflegten Eisengestell mit dem rosarot blakenden Zielhinweis.
»Geben Sie schon her!«, fordert es mich aus der Dunkelheit auf.
»Was?«
»Na, ihren Antrag! Das Papier, um das sich alles hier dreht.«
Ich liefere das Gewünschte aus, mein scherenschnittartiges Gegenüber forscht in den ausgefüllten Rubriken und Spalten.
»Bisschen spät dran, was?«, faltet er schließlich meinen Antrag zusammen: »Ihr Anliegen wurde schon längst von uns in unserem Sinne für Sie erledigt. Gute Nacht dann noch. Der Ausgang ist übrigens gleich hier.«
»Gute Nacht.«, stimme ich zu und stehe nach wenigen, mühelosen Schritten mitten in unserem kleinen Ort.

;)

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Kreislaufwirtschaft

5. Juli
Wenn das Denken dem Handeln hinterherläuft, wiederholt sich leider so manches.


Heute, die laufenden Ereignisse hatten in den letzten Tagen einen unumgänglichen Handlungsbedarf erzeugt, werfen unsere versammelten Politiker um neun Uhr am Morgen ein Bündel Verordnungen und Gesetze auf den erwartungsvollen Bürgermarkt.
Wie ein überkommenes Sprichwort richtig feststellt, bietet Eile selten guten Rat, und so reagieren, ungefähr um neun Uhr drei, die einschlägigen, betroffenen Kreise überlegt und prompt, indem sie ihre jetzt unzulässigen Kampfhunde im öffentlichen Raum aussetzen, aber nicht, ohne vorher die wertvollen, aggressiven Gene in andere, bisher als friedlich bekannte Arten einzukreuzen.
So kommt es dann um neun Uhr sieben zu einem verletzenden Zwischenfall mit einem deutschen Schäferhund, der außer der üblichen Hüftgelenkfehlstellung auch einen frisch angezüchteten und durch sorgfältige Abrichtung verstärkten Beißdrang aufweist.
Die Politik, parteiübergreifend, handelt umgehend und setzt die Schäferhunde, trotz des vehementen Protestes einiger betroffenen Züchter– und Halterverbände, auf die Liste der unerwünschten Hunderassen.
Folgerichtig besetzen die bereits erwähnten Kreise die frisch aufgetanen Gesetzeslücken und wechseln die Hunderassen schneller als ein durchschnittlicher Bürger an heißen Tagen seine Unterbekleidung. Amtlicherseits erfolgt die jeweilige Reaktion umgehend, aber doch prinzipiell nacheilend. Die Behördendruckerei gibt gegen elf Uhr elf die papierene Aktualisierung auf und engagiert handygesteuerte Ausrufer.
»Es muss was geschehen!«, fordert Landrat Joe im örtlichen, offenen Fernsehkanal und hält ein vorbereitend aus seinem Bauchladen entnommenes Traktat in die Kamera, leider zu nahe, die unscharfen Buchstaben entziehen sich einer möglichen Entzifferung, aber wir glauben Über allen Hunden ist Ruh‘ verstanden zu haben. Folgerichtig organisieren wir eine spontane Menschenkette ums Rathaus, schneiden der Verwaltung den Ausweg in eine ruhige Mittagspause ab und pressen das Versprechen einer generellen, vollständigen Hundevernichtung ab.
Der gesamte, frühe Nachmittag steht im Zeichen politischer Meinungsbildung, und schnell wird klar, dass das gegebene Versprechen aus zahllosen, nicht immer offengelegten Gründen nicht eingehalten werden kann. Wir haben eigentlich auch nichts anderes erwartet.
Anfangs beherrscht ein ersatzweises Hundeverbot als heißer Favorit die umlaufenden Gerüchte, wird aber zur Kaffeezeit von einem möglichen Zwergpudelerlass abgelöst, bevor, so um den bürgerlichen Feierabend herum, es sich aus den informierten Kreisen verlautbart, dass Hundehaltung zukünftig unterhalb des Rentenalters verboten sei, schließlich ist man auf die Stimmen angewiesen.
Die einschlägigen, betroffenen Kreise stellen sich auch hierauf ein, immer mehr Zuhälter leisten sich zur Brilli-Rolex einen hundehaltenden Rentner im Austausch gegen einmal wöchentlich angewandten Oralsex, diesen allerdings ohne Erfüllungsgarantie.
Diese vorläufige Idylle findet um ziemlich genau 17.45 ein abruptes Ende, als Gerhard, unser mediengerechter Kreisvorsitzender, ein Hosenbein im Maul eines gentechnisch gestretchten Riesenpudels hinterlassen muss. Der allgegenwärtige kleine Hans, ein bis zur Selbstaufgabe getreuer Kassenwart, taxiert noch schnell die fällige Hundesteuerschuld, bevor die beiden Politiker ins Kreistagsgebäude flüchten.
17.48 tritt Gerhard entschlossen vors Volk: »Diese Viecher müssen endlich von der Strasse!«
Weiter kommt er nicht, da ihn in diesem Moment die Welle der ersten westdeutschen, erfolgreichen Revolution seit Menschengedenken, angestiftet von verprellten Hundehaltern, erst aus dem Amt und dann auf die Insel ins Exil befördert.
Die neuen Machthaber, alle jenseits der Fünfundsiebzig und somit repräsentativ für die einflußnehmende Mehrheit unserer Wohnbevölkerung, ordnen, unter dem Motto: »Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.«, erst die totale Hunde– und Hundehalterfreiheit an, was wenige Minuten später durch ein Hundehaltungsgebot, und, noch weniger später durch einen strikten Hundehaltungszwang ersetzt wird.
Wir Jüngeren, Unbehundeten gehen in unseren Behausungen vor den greisen Umerziehungskommandos in Deckung und erwarten schlechten Gewissens: »Wo kriege ich jetzt schnell einen Alibi-Hund her?«, den Besuch der Erheber der ersten landesweiten Hundezählung.
Aber, zum Glück, keine Entwicklung verläuft unaufhaltsam in die falsche Richtung, so nach 20.15 häufen sich die Meldungen über fahrlässigen Passantenverbiss, die bürgerliche Unzufriedenheit mit den unordentlichen Zuständen steigt, und rechtzeitig zum Heute Journal ist Gerhard zurück und wieder im Amt.
In den Kommentaren der Spätnachrichten wird die Wiederkehr der gewohnten Zustände begrüßt und gleichzeitig ein absehbarer Handlungsbedarf in der Hundefrage angemeldet.
Wir gehen ermattet schlafen, morgen ist sicher auch wieder so ein Tag.

;)

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Sommerfragen?

8. Juli
Ferienzeit ist Einbruchszeit. Und eingebrochen wird leider überall und in alles, auch in unsere Rechte.


Heute, die Urlaubszeit produziert allenthalben ausdauernde Freizeichen im Telefonnetz, suche ich werbungs-, bzw. weisungsgemäß, kalte Höschen für in meinen Kühlschrank zu kaufen.
Leider erweist sich diese Art der Unterbekleidung als in unserem Ort unbekannt oder unverkäuflich, so dass ich schmerzhaft auf einem frisch geweckten Bedarf sitzen bleibe.
Ich streune also ungesteuert durch die ferienleeren Strassen, aber niemand bietet mir die gewünschte Ablenkung.
Also falle ich frustriert in unser Bistro ein und finde dort den Hauptanteil unserer daheimgebliebenen Wohnbevölkerung.
»Was‘n los?«, frage ich Alfred, unseren multitalentalen Wirt, dessen zahlreiche Nebenjobs sommerpausieren.
»Wir warten auf die Rückkehr des Abgeordneten.«
»Ach so.« Ich spiele fahrlässig mit meinem Glas und dem Gedanken, dem Abgeordneten aus dem Weg zu gehen, aber bevor ich den fälligen Entschluss fassen kann, versperrt mir zuerst Marschmusik und dann der zugehörige Aufzug den Rückzug, der Abgeordneter ist von seiner Hinterbank zurück und füllt mit seinem Gefolge den noch verfügbaren Raum im Bistro.
Wir bringen gemeinsam eine ausdauernde Kinder-, Blumen- und Salz-und-Brot-Überreichungszermonie hinter uns, während der sich das Salz am wenigsten aufdringlich verhält. Nachdem die weinenden Jungen und Mädchen wieder ihren jeweiligen Müttern und Vätern zugeordnet wurden (»Das ist aber nicht mein Kind, mein Mädchen hat blonde Zöpfe mit roten Schleifchen und nicht umgekehrt!«), fordert der örtliche Statthalter des Abgeordneten: »Gebt doch mal Ruhe, Kinners.«
Zunehmendes Schweigen steigt allmählich aus dem nachlassenden Gemurmel der Menge, verdichtet sich zu erwartungsvoller Stille, die dann endlich in eine spannungsgeladene Abwesenheit jeglichen Geräusches umschlägt.
Der Abgeordnete steigert unsere Aufnahmefähigkeit durch andauernde Durchmusterung aller Anwesenden, bevor er uns aus der eintretenden Starre mittels eines bellenden Räuspern erlöst.
»Liebe Freunde...«, beginnt er und verbessert sich sofort politisch korrekt: »Liebe Freundinnen und Freunde!«
Wir nicken grüßend zurück, alle ein Stall, ein Geruch.
»Wieder..«, freut der Abgeordnete sich: »...liegt ein hartes Jahr angestrengter Arbeit hinter mir. Ein Jahr, in dem ich mit Freude, Einsatz und Elan unserer großen Sache dienen durfte. Leider auch ein zu kurzes Jahr. Viel zu kurz für all die schönen Dinge, die wir Politiker uns zu eurem Wohle ausgedacht haben.« Der Abgeordnete stoppt seiner flüssigen Rede Fluß, bietet uns Gelegenheit zur Mitwirkung an seiner großen Sache. Wir ergreifen sie beim Schopf und fallen mit rhythmischem Klatschen bei.
Der Abgeordnete lässt uns freundlich gewähren, bevor er dankbar abwehrend die Arme hebt: »Ach, liebe Freunde, tut das gut.«
Schon fünf Minuten später haben wir uns alle soweit beruhigt.
»Wie ich schon sagte,..«, spinnt der Abgeordnete seinen angefangenen Faden weiter: »..ist so ein Jahr viel zu knapp für alles, was wir für euch tun wollten und könnten. Kaum hat man angefangen und sich in das Regieren eingewöhnt, ist es auch schon wieder Sommer und die urlaubsbedingte Ruhezeit beginnt. Und so geht das Jahr um Jahr, bis die Wahlen vor der Tür stehen und wir vor lauter Kämpfen nicht mehr zum Regieren kommen. Deshalb, meine lieben Freundinnen..«, der Abgeordnete zwinkert den in Mehrheit anwesenden Damen bezüglich zu: »...und Freunde,..«, der Abgeordnete textet zügig weiter: »..helft mir bei meiner diesjährigen Sommerkampagne, der Verlängerung der Legislaturperiode um einiges. Tut es für mich und nicht zuletzt für euch. Danke.«
Der Abgeordnete trinkt aus dem bereitgehaltenen Glas und kommt dabei zufällig mit seinem ungerichteten Blick auf mir zu liegen. Ich weiß nicht so recht, wie es mir geschieht, aber: »Wie lange dauert denn diese, die politischen Wohltaten beeinträchtigende Sommerpause?«
Der Abgeordnete mustert mich, erkennt mich schließlich als Einheimischen und Zugehörigen an: »Reichlich 8 Wochen.«
Mich reitet anscheinend der demokratisch ungebührliche Teufel: »Wenn ihr die auf 14 Tage verkürzen würdet, macht das in vier Jahren schon mal fast ein halbes Jahr zum Regieren mehr, ohne Grundgesetzänderung und einfach so. Wäre doch schon mal ein demokratischer korrekter Anfang. Oder?«

;)

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Wer wirklich will...

12. Juli
Mit diesem Satzteil beginnt eine der meist angewandten Diskriminierungen in unserm Land.

Spricht sich aber auch gut, besonders, wenn Frau/Mann dabei warm und trocken sitzt.

Heute, die modernen Zeiten hatten mich gestreift und ich finde mich unversehens auf der Suche und nehme deshalb den nächsten Bus, der aus einem andauernden Schauer in die Haltestelle austritt.
Geschwächt, wie mich die persönlichen Umwälzungen hinterlassen haben, wäre ich für einen Sitzplatz dankbar.
Ich schaue mich danach um.
Es gibt Plätze, freie Plätze. Ausnahmslos Fensterplätze. Und ausnahmslos blockiert. Durch Leute. Durch Leute, die auf der Gangseite sitzen. Also, erst kommt der Gang, dann kommen die Leute, dann kommen die verfügbaren Plätze.
»Hinsetzen!«, werde ich von vorn, von der Fahrerin aufgefordert.
Ich wähle mir einen Platz aus, er liegt hinter dem Sitz einer blassen Frau in den späten Vierzigern. »Entschuldigung!«, setze ich höflich zur notwendigen Kommunikation an, bleibe aber unerhört. »Entschuldigung!«, versuche ich es wieder, diesmal unüberhörbar laut. Die Frau reagiert nicht. »Vielleicht schwerhörig?«, denke ich mir.
Von vorn drängt es: »Setzen Sie sich doch endlich hin!«
»Gleich«, rufe ich freundlich zurück und stelle mich vor der nächst erreichbaren Sitzreihe auf, die von einem ungepflegten Mann höheren Alters besetzt gehalten wird.
»Darf ich?«, frage ich nett.
»Nein.«
Ich breche mein voreilendes »Dank...« überrascht ab, mache daraus ein erstauntes »Und warum nicht?«
»Weil das so ist. Und weil ich es so will.«
»Na denn.«, wende ich mich von dem Mann ab und beginne mich etwas über die seltsamen Typen in diesem Bus zu wundern.
»Wir warten.«, tönt es muffig von vorn: »Vielleicht entscheidet sich der Herr jetzt endlich.«
»Sofort!«, bestätige ich bereitwillig, gehe neben einem Walkman-Teenager in die Hocke und versuche mich und ihn in die betreffende Sitzreihe zu schieben.
»Hilfe!«, brüllt der und: »Gewalt gegen Kinder.«
Die umgebenden Passagiere prügeln mich mit ihren nassen Regenschirmen erst vor den geschlossenen Ausstieg und dann durch die von der parteiischen Fahrerin geöffnete Tür in den stärker gewordenen Platzregen.
Die Tür schließt sich mit einem schadenfrohen, satten Schmatzen, der Bus fährt ohne mich ab.
Verwirrt stehe ich im herabfallenden Wasser, welches sich auch gleich auf die Suche nach meiner Unterwäsche macht.
Noch ist meine Haut stellenweise trocken, als sich ein Bus meiner Haltestelle nähert. Er bremst ab, schlägt die Vorderräder zur Haltebucht ein, trifft dabei den kleinen Teich der nicht reparierten Frostschäden des Vorvorjahrs, duscht mich zum erstenmal, drinnen sehe ich die Leute auf den Sitzen am Gang heftig abwinken, der Motor folgt willig dem Druck auf das Gaspedal, das diesseitige Hinterrad wirft das restliche Wasser aus der Drecklache auf mich und ich bleibe allein zurück.
Ich wische mir den aufgeschwemmten Straßenschmutz und die Tränen aus einem Gesicht, das frierend nass verzweifeln möchte.
Noch ein Bus schält sich aus dem Wasservorhang.
Sprungbereit beobachte ich die Einfahrt in die Haltebucht. Rücksichtsvoll gesteuert pflügt das Vorderrad schadensfrei durch den Schmutzsee, kommt vor mir zu stehen und die Tür schwenkt einladend aus.
Ich entkomme in die gebotene Trockenheit und stehe wieder vor dem Problem der versperrten Chancen: Gang – Leute – Freie Plätze.
Der Fahrer drängt: »Hinsetzen.«
Gehetzt scanne ich die vorsätzlich sich ausweichende Masse vor mir.
Dann erkenne ich Alfred, unseren vielseitig einsetzbaren Bistrowirt.
»Hi!«, rufe ich vertraulich und lächle dabei, was die Mundwinkel hergeben.
»Hi.«, antwortet Alfred mürrisch, aber ich stehe bei ihm hoch in der Kreide und muss deshalb gut behandelt werden. Er rückt an das beschlagene Fenster.
»Bis man heute irgendwo endlich unterkommt.«, atme ich im Sitzen auf.
»Alles eine Frage der Beziehungen.«, belehrt mich Alfred und dann schweigen wir den Rest des vor uns liegenden, gemeinsamen Weges.

;)

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Ohne Gewähr

15. Juli
Die bei uns täglich festzustellende, soziale Wärme reicht anderswo grade mal für ne Eiszeit.


Heute, der Realität unterläuft ein unerwarteter Schlupf und wir erinnern uns unvermittelt beschämt an unsere verlorene Mitmenschlichkeit, stehe ich im örtlichen Supermarkt in der ausgedehnten Schlange vor der einen der zwei besetzten Kassen.
Draußen gießt es, die von uns mitgebrachte Feuchtigkeit hat die Scheiben beschlagen lassen, es müffelt dumpf und seichig nach unzufriedenen Menschen mit verkürzter Samstagsmorgentoilette und gebrauchter Unterwäsche, schließlich haben wir alle heute frei und sind doch nicht in den verdienten Urlaub gefahren, nein, wir halten dieses Land derzeit am laufen und allein schon deshalb sind wir was Besonderes, was aber außer jedem von uns keinem Anderen aufgefallen ist.
Meine Schlange rückt langsam vor, langsamer als die benachbarte. Vorhin, als ich noch die Qual der falschen Wahl hatte, wandte ich die Artikelzählmethode an und stellte mich hinter die in Summe kleineren Füllungen der aufgereihten Einkaufswagen an, hatte aber wohl die Anzahl abgefallener oder mangels nicht angebrachter Preisschilder falsch eingeschätzt: »Erna, was kostet die Gleitcreme diese Woche im Angebot?«
Ich lenke meine aufsteigende Ungeduld auf die anstehende Entscheidung der Politik über die Homo-Ehe ab, finde, dass dieser Gedanke nicht zur Verbesserung meiner Laune beiträgt, weil es dabei eh bloß um Fleischtöpfe und Klientelbetreuung geht und ich konzentriere mich wieder auf die Ereignisse vor mir: »Wirklich, 3.49? Da spart die althergebrachte Art aber ziemlich.«
Manche in der Schlange werden bei diesen öffentlichen Überlegungen noch rot und wenden verschämt den Blick ins unverfänglich Unendliche, aber die Meisten von uns gaffen intensiv auf die zukünftige Eigentümerin der nicht ausgezeichneten Gleitcreme, die sich mit: »Meine Dichtung an der Kühlschranktür neigt zur Brüchigkeit!« aus der Peinlichkeit reden will.
»Butter geht auch!«, trägt ein anonymer Filmkenner vom hinteren Ende bei, jemand intoniert den Anfang der Josephine-Mutzenbacher-Filmmelodie, jemand anders steuert den Mittelteil bei und wir alle fallen lautstark in den Refrain: »...von vorne und von hint‘!«
Die ertappte Frau mit der Gleitcreme in der Hand beschließt sicherlich für sich, zukünftig den unverdächtigen Versandweg einzuschlagen, äußerlich verliert sie die Fassung und weint auf das gummierte Artikellaufband.
»Wollen Sie die Gleitcreme immer noch?«, versichert sich grob die Kassiererin, die, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, seit Monaten getrennt und unbefriedigt vor sich hin lebt.
»Jetzt ist die Blamage eh komplett, warum also auf das Vergnügen verzichten wollen.«, schlägt es aus dem Mittelteil rat.
»Butter!«, wiederholt der Filmkenner: »Am besten Irische, die ist katholisch und unverdächtig. Sonst tut‘s auch Süßrahmbutter, nur keinen Sauerrahm, der ist nicht gut für die Haut.«
Die junge Frau schluchzt angesichts dieser Empfehlungen erbarmungswürdig und mitleiderregend auf, setzt ihre Einkäufe auf dem Laufband brüsk aus und flüchtet, vermutlich wird Sie in einem Zug bis über die Stadtgrenze hetzen und nie wieder zu uns zurückkehren.
Wir Zurückgebliebenen grinsen uns verständig an. Mit: »Hat mal wieder Spaß gemacht.« zeigt eine Frau den neuen Kälterekord im Wesen unserer sozialen Interaktion an.
»Kannste glauben.«, stimmen wir murmelnd zu, mancher reibt sich bestätigend durch das Futter der Hosentasche am ersteiften Geschlecht.
»Aber die Frau hat geweint!«, gibt ein bisher unbeachtetes Kind unpassend zu bedenken.
»Und wenn schon.«, beschwichtigt schnell der zugehörige Vater, dem die abweichende Meinung seines vorlauten Nachwuchses sichtlich Unbehagen verschafft.
»Und sie...«, beharrt das Kind, wofür es mit dem einzigen Sonnenstahl dieses Morgens hervorhebend ausgeleuchtet wird: ».. hat doch geweint. Das war nicht richtig.«
»Das Kind hat Recht.«, wechselt der Filmliebhaber in eine neue Rolle.
»Und wie das Kind recht hat, so was von Recht.«
»Wir sollten uns alle schämen.«, ruft es von der Kasse und wir senken, brennend rot eingefärbt, schuldbewusst die Köpfe.
Dann ist dieser seltsame Moment endlich vorbei, die Schlange rückt ein Glied vor, »Erna, was kostet die Haftcreme?«, meine Schlange ist schon wieder die langsamere und ich kämpfe mit einer unaufhaltsam aufsteigenden Ungeduld, das Räderwerk der Realität greift wieder wie gewohnt.

;)

crossfire
 
Hehe - muß Dich nun mal unverschämer Weise unterbrechen...


:lachen::lachen::lachen:

einfach nur köstlich...

werde mir nun alles ausdrucken und es als "Gute - Nacht - Lektüre" verwenden.....

LG blue
 

Ein Schelm, wer dabei denkt

19. Juli
Die Naturwissenschaften beklagen, zu Recht, den zunehmenden Niedergang an Interesse.
Wen wundert‘s.


Heute, es wurde mal wieder ein gegebener Anlass aufdeckt, führt uns der Rasende Roland, unser in letzter Zeit fleckig angelaufener Lokalpolitiker, auf dem Marktplatz Taschenspielertricks vor.
Bald findet er keine Freiwilligen mehr, die sich von ihm beim Hütchenspiel über den Klapptisch ziehen lassen wollen. Auch sein Angebot: »Wo steckt das Ass!« wird nur mit müder Handarbeit quittiert, die sich auch dann nicht verstärkt, als Roland die fragliche Karte wie erwartet aus einem seiner präparierten Ärmel zieht.
»Kommt Leute...«, fordert uns Roland bürgernah auf: »...ziert euch doch nicht so. Zahlen müsst ihr für die Veranstaltung eh, also könnt ihr wenigstens den Spaß mitnehmen.«
»Welchen Spaß?«, fragt es, natürlich von oben unbeachtet, ganz hinten.
»Eigentlich...«, ruft es von vorn, wo sich naturgemäß der örtliche Einfluss versammelt: »...hatten wir uns schon etwas mehr erhofft. Nicht schon wieder die immer gleichen Tricks aus der alten Kiste.«
Der Rasende Roland wendet sein angeborenes Positionserhaltungstalent intuitiv auf uns an: »Aber das Beste kommt doch noch.« Dann erteilt er, für uns unverständlich, schnelle Anweisungen an sein im Hintergrund aufgestelltes Kabinett. Dieses handelt sofort und zielgerichtet, schließlich geht es ja um parteiliche Belange.
Kurze Zeit später schleppen der Minister für Verkehr sowie der der Altlasten, durch barsche Anweisungen der Ministerin für Frauenangelegenheiten dirigiert, mühsam eine vom letzten Spendenaufruf übriggebliebene, transparente Sammelbox auf die improvisierte Bühne.
»Und nun, liebe Leute, seht ihr den wahnsinnig gefährlichen Trick der zersägten Jungfrau.« Roland räuspert sich. »Man bekommt diesen Trick in neuerer Zeit selten geboten. Woran das wohl liegen mag?«
Wir Männer lachen pflichtschuldig und drücken damit unseren Wunschtraum von der angedeuteten Verfügbarkeit des weiblichen Anteils unserer Bevölkerung aus, welcher wiederum diese Gemeinheit, politisch korrekt, mittels der vorbeugend mitgeführten Trillerpfeifen zurückweist.
Wir beruhigen uns nur allmählich, was der Rasende Roland für eine eilige Inventur der herbeigeschafften, weiteren Hilfsmittel nutzt.
»Okay!«, ruft er uns schließlich zur Ordnung. »Es ist alles da. Fast alles. Nur die Jungfrau fehlt uns noch.« Roland blickt sich suchend um, aber die anwesenden Frauen weichen seinem Blick geschickt aus. »Aber meine Damen. Wann hat man mal schon so eine Chance.«
Mit: »Alles eine Frage des Vertrauens!« macht ein unbekannter Zwischenrufer die Sache zu einer grundsätzlichen Angelegenheit, bei der unerwartet die Politik und ihr Personal in der öffentlichen Pflicht stehen.
Roland wendet sich also hilfesuchend an die im Vordergrund plazierte parteiliche Frauenschaft: »Wofür diskutieren wir die Frauenquote. Jetzt, Mädels, könnt ihr endlich zeigen, was so alles in euch steckt.«
Wenn es jemals so was wie greifbare Stille gab, dann wird sie jetzt in ihrer Dichte hier übertroffen.
Irgendwo, aus der Ecke, in der Helmut, unser örtlicher Gendefekt mit dem unpassenden Bekanntheitsgrad, seit neuestem gewöhnlich untertaucht, skandiert es plötzlich: »Angie, geh du voran.«
Die Angesprochene, die erst in letzter Zeit vom Ziehkind zur öffentlichen Frisur aufstieg, wehrt sich noch kurz und proforma, dann lässt sie sich nicht länger bitten, sondern stellt sich der neuen Aufgabe.
Alles geht jetzt sehr schnell, Roland hilft ihr in die Kiste, sie streckt sich aus, Roland schließt den Deckel, wir sehen Prinzessin Angie im Plexiglassarg, Roland streckt die Hand nach der bereits gestarteten Motorsäge aus, schiebt sich die Schutzbrille vor das wertvolle Antlitz und setzt die rasende Kette an. Zuerst trennt sich, trocken spanend, der umgebende Kunststoff, dann sind die Zähne durch die Umhüllung durch und die Innenseiten der Kiste färben sich schlierig blutrot. Angies unumgänglicher Aufschrei geht in unserer spontanen Beileidsbekundung unter.
Roland stoppt den knatternden Motor der Säge.
»Er hat sie umgebracht!«, ruft es, erst vereinzelt und dann im Kanon.
Der rasende Roland hebt beschwichtigend die Arme: »Aber Leute. Hört doch mal zu.« Wir gehorchen.
»Ursache und Wirkung. Das sind doch Sachen, die in der Politik nichts zu suchen haben. Angie hat einfach Pech gehabt. Und dafür kann keiner was. Am wenigsten ich.«
Wir zerstreuen uns friedlich in zunehmender Gewöhnung.

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Coming Out

22. Juli
Die Welt ist klein.
Das gilt auch noch in der Moderne.


Heute, die unmittelbare Wirklichkeit befindet sich aus wartungsbedingten Ursachen immer noch weitgehend außer Betrieb, stürze ich mich lustsuchend in die farbige Welt des Porno-Webs.
Schon bei der Einwahl überrascht mich der zügige Response meines Providers, sein Portal steht bereits, als ich, den Reißverschluss schließend, erleichtert von der Abendtoilette zurückkehre.
»Nun gut.«, denke ich vor mich hin: »Wenn das so ist, könnte ich ja mal...« und ich wähle die sonst quälend langsame Pornoseite eines unverfänglichen, amerikanischen Anbieters. Aber, die USA scheint in Betrieb zu sein, der Bytefluß kommt stockend, die Mädchen wollen und wollen nicht fertig werden, kurz, das alles erinnert mich an die verschmähte Realität und wozu bin ich denn hier?
Also ab nach Flensburg und umliegende, virtuelle Dörfer, und richtig, hier liegen der Sites still und starr, die Page-Counter blinzeln seit Tagen unveränderte Zahlen und die Update-Dates bleiben reihenweise hinter dem abgelaufenen Haltbarkeitsdatum des probiotischen Joghurts in meinem defekten Kühlschrank zurück.
Ich nutze die trafficarme Zeit und lade endlich einen unanständigen Video-Hächsel, der mir schon lange irgendwo steckt. Die Übertragungsrate erreicht Rekordwerte, die Bilder leider nicht.
»Ich brauche Frische!«, feuere ich mich an und doppelklicke entschlossen in eine darauf spezialisierte Suchmaschine, Rubrik Web-Cams, Unterordnung Amateure, Gattung Kostenlos.
Werde auch ziemlich schnell fündig, der Link Powerfrauen – Powermösen reizt mich, ich suche schließlich Billig-Sex und keine Originalität.
Der Site baut sich mühsam auf, liegt vermutlich an der unnötig hohen Auflösung des eingeklinkten, mikroskopischen Live-Bilds. Wer uns größer haben will, klickt hier! lese ich und folge der Anordnung.
Mein Browser entscheidet sich für ein neues Fenster und rastert die beiden Mädels auf mein TFT-Display.
»Reißt einen nicht vom vielzitierten Hocker.«, stelle ich fest und suche mit dem Mauszeiger schon mal das Abschuß-X oben rechts, aber ein neuer Bildaufbau lässt bereits mich in den ersten Zeilen veränderte, interessante Aktivitäten ahnen und ich bleibe dann doch noch da.
Die Beiden scheinen sich wirklich zu mögen, oder sie spielen es der Web-Cam und mir ziemlich gut vor, jedenfalls wirkt der gezeigte Zungenkuss recht authentisch.
Die Vorstellung zieht sich freundlich in die Länge und bald schwillt es hinter dem Reißverschluss meiner Jeans.
Plötzlich, von einem Bild zum anderen, haben sie sich voneinander gelöst und suchen gleichzeitig und frontal mit ihren Augen die Kamera.
»Das kann doch...«, beginne ich einen überraschten Ausruf, setze mit: »Also wirklich...« mein Erstaunen fort, bevor ich mich bei: »Ist es denn ...« erhole und mittels: »Sie sind es wirklich!« Gewissheit erlange.
Sie sind es wirklich, oder zumindest perfekte Doppelgängerinnen respektive Klons.
Die beiden da auf Schirm steigen Morgen für Morgen zwei Haltestellen nach mir in den Bus, setzen sich eine Reihe weiter vorn und fahren bis zu einem mir unbekannten Ziel, unbekannt deswegen, weil ich gewöhnlich zuerst aussteige.
Ich rücke ganz nah an die Bilder auf meinem Display heran, versuche jahrelang bekannte Gesten zu verifizieren, aber ihre Bewegungsabläufe hier unterscheiden sich sehr vom Üblichen einer morgendlichen Fahrt zur Arbeit, es findet sich wenig Gemeinsames, außer einem unscharfen Grübchen in Höhe eines linken Mundwinkels, welches mir bekannt vorkommt, wenn ich es auch weniger aktiv in Erinnerung habe.
»Und sie sind es doch.«, beschließe ich, obwohl das wiederholte Abspielen memorierter Busszenen keine neuen Beweise erbringt. »Mensch!«, spiele ich mich auf: »Und die kenne ich.« Was so nicht stimmt, ich sehe die beiden zwar täglich seit Jahren, aber wir halten uns immer noch unterhalb der Schwelle unverbindlicher Begrüßung auf, wir, zumindest kann ich das für meine Seite so feststellen, nehmen uns ausschließlich interaktionslos zur Kenntnis, mehr nicht.
Mich überkommt warm der wohlige Schauer, den die unmittelbare Nähe zu Grenzüberschreitungen bei uns Sesshaften hervorruft und ich genieße die geborgte Freiheit, die sich mir vom Bild der Beiden mitteilt.
»Aber, was wird übermorgen im Bus?«, sorgt sich mein bürgerliches Rest-Ich und wechselt brüsk zur Page des Verkehrsverbundes, es gilt, eine neue, unbelastete Busverbindung zu finden.

;)

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Eskalation

26. Juli
Selbst ist der Mann.
(Gilt natürlich auch für die Frau)!


Heute, Gerhard, unser mediengerechter Kreisvorsitzender, hat einen Arbeitsplatz geschaffen und mich als Housekeeper für seine urlaubsleere Etagen-Eigentumswohnung eingestellt, sitze ich fröstelnd mitten in den zukünftigen Gesetzesvorhaben für die restliche Legislaturperiode. Gerhard hat einen ganzen, deckenhohen Wandschrank davon, daneben erstrecken sich weitere doppelflügelige Türen, beschriftet mit Jürgens Giftschrank, Hansis Sparschweindel oder Rudolf träumt.
Ich wühle mich grade durch eine Patentschrift für einen Informationszähler, der zwischen User und Internet geschaltet und in SteuerEuro geeicht, womit endlich der unerwünschte Eintrag behördlich unautorisierter Informationen ins Web, wenn nicht schon gänzlich verboten, so doch für weite Kreise unbezahlbar werden soll, als aus der frisch bezogenen Nachbarwohnung schnelle Bassschläge durch die fahrlässig sparsam dünnen Wände dringen.
Die sich am unteren Hörbereich herumtreibenden Geräusche lassen sich nicht wirklich ignorieren, sie zwingen meine lesenden Augen, ihnen, den Tönen, auf ihrem Weg über das tiefste Segment der Tonleiter auf-und-ab zu folgen, und so irren sie, meinen armen Augen, zwischen brisanten Zeilen hin-und-her und verheddern sich immer mehr verständnislos an Begriffen wie Terrabyteaufkommen, erhöhte Bemessungsgrundlage für politisch unkorrekte Kultur, Parteienfreibeträge.
»So geht das nicht!«, beschließe ich und begebe mich stracks zur fernen Eingangstür der Nachbarwohnung.
Eine Frau in erfolgreichem Alter und Outfit öffnet mir wortlos. Reden ist auch gar nicht möglich, wir stehen in einem Hurrikan aus Musik, schlechter Musik, wenn ich das mal so bescheiden erwähnen darf.
Mittels Zeichensprache deute ich meinen dringenden Bedarf an Kommunikation an, die erfolgreiche Frau fährt gekonnt die Ausgangsleistung des Endverstärkers in den Räumen hinter ihr per Fernsteuerung herunter und wird dann erreichen wir endlich einen Lärmpegel, der eine erfolgreiche, verbale Verständigung möglich scheinen lässt.
Ich versuche es zuerst: »Entschuldigung. Aber Ihre Musik ist nebenan, also in der Wohnung des Kreisvorsitzenden Gerhard, ziemlich gut zu hören.«
»Und..«, sticht die Frau zu: »...hat er sich beschwert?«
»Nein.«, antworte ich wahrheitsgemäß, setzte aber dann in Sinne eventueller Beeindruckung hinzu: »Aber nur, weil er grade im Urlaub ist. Sonst wäre er sicherlich verärgert.«
»Er kann sich ja dann melden.«, schnippst sie, und: »Ist ja schließlich ein freies Land.« Dann schlägt sie die Tür zu und fährt die Musik auf einen neuen, gesteigerten Level, und zwar beides gleichzeitig, was mich ziemlich anmachen würde, wenn es nur mit etwas weniger Geräusch verbunden wäre.
Ich trotte zur Gerhards Wohnung zurück und schmiede Gegenmaßnahmen.
Die bekannte Hausmittel wie mit dem Besenstil an die Wand klopfen versagen schmählich, die Musik nebenan ist einfach zu laut, allerdings erhält Gerhards textile Tapete dabei eine neue Bemusterung, wir werden abwarten müssen, ob sie seinem Geschmack entspricht.
»Eskalation ist das letzte Mittel der verzweifelten Wahl.«, zitiere ich mich falsch und entscheide mich zur Aufrüstung.
Mit: »Ich fordere Leistung!« betrete ich unser örtliches Geschäft für technische Gelegenheiten und stoße bis zur Audioabteilung in einem Zug durch. Mir wird Verschiedenes empfohlen, aber ich wähle die akustisch brutalste Kombination aus einem Tongenerator und einer Kaskade leistungsfähiger Bassverstärker, zahle mit Gerhards gutem Namen und befehlige den herumlungernden Arbeitslosen, mir mit dem Equipment schleunigst zu folgen, schließlich käme ich aus den öligen Dunstkreis demokratischer Macht.
Kaum eine halbe Stunde später heizen die Endstufen, die nachbarlichen Bässe dringen immer noch durch.
Endlich habe ich volles Grünlicht und schiebe den zentralen Regler auf 40% und lösche die benachbarten Bässe damit vollständig aus.
»War doch ganz einfach.«, schreie ich mir zu, verstehe aber kein Wort. Dann fahre ich auf 20% zurück – und da sind sie wieder, diese Störenfriede von nebenan.
Also 60%, zurück und sofort wieder hoch auf 80, zurück: »Dieses Weib ist unbelehrbar!«, und 100%, und zurück: »Die will‘s wohl wirklich wissen!«, dann eben aus dem Universum blasende, schwarze Löcher bohrende Hyperpower und zurück und nebenan ist alles ruhig, so, als ob dort überhaupt nichts mehr wäre.
»Na also! Geht doch. Man muss nur sich nur durchsetzen wollen, das ist heute das ganze Geheimnis.«, bestätige ich mich, während draußen die Martinshörner der zahlreich auflaufenden Bergungsmannschaften näher kommen.

;)

crossfire
 
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