Blick vom Tellerrand Satiren für jede Gelegenheit

Einfach Mensch

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Oberschwaben, genau über dem Mittelpunkt der Erde
Im Jahr 2000 wollte ich erproben, ob ich auch unter Druck schreiben kann. Also nahm ich mir vor, jede Woche zwei Satiren über aktuelle Ereignisse zu schreiben. Die Texte erschienen dann im Internet.

Bei den Personen handelt es sich um Menschen, die damals im Gespräch waren. So steht Helmut für Helmut Kohl, Alfred für Alfred Biolek und so weiter.

Stell mal die erste Satire hier rein. Hat einen so schönen Bezug zu den grassierenden Prophezeiungen.

Anfang

1. Januar
Klar war uns prophezeit worden, dass das alte Jahrtausend überhaupt nicht oder im Chaos enden würde. Deswegen herrschte auch am Neujahrsmorgen ein unerwarteter Erklärungsbedarf.

Heute, während draußen im Regen die Parteien schon wieder die Bürger mit Unschuldsvermutungen belästigen, sitze ich in unserem Bistro herum und bekämpfte mittels gesundheitsschädlicher Mengen Espresso die Eigen-Zensur aller Themen, die im Millennium enden.
Da stürzt unser örtlicher Gendefekt namens Helmut ganz aufgeregt ins Lokal und verfügt sich unmittelbar auf die kleine Bühne, auf der sonst, einmal wöchentlich, sich unser Kulturverein kostenlos produziert. »Hört her, ihr Leute«, und diese Anrede durch Helmut, der immerhin das unzureichende Genreservoir unserer bestandssichernden Gesellschaft repräsentiert, also dieser Helmut ruft: »Hört doch mal her, ich hab euch was zu sagen«
Was Edmund, unseren ewigen Schultheiß, zur Ausübung seiner amts-bedingten Autorität im Namen aller veranlasst: »Halt‘s Maul!«
Helmut, der sonst aufs Wort pariert, lässt sich diesmal nicht beeindrucken, nimmt die Brille von schwerem Kassengestell zu dicken Bifokalgläsern ab, gewinnt überraschend an Profil und Aussehen und ruft: »Ich hab die Welt gerettet. Heut nacht. Und ganz alleine.«
Edmund versucht es noch mal friedlich: »Ach, sei doch ruhig.«
»Aber ich hab‘s getan.«
»Du störst!«
»Die Welt gerettet!«
»Vollkommener Blödsinn!«
Erwartungsgemäß mischen sich an diesem Höhepunkt dieser jungen Geschichte intellektueller Auseinandersetzungen im Rahmen unserer örtlichen Abgeschiedenheit Lea, die professionell Gute, mittels eines Grundsätzlichen: »Auch er, gerade er, hat das Recht auf Redefreiheit« ein, gefolgt von dem geachteten Winkeladvokaten Bodo, welcher wie gewohnt seinen Einwurf gezielt auf unseren wunden Punkt bringt: »Laßt ihn endlich reden, dann haben wir es hinter uns.«
Edmund vollführt auf der Stelle eine seiner gewohnten Politikerhalsen: »Los, Helmut, zeig‘ es uns.«
»Also«, beginnt Helmut: »Also«, beginnt er sogleich ein zweites Mal, nur um dann wirklich anzufangen: »Also, wie ich heute Nacht, gleich nachdem ihr mich mit meinen Raketen vom Marktplatz vertrieben hattet, hinten an der aufgelassenen Tongrube ankomme, also da habe ich, gibt ja keine Uhr dort, einfach angenommen, dass jetzt Zeit zum Schießen sei und dann habe ich...«, Helmut forscht in sich nach, was er denn wohl dann getan habe und kommt schließlich zu einem Ergebnis: »...geschossen.« Er blickt uns der Reihe nach an, wir nicken den Anfang seiner Geschichte freundlich und ermutigend ab, worauf Helmut, instandgesetzt, fortfährt: »Die erste Rakete kam ein wenig vom Kurs ab. Tut mir leid, das mit dem Grillplatz. Die zweite ging dann richtig und zerplatzte in viele bunte Kugeln, die meisten waren leider grün.«
»Komm zur Sache« hallt es aus dem schlecht ausgeleuchteten Hinter-grund, wo sich immer die Jugend trifft.
Helmut blickt kurzsichtig (die Brille hält immer noch in der Hand) in die richtige Richtung, kann aber nicht viel ausrichten und erzählt des-halb einfach schnell weiter: »Und dann hab‘ ich die Welt gerettet«.
»Wie?«
»Na, halt gerettet«
»Aber wie?«
Bodo mischt sich ein: »Solange wir ihm nicht das Gegenteil beweisen können..« Und Lea fährt für ihn fort: »..hat er auch als Retter der Welt zu gelten.«
Helmut nickt heftig von der Bühne.
»Und wie sollen wir ihm das Gegenteil beweisen?«, zweifelt Edmund.
»Ich bin nur für die Form zuständig.«, Bodo zuckt wenig hilfsbereit mit den Achseln.
Hera, unsere kulturell mißverstandene Blondine, tönt aus der Jugend-Ecke: »Auf dieser verqueren Basis kann jeder Trottel irgendwelche Verdienste für sich ungerechtfertigt in Anspruch nehmen.« Und spricht damit einen für ihre Verhältnisse ungewöhnlich komplexen Satz.
»Also bin ich der Retter der Welt?«, fragt Helmut vom Podest.
»Von mir aus.«, stimmt Edmund missmutig zu: »Wen interessiert das schon?«
Helmut setzt seine Brille auf und nimmt damit wieder sein gewohntes Aussehen an, halt das des örtlichen Gendefekts.
Dankbar für das zeilenfüllende, meine Einfallslosigkeit beendende Geschehen hebe ich die Hand: »Alfred, eine Runde für alle. Aber mit Inhalt. Manchmal kann man auf den nämlich nicht verzichten.«
Unser Bistro hallt von unserem kollektiven Gelächter.
Jemand ruft »Mann, bin ich froh, dass ich hier sein darf!« und wir alle stimmen diesem unbekannten Jemand still zu.

:)

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Spurwechsel

5. Januar
Auch wenn sie nicht politisch korrekt sind, die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau, so gibt doch keinen Grund, nicht an ihrer Überwindung zu arbeiten.


Heute, ich hatte mich gerade vor den wütenden Unschuldsbeteuerungen der großen Parteien in die neue, kostendämpfende Unisex-Bahnhof-Toilette geflüchtet, die Kabinentür abgeschlossen und erschöpft auf der Edelstahlbrille niedergelassen, höre ich aus der Nachbarkabine ein besorgniserregendes Stöhnen.
Entgegen aller meiner Erfahrungen mit unerbetenen Hilfeleistungen in unserer Ellenbogengesellschaft frage ich doch nach: »Kann ich irgendwie helfen?«
»Jaaah!« bricht es, von den gefliesten Wänden nachhallend, aus der Nachbarzelle.
Ich werfe mich mit der Vehemenz eines zurückliegenden Slalomläufers um die Trennwand und komme vor Wolfgang, dem örtlichen Zeitgeistjäger, schliddernd zum Stehen: »Du?«
»Was hast du denn erwartet?«
Ich schöpfe aus der durchaus vorzeigbaren Erfahrung meiner eigenen Kreißsaalerlebnisse: »So was wie eine vorzeitige Niederkunft.«
»Genau!«
»Was heißt hier genau? Gehört da nicht noch irgendeine Frau dazu?«
Wolfgang krümmt sich stöhnend auf dem Porzellanhocker, holt dann hechelnd Luft und erklärt schließlich sprachverkürzend: »Habe neue Freundin. Frau meines Lebens. Sicher. Ganz sicher. Will Kinder. Mit ihr. Aber die Geburt. Darf ich zumuten ihr das? Schmerzen. Wehen. Preßwehen. Reißende Dämme.« Wieder zeigt er die Nummer mit dem Hecheln. Anschließend: »Hatte Idee, drei Tage nur Hartkäse.«
»Das stopft doch wie verrückt!«
»Richtig. Und jetzt wie Geburt. Kannst..« Wolfgang fällt wieder in eine seiner simulierten Preßwehen. Ich umfange seinen Nacken mit der Ellenbogenbeuge, unterstütze seinen Kopf in Richtung Brust und gebe vor: »Pressen ... pressen ... pressen ... und hecheln ... hecheln und entspannen und hecheln, ja, so ist es gut, kann nicht mehr lang dauern.«
Wolfgang folgt gehorsam meinen Anweisungen.
»Aber eigentlich ist diese Idee ziemlich schwachsinnig.« nutze ich die Pause zwischen den Wehen.
»Möglich. Muss aber zu Ende bringen. Muss jetzt raus.«
Dieses Argument würde nur widerlegen wollen, wer nie an akuter Verstopfung litt. Wir gehen die nächste Runde an: »Pressen ... pressen ...pres ...«
»Es kommt!« schreit Wolfgang, und dann: »Es kommt! AHHhhh!«
»Hecheln ... hecheln ... Entspann dich, es ist vorbei, das Schlimmste ist jetzt überstanden.«
Wolfgang zieht sich erschöpft an mir hoch und gibt den Blick in den Flachspüler und auf seinen frisch ins Licht der Welt gesetzten Inhalt frei.
»Das ist ja ganz braun!« formuliert meine vorlaute Gehirnhälfte unnötigerweise, aber deutlich verständlich.
Wolfgang läuft noch röter an, als er es durch den gerade geleisteten Probelauf schon geworden war: »Nu ja, ich wollte zuerst wissen, wie sich das Einbringen für sie, die Frau meines Lebens, anfühlen wird. Und, bei der geringen Auswahl hier im Dorf. Der Vater ist eben schwarz. Hast du damit ein Problem?«

:)

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Zaungäste

8. Januar
Eine Knallerbse verquickt sich mit einem Maschendrahtzaun und schon frisst die Öffentlichkeit ihre willigen Attraktionen.


Heute, die Parteien haben endlich nach ihrer Demonstration für die unbedingte Unschuldsvermutung unseren Marktplatz wieder dem zahlenden Bürger überlassen, findet unser tägliches, mediales Kesseltreiben statt.
Regina, die sich infolge einer kleinen, sprachlichen Eigenheit für diesen Wettbewerb unfreiwillig qualifiziert hat, wird aus der seitlichen Schiebetür eines Vans in die Öffentlichkeit verstoßen.
Sie will in die Sicherheit hinter den verspiegelten Scheiben zurückflüchten, aber der Griff der Tür wird ihr nachdrücklich und mit durchdrehenden Reifen entzogen. Regina steht schutzlos vor uns und den lauernden Kameras.
Stefan, unser TV-Junge von nebenan, lässt Reginas Lied spielen.
Verona, Stefans weibliches Pendant, verkauft noch schnell und spothaft ein paar Gemüseprodukte, und dann ist die hohe Livezeit einer einsamen Regina gekommen.
Die aber verweigert sich schnöde allen Wünschen des erwartungsvollen Publikums und bleibt reg– und aktionslos stehen, mehr noch, sie schlägt die Hände vor das Gesicht, wie ein Kind das tut, das frisch erkannte Gefahren ignoriert.
Wir aber bleiben standhaft und fordern laut unser Recht auf Belustigung: »Los, renn endlich. Wofür haben sie dich in diesen lächerlichen Jogginganzug gesteckt?« und: »Unsere Kohle hast du ja auch gern genommen!«
Stefan, der Regina den überwiegenden Teil ihrer Menschenrechte im Rahmen eines schwer durchschaubaren, aber preiswerten Tantiemenhandels unwiderruflich abgekauft hat, wird von den Verantwortlichen seines und auch aller anderen Senders bedrängt, und so gibt er das wesentliche Zeichen.
Eine der ferngesteuerten Kameras nähert sich hinterrücks Regina und stupst sie an.
Regina ignoriert auch diese Aufforderung. Die Kamera stößt wieder zu, diesmal mit aller Kraft ihrer Servoantriebe. Regina taumelt weiter in den Kreis der Zuschauer hinein, findet aber nach wenigen, unsicheren Schritten wieder ins Gleichgewicht und verharrt trotzig auf der Stelle.
Nun ziehen zwei Kameras synchron vor, Regina erkennt die Gefahr und flüchtet mehr zufällig als überlegt in Richtung der schmalsten der drei kleinen Gassen, über die unser Marktplatz rückwärtig verlassen werden kann. Sie erreicht den scheinbar rettenden Spalt zwischen zwei vorkragenden Fachwerkhäusern und lässt uns, gespannt wartend, zurück.
Wir müssen nicht lange warten. Die Herrschaften der vereinigten Fernsehanstalten verstehen ihr Geschäft.
Regina stolpert rückwärts aus der Gasse, bedrängt von einem besonders aufwendigen und damit ungemein beeindruckenden Exemplar einer ferngesteuerte Kamera, die sich mit ihrem glotzenden Fischaugenobjektiv konsequent nie weiter als fünfzehn Zentimeter von Reginas mühsam luftpumpender Brust entfernt. Regina stolpert immer weiter in die Leere des Platzes hinein, vor der sie gerade geflüchtet ist. Sie wird von dem bedrängend basedowschen Auge der lautlosen Kamera so vollkommen in Anspruch genommen, dass auch unsere begeisternd anfeuernden Rufe sie nicht zu erreichen scheinen. Immer weiter weicht sie zurück, tanzt den folgsamen Tanz der Kobra mit der disziplinierenden Flöte.
Schließlich hat sie die ganze verfügbare Weite unseres Marktplatzes überquert und stößt endlich mit dem Rücken gegen eine der zahllosen, anderen Kameras.
Falls sie noch nicht in Panik gewesen war, jetzt erreicht Regina sicherlich diesen Zustand. Ihr genetisch veranlagter Fluchtreflex ordnet die sofortige und unbedingte Befreiung aus der öffentlich verursachten Kameraklemme mittels einer seitlichen Bewegung an, und Regina gehorcht mit aller ihr noch zur Verfügung stehenden Kraft.
Leider hat ihre Panik die falsche Seite gewählt, und so bricht sie in die denkmalsgeschützte, weil ortsälteste, gläserne Ladentür unserer Fleischerei. Der Durchbruch gelingt ihr nur unvollkommen, womit als zwangsläufige Folge Kopf und Rumpf dem Boden getrennt entgegen sinken.
Die vereinigten Fernsehanstalten schalten auf Werbung und Verona signiert noch rasch ein paar Tiefkühlpakte Gemüse, natürlich für einen guten Zweck.
Stefan verabschiedet uns: »Dann bis morgen, liebe Zuschauer. Neuer Kandidat, neues Spiel.«
Und die städtischen Entsorgungsbetriebe beginnen auch gleich mit der Herstellung der ortsüblichen, reinlichen Zustände.

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Fundstellen

12. Januar
Ehrlichkeit hat den Vorteil, dass man besser schläft. Das gilt auch, wenn der Weg dorthin über die Lüge führt.


Heute, ich schaue gerade Verona, unserem unerklärlichen Medienstar, zu, wie sie die Drogerieabteilung im Supermarkt betritt, als ich über einen zwischen Pflanzenzubehör und künstlichem Moos abgestellten Aktenkoffer stolpere. Die Machart des Koffer deutet auf einen eher schlichten Geschmack seines unbekannten Besitzers hin oder anders und direkter ausgedrückt, er ist billig und wertlos, der Koffer.
Nun neige ich zu einem in der heutigen, egomanen Zeit unverständlichen Drang zur un– oder auch erbetenen Einmischung und deshalb beuge ich mich nach unten, nehme den Koffer auf, klemme ihn zwischen Regal (Flüssigdünger) und Hüfte, lasse die beiden Zahlenschlösser aufschnappen, hebe vorsichtig den Deckel und blicke auf ordentlich gestapelte und ebenso ordentlich gebündelte Geldpäckchen, jedes mit einer freundlichen Banderole, welche den Wert unterhalb ihres Umfangs mit genau DM 10.000.– angibt.
Da ich aber außer diesem unpraktischen Hang zur überflüssigen Anteilnahme geistig vollkommen intakt geblieben bin, will ich den Koffer nach dieser überraschenden Entdeckung umgehend seinem eigenen, dunklen Schicksal überlassen und ihn unbeobachtet zurückstellen. Leider wählt Verona gerade diesen intimen Moment, um von den Hygieneartikeln in meine Warenbucht mit dem Moos überzuwechseln. Mir bleibt eine unter normalen Umständen undenkbare Flucht, die ich bis in das übersichtliche Büro von Alfred, dem früh aufgestiegenen Stern am Einzelhandelsfirmament, verlängere.
»Das habe ich da draußen gefunden und für dich sichergestellt.« klatsche ich das billige Kunstleder des Koffers auf Alfreds mit kostenlosen Warenproben vollständig ausgelegten Schreibtisch. Alfred schätzt mit seinem täglich trainierten Geldblick die Gesamtsumme ein und schüttelt den Kopf: »Das ist niemals echt. Pack‘s ein und nimm‘s mit.«
»Moment!« Ich schiebe ihm resolut und ohne Rücksicht den Koffer über den Tisch zu. »Das ist eine Fundsache.« Alfred drückt mit beiden Händen dagegen: »Solche Dinge werden in meinem, einem anständigen, gutgeführten Geschäft nicht verloren. Also, raus jetzt.«
»Ich denke gar nicht dran!«
»Freies Einkaufen für einen Monat?«
»Zwei!«
»Gemacht!« Und schon stehe ich, mit dem Koffer, vor dem Laden.
Zwei Monate Schnorren bei Alfred ist eine Sache, aber ein Koffer voller Geld unbekannter Herkunft ist eine ganz andere und wesentlich bedenklichere Angelegenheit. Also suche ich Bodo, unseren anerkannten Winkeladvokaten auf, schildere ihm mein Problem und biete ihm den Koffer zur freien Verwendung an, nicht ohne ihm meine vollständige und grabestiefe Verschwiegenheit vorbeugend zu versichern.
Bodo lehnt sofort freundlich, aber entschieden ab, liefert mir aber dann doch, auf ebenso entschiedene Nachfrage meinerseits, eine einsehbare Begründung: »Die ganze Lebenserfahrung eines durchschnittlich korrupten Europäers erkennt in Bargeld ohne Zweckbindung sofort ein eindeutiges Kaufangebot, welches seiner Person gilt. Alle anderen Zahlungsvorgänge laufen selbstverständlich über Konten, schon um Betrügereien des eigenen Personals auszuschließen. Nun bin ich nicht länger käuflich, sondern habe bereits ein berufliches Stadium erreicht, in dem ich andere kaufe. Und deshalb kommen wir nicht zusammen.«
»Und wie komm‘ ich aus dieser Kiste unbeschädigt raus?«
Bodo reibt sich nachdenklich sein markantes Kinn. »Es gibt eine Randgruppe in unserer Gesellschaft, die sich eine gewisse Flexibilität in diesen Dingen erhalten hat. Du findest diese Leute überall. Mehr kann, will und darf ich dir nicht helfen. Viel Glück.«
Sorgenvoll, den verflixten Koffer beidhändig fest an meinen Bauch gepresst, stolpere ich, nach allen Seiten sichernd, über die letztjährigen Frostaufbrüche des Gehsteigs an der Hauptstrasse entlang. Hinter mir ruft jemand einen, meinen? Namen. Ich renne blind los und sehr kurz danach in einen die ganze Gehsteigbreite einnehmenden Tapeziertisch. Der Koffer fällt mir aus den Händen und auf die ausgelegten Broschüren.
»Ach, da ist er ja, unser Koffer. Danke fürs Bringen. Hier, noch druckfrisch.« Der Mann hinter dem jetzt wertvollen Tisch drückt mir eine seiner Broschüren in die Hand.
»Danke.« Ich winke ihm, hoffentlich überzeugend, nachlässig zu und quere über die Strasse. Niemand hält mich auf.
Drüben überfliege ich das Titelblatt der Broschüre: Unterstützen auch Sie unseren Anspruch auf die gesetzlich verankerte Unschuldsvermutung. Die Parteien

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Advocatus diaboli

15. Januar
Als die Welt fertig geschöpft war, versuchte sich auch Luzifer unerlaubt in diesem Handwerk. Heraus kam der ÖPNV und der Stamm der Verlorenen, die User von Bus und Bahn.


Heute, ich kontrolliere gerade hinter dem Rathaus den Stand der städtischen Verschwendung am Alter der dort abgestellten Dienstwagen, überrascht mich Horst, unser unkündbarer städtischer Bediensteter, auf den Knien vor dem Auto des Bürgermeisters.
»Der Schultheiß hat Urlaub, du kannst dir diese Form Ergebenheit derzeit also sparen.«
Verlegen stehe ich auf, klopfe mir den öffentlichen Staub von den Hosenbeinen meiner Jeans: »Wollte nur sicher sein, dass der TÜV nicht abgelaufen ist, nachdem die Regierung die Preise dafür erhöht hat.«
»Wir achten schon darauf, schließlich wird in diesem Rathaus gearbeitet.«
»Weiß ich doch.«
Horst steht allgemein im Rufe eines unaufhaltsamen, aber leider auch ungerichteten Fleißes. Sein Arbeitsvermögen überschreitet seine Fähigkeiten in der Ausführung erheblich, er hat in unserem Gemeinwesen eine Spur gutgemeinter, aber kostenintensiver Verwüstungen gelegt, an der zukünftigen Generationen noch abzuzahlen haben werden.
Seine letzten, mir bekannten, Wirkungen hat er hinterlassen, indem er die Kampagne der Parteien zur Einführung der gesetzlich verbindlich vorgeschriebenen Unschuldsvermutung organisierte. Wie wir alle wissen, war er nicht unbedingt sehr erfolgreich dabei, also stand zu vermuten, dass die Parteien eine für sie in den sonstigen, also uns betreffenden, Angelegenheiten unübliche Entschlossenheit gezeigt und Horst wieder einmal versetzt hatten. Ich unterstelle also: »Und was arbeitest du jetzt?«
»Ich bin der neue städtische Hauptverantwortliche für die Erstellung kundenfreundlicher Busfahrpläne.«
»Dann kriegen wir endlich einen vernünftigen Taktverkehr?«
Horst, ganz neu und verantwortlich und wie immer beflissen: »Aber ja.«
»Und was für einen?«
Er schaue mich zweifelnd an, kommt dann wohl zu dem Schluss, dass die unorganisierte Bürgerschaft, derzeit vertreten durch mich, wie immer nicht weiß, wie sie ihre ungeordneten Anliegen in verwertbarer Form an die Verwaltung heran zu tragen hat, also zu diesen Nachfragen Anlass gibt, welche durch die neue Politik der allgemeinen Bürgernähe verbindlich vorgeschrieben sind: »Was ist, deiner Meinung nach, ein Taktverkehr?«
»Nun, die Busse fahren in regelmäßigen Abständen, zum Beispiel alle halbe Stunde oder so.«
»Ach so. Sicher haben wir so was. Wir haben Takte zwischen 5 und 55 Minuten je Stunde. Nimm die Haltestelle gleich auf der anderen Straßenseite. Alle Busse fahren immer 3 Minuten nach der vollen Stunde. Und der nächste Bus fährt 8 Minuten nach.«
»Und dann, der nächste?«
»Ist doch logisch. Wieder 3 Minuten nach. Es sei denn, es ist gerade Vormittag, dann fahren die Busse 7 und 17 nach der Stunde, allerdings nicht zwischen 9 und 10, da fahren gar keine, und auch nicht von 10 bis 11, hier verkehren wir zur vollen und halben Stunde, allerdings nicht in den Ferien und am 23.12. , dann gilt immer 9 nach der vollen Stunde und 15 Minuten nach der halben, was aber nichts macht, den danach fahren wir öfter, zumindest bis Mittag. Ab dann herrscht aber wirklich Ordnung, nämlich 3 und 8 Minuten nach, nur zwischen 3 und 5 Uhr nicht, dann ist es 8 und 58 Minuten, was man besser aber als 2 Minuten vor ausdrückt. Und am Abend verhält es ganz einfach, einmal die Stunde, und zwar um 7 nach oder um 12 nach, und dann gäbe es noch 14 nach der vollen Stunde. Aber nur einmal, denn später fährt eh kein Bus mehr.«
»Wundert mich schon, dass bei dieser teuflischen Logik deiner Fahrpläne überhaupt noch Busse und Fahrgäste zueinander finden.«
»Ach, so ist das gedacht! Hab mich immer schon gefragt, wozu man diese Dinger braucht.«

:D

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Apokalypse

19. Januar
Sicher, heute können wesentlich mehr Leute das Wort Kulturpessimismus fehlerfrei buchstabieren als die Funktion einer Kaffeemaschine auch nur annähernd zu beschreiben.
Besonders, wenn zu der Übung frischer, automatisch gebrühter Kaffee gereicht wird.


Heute, die Polizei sperrt soeben vorsorglich die Hauptstrasse um eventuell zurücktretende Mandatsträger der Parteien vor Verletzungen zu schützen, sitze ich bei Alfred, dem kürzlich zur Alternative konvertierten Wirt, an der sonst leeren Theke und er zieht mal wieder gegen die vermeintlich aktuellen Abartigkeiten unserer modernen Welt vom Leder: »Da ist nur die Technik dran schuld. Die Atombomben haben unser Wetter versaut. Wegen dem Ozon haben wir ein Treibhaus. Und dieses Oxid sorgt dafür, dass die Pole schmelzen.«
»Welches Oxyd?«
»Na, dieses .. Bioxid, hat was mit ... Ach, du weißt schon, dieses Zeug, was aus den Autos hinten raus kommt.«
»Kohlendioxyd, CO2.«
»Genau. Und das kommt alles von der Technik.«
»Und Errungenschaften wie Medikamente und so was?«
»Gegen alles ist ein Kräutlein gewachsen! Gegen alles!«
Nun hat mich das Leben mehrfach und nachhaltig belehrt, wann es nicht weiter sinnvoll ist, Widerstand gegen Vorurteile auf ideologischer Basis zu leisten, aber draußen zieht sich der Himmel düster zu und ich leide unter dieser Langeweile, wie sie unser Ort überreich durch die tätige Bestandssicherung seiner Einwohner produziert. Also versuche ich Alfred wenigstens eine positive Beurteilung technischer Entwicklungen abzuringen: »Es kann doch nicht alles nur schlecht sein. Was hältst du von Autos?«
»Haste doch selber gesagt, dieses CU.«
»CO2. Und Flugzeuge.«
»Genauso.«
»Eisenbahn?«
»ICE-Unglück. Könnten alle noch leben.«
»Gut. Dann keine Verkehrsmittel. Wie ist mit Telekommunikation? Handys zum Beispiel?«
Alfred beugt sich über seine Theke, schiebt sein Gesicht schräg vor und zugleich hoch, bis er seine Nase genau vor meine gebracht hat: »Die sind das Schlimmste überhaupt. Die Dinger strahlen überall rum und kochen uns die Birne zu Käsesauce. Die sind der Untergang unserer Zivilisation.«
Hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite reißt ein Blitz den Himmel in zwei ausgefranste Teile.
Alfred beugt sich weiter vor: »«Und noch schlimmer ist, dass keiner mehr mit dem anderen redet, jeder telefoniert nur noch. Schau dir die Jungen da hinten an. Acht ..«
Der zugehörige Donner unterbricht ihn krachend. Als das Echo abgeebbt ist, tippt mir Alfred gegen die Brust: »Acht junge Menschen, Jungs und gesunde Mädels. Und acht Handys.«
In seine rhetorische Pause stürzt, vor der Tür, ein Wolkenbruch.
Alfred formt mit den Händen vor seinem Mund einen Trichter und schreit durch das Rauschen des stürzenden Regens: »Sie reden alle. Alle durcheinander. Und alle zugleich. Fast wie damals in Babylon.«
Ein weiterer Blitz leuchtet Alfreds Gesicht zur überbelichteten Schwarz-Weiß-Fotografie aus. Er scheint mir ziemlich aufgeregt. Ich warte den zugehörigen Donner ab. Dann: »Vielleicht sind wir schon mitten drin. Ist ein wirklich überirdisches Wetter da draußen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Warum nicht?«
Der schwarze Himmel zerfällt zur Bestätigung in eine feuergesäumte Patchworkdecke, und anhaltender Donner lässt das schale Bier in unseren Gläsern wieder aufschäumen.
»Babylon? Die Strafe?«
Wieder ein einzelner Blitz, er trifft die Spitze des Wetterhahns gegenüber. Ich schreie in den folgenden Donner: »Was tun Sie?« und zeige in Richtung der jungen Leute.
»Mein Gott, sie telefonieren immer noch.«
Diesmal treffen Blitz und Donner nahezu gleichzeitig ein, so nah und unmittelbar, dass das feurige Nachbild des Blitzes auf der Netzhaut im Infraschall des Donners vibriert.
»Passt doch, nicht wahr?«
Alfred erstarrt im Schlaglicht des nächsten Blitzes.
Und dann bricht das Wintergewitter so schnell in sich zusammen, wie es aufgezogen war.
Die jungen Leute telefonieren immer noch und das Abendland war nicht untergegangen.
Ich lege einen Schein auf den Tresen und wende mich zum Gehen. »War wohl noch zu früh für ein Gericht. Oder sie telefonieren einfach alle miteinander.«

:D

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Ungeliebt und oft genommen

22. Januar
Nicht die politische Entscheidung an sich ist wunderlich, sondern vielmehr ihr Zustandekommen oder dass es überhaupt soweit kommen konnte.

Heute, ich habe gerade die neueste Errungenschaft unseres Recycling-Komitees auf dem Rathaus empfangen und schleiche über die Seitenstrassen aus der Ortsmitte (Die Hauptstrasse ist immer noch gesperrt, obwohl die erwarteten zurücktretenden Mandatsträger der Parteien erwartungsgemäß auf sich warten lassen.), begegne ich, zufällig, aber passend, Gerhard, unserem flexiblen Kreistagsvorsitzenden, der vom kleinen Hans, seinem getreuen Kassenwart begleitet wird.
»Ihr habt anscheinend mal wieder was entschieden.«, beginne ich, nach einer mehr distanzierten Begrüßung, das fällige Gespräch, wer würde schon ein Machtzentrum ungenutzt an sich vorbeiziehen lassen?
Gerhard streift den Gegenstand in meiner Hand nur sehr flüchtig mit seiner Aufmerksamkeit, seine sonst medienwirksam glatte Stirn umwölkt sich kräuselnd: »Nicht gerade eines unserer Glanzstücke, aber immerhin, wir haben etwas bewegt. Lieber eine schlechte Entscheidung als gar keine Entscheidung, wie Volkes Stimme so richtig sagt.«
Der kleine Hans trägt bei: »Und kosten durfte es ja auch nichts, wie immer.«
Ich habe noch die Schlagzeilen im Gedächtnis, die in diesem Zusammenhang zweistellige Steigerungsraten in den Kosten gemeldet hatten: »Billig kam uns die Chose ja auch nicht!«
»Für NIX kriegt ihr auch NIX, das müsst ihr endlich mal lernen.«, hackt der kleinen Hans mit der Gewandtheit eines langen Trainings zurück.
Gerhard, der außer reichlich Flexibilität auch über ein feines Gespür für die Dinge verfügt, auf die es für ihn ankam, erstickt die beginnende Eskalation zwischen Bürger und Politik: »Ist doch auch das Geld wert, so schön bunt, schaut es euch doch nur mal richtig an.«
»Das würde mich interessieren.« und halte es Gerhard unter die markante Nase: »Wieso ist es bunt, und nicht wie gewohnt in eurer Parteifarbe?«
»Tja.«, und Gerhards zunehmend die Bildschirme füllendes Gesicht gewinnt eine Gesundheit vortäuschende, rosige Farbe: »Ein kleines Versäumnis in der Parlamentsregie.«
»Häh?«
»Nun, die Opposition fand heraus, dass wir im Gesetzentwurf, was übrigens allein schon ein unerhörtes Ereignis darstellt, lesen die einfach, was wir schreiben, die Opposition also fand, durch eine heimtückische Anwendung der Geschäftsordnung, heraus, dass wir die Farbe des Gegenstands im Gesetzentwurf nicht festgeschrieben hatten und schlug infamerweise unsere, man denke, unsere Farbe vor.«
»Dann war doch alles klar. Ihr nehmt die vorgeschlagene Farbe und habt, was ihr fahrlässig zu bedenken vergessen hattet.«
»Und der Bürger kriegt den Eindruck, dass die Opposition mehr von unserem Geschäft versteht als wir, die Regierung. Niemals!«
Der kleine Hans drängt sich zwischen uns und kräht: »Niemals!«
»Kusch!«, rufen Gerhard und ich, Politiker und Bürger in bisher ungekannter Einigkeit.
Gerhard fährt fort: »Nein. Ich schlug sofort zurück und die Farbe der Opposition vor. Damit war deren Farbe für dieses Projekt ebenfalls und endgültig aus dem Rennen.« Er schmeckt dem damaligen Blitzsieg infolge seiner allseits gerühmten Geistesgegenwart in der von ihm dazu eingelegten Gesprächspause nach. Dann: »Womit wir jetzt ein Farbproblem an der Backe hatten. Aber das ist ja unser politisches Tagesgeschäft. Wir setzten eine überparteiliche Expertengruppe ein. Die erstellte ein Gutachten. Und ein widersprechendes Gegengutachten.«
»Ich denke, die Experten waren überparteilich?«
»Wie man das halt so sagt. Also hatten wir jetzt zwei Gutachten auf dem Tisch liegen. Da entschieden wir politisch und nach dem gesunden Menschenverstand: Das Ding wird bunt.«
Ich steche mit den Fingern durch die groben Maschen des bunten, auf dem Rathaus empfangenen Einkaufsnetzes: »Und wie sollen wir damit Batterien sammeln. Die fallen doch da durch!«
»Nun.«, setzt der flexible Gerhard an: »Nun.«, setzt er ein zweites Mal an: »Nu..« versucht er es wiederum, als endlich der kleine Hans seiner Pflicht zur Verlautbarung unvermeidbarer Grausamkeiten nachkommt: »Wir kriegten NIX anderes in Bunt. Aber das liegt eben in der Natur des politischen Kompromisses.«

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Notverkauf

26. Januar
Laut den neuesten, statischen Erkenntnissen verweigern sich die Verbraucher bereits im fünften Jahr in Folge erfolgreich dem Konsum.


Heute, mein Funkwecker hatte am verschlafenen Morgen einen akuten Bedarf an Batterien geweckt, begebe ich mich in das vom örtlichen Einzelhandel dafür vorgesehene Fachgeschäft.
Kurz hinter den Detektoren der Warendiebstahlssicherungsanlage ruft mich eine sich vor Anspannung überschlagende Stimme an: »Halt! Stehen bleiben! Oder wir beschädigen die Geisel!«
Unter diesen Umständen erscheint es mir sehr angebracht, diesen dramatischen Anweisungen nachzukommen und gleichsam fortlaufend Vollzug zu melden: »Ich stoppe. Ich stehe. Ich habe angehalten. Ist das so gestoppt genug?«
»In Ordnung!« ruft es, immer noch sehr beunruhigt, hinter den Regalen für die täglichen, technischen Fälle des Lebens wie Verlängerungskabel hervor, und: »Sind Sie endlich von der Polizei?«
»Nein! Aber die wird sicherlich keine Zeit haben. Die bewachen immer noch die bisher nicht zurückgetretenen Mandatsträger der Parteien an der Hauptstrasse. Glaube auch nicht, dass das diese Woche noch was wird.«
»Und wer sind Sie dann?«
Mir scheint es sinnvoll, unseren gebrüllter Dialog durch einen persönliche Inaugenscheinnahme verständnisfördernd, ich hatte vorhin doch wirklich Geisel verstanden, zu unterstützen und so gehe ich kurzerhand um das betreffende Regal herum.
Dahinter finden sich Lotti und Otti, das anerkannt cleverste Fachhändler-Inhaberehepaar unseres Ortes, beide halten ein Ende eines hochwertigen Lautsprecherkabels in der Hand, welches Hera, unsere allgegenwärtige Kultur-Blondine, schwer trennbar mit einem gelben Kunststoff-Küchenhocker aus dem Sonderangebot (DM 9,99) verbindet.
»Ihr habt ja wirklich eine Geisel!«, stelle ich fest.
»Sicher. Dies ist eine durchaus ernstgemeinte Aktion.«
Ich überwinde die restliche Distanz, nicke Hera freundlich zu und schüttele Lotti und Otti die jeweils noch freie Hand, schließlich kennt man sich ja: »Und was bezweckt ihr damit?«»3,5 Prozent Umsatzwachstum in diesem Jahr. Mit einer Regierungsgarantie.«, Lotti ist auch sonst für das Kommerzielle zuständig.
»Nicht unbedingt eine Aktion nach dem Marketinglehrbuch.«
»Haben wir alle schon durch!«, sagt Lotti.
»Anzeigenaktionen, seriös, informierend.«, zählt Otti auf.
»Die Kunden übten Zurückhaltung.«, ergänzt Lotti.
»Anzeigen, humorvoll, modern.«
»Die Kunden gingen vorbei.«
»Treuerabatte.«
»Die Kunden gingen fremd.«
»Sonderpreise!«
»Die Umsätze brachen ein.«
»Preisnachlässe!«
»Die Gewinne schmolzen.«
»Ausverkäufe!«
»Die Verluste wuchsen!«
»Ständige Sonder-Verkäufe mit besonders reduzierten Mini-Preisen!«
»Wir gingen pleite!«
»Diese Geisel ist unserer letztes Aufgebot!«, rufen Lotti und Otti, gemeinsam und entschlossen.
»Aber.«, beginne ich: »Aber, wenn eure anderen Aktionen die herrschende Konsumverweigerung potentieller Kunden nicht aufgebrochen haben, warum sollte jetzt diese Aktion plötzlich funktionieren. Und dann auch noch mit Hilfe der Regierung.«
Lotti und Otti unterliegen nach diesen einfachen, aber klaren Worten jäh und sichtbar der von ihnen immer schon geahnten, nie eingestandenen, aber allseits grassierenden Hoffnungslosigkeit, sinken links und rechts von Hera auf ihrem Küchenhocker zu Boden und verbergen ihre bleichen Gesichter in den Händen: »Keine Chance?«
»Ich sehe keine reelle Möglichkeit.« Dann drehe ich mich zu dem Verkaufsständer mit den Batterien, suche und finde den passenden Typ und sage: »Freut mich, dass ich euch helfen konnte. Bemüht euch nicht weiter, ich leg das Geld passend in die Kasse. Tschüss.«
Und hinter mir beginnt ein bitterliches Beweinen der fortdauernden Tristesse des deutschen Einzelhandels.

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Paps

29. Januar
Die Ereignisse um die Parteispendenaffäre hatten das Ansehen der Politiker auf einen neuen, ungeahnten Tiefpunkt gedrückt. Also musste eine Lösung her.
Schnell!


Heute, in den Medien umgehen die Anwälte der Parteien die Wahrheit auf den bekannten juristischen Wegen, folge ich einer Einladung der Gesellschaft für gesellschaftliche Entwicklung mit beschränkter Haftung in unser örtliches, wenig ausgelastetes, aber überdimensioniertes Konferenzcenter. Den Zweck des Treffens hatte die Gesellschaft mit: »Lassen Sie sich überraschen!« angegeben.
Nach einem kurzen, aussageschwachen Werbevideo (finanziert durch mehrere EU-Kampagnen) betritt Bodo, unser allseits geachteter Advokat für öffentliche Winkelzüge die Bühne und moderiert: »Schön, dass Sie gekommen sind, meine Damen und Herren.
Wie Sie alle wissen, und manche von uns aus leidvoller, eigener Erfahrung, befindet sich das Ansehen politisch tätiger Menschen in diesem Lande aus unerfindlichen Gründen in einem unaufhaltsamen Abwärtstrend. Wir, die Gesellschaft für gesellschaftliche Entwicklung mit beschränkter Haftung, abgekürzt GegH, haben uns dieses Verfalls angenommen und sind heute und mit allem Stolz, den diese große Sache verdient, in der Lage, einen einwandfreien Ausweg aus dem sich für Sie stellenden Dilemma zu präsentieren.
Meine Damen und Herren!« Bodo legt eine sorgfältig kalkulierte Pause ein. »Sehen Sie hier..«, er weist mit weit ausholender Geste zum linken Bühnenrand, der von ihm aus natürlich der rechte Bühnenrand war, womit die politisch ausgeglichene Ortslehre erfüllt und die GegH ihrem überparteilichen Auftrag nachgekommen ist: ».. den ersten Prototyp des anonymen, demokratisch legitimierten, sozialverträglichen, populären Undercover-Politikers.«
Durch den Vorhang am fraglichen Bühnenrand streckt sich vorsichtig ein Kopf, dann ein Oberkörper und schließlich tritt ein junger, gefällig aussehender, potentielle Schwiegermütter beeindruckender Mann schnellen, entschiedenen Schrittes zur Bühnenmitte und Bodo. Der dreht den jungen Mann einmal um dessen Mittelachse und erläutert: »Es wird, meine Damen, später natürlich auch eine feminine Ausführung geben, aber wir haben uns, aus technischen Gründen, vorerst auf das einfachere, männliche Exemplar beschränkt.« Allgemeine Heiterkeit im Saal, besonders auf der rechten Seite, wo bei uns, traditionell getrennt, die Frauen sitzen.
Bodo fährt fort: »Wie also müssen Sie sich das für Sie segensreiche Wirken unserer Entwicklung, die Sie mit Paps, der Begriff demokratisch hat sich wie immer gegen eine Integration gesperrt, abkürzen können, wie also müssen Sie sich das in der Praxis vorstellen?
Zuerst steht ein kleiner, formaler Vorgang. Sie beschließen auf dem nächsten Parteitag, und wir haben das geprüft, die einfache Mehrheit reicht dafür aus, die unbeschränkte Entscheidungsgewalt über ihren derzeitigen Listenplatz. Damit ist sichergestellt, dass Sie auf diesen Platz setzen können, wen immer Sie wollen. Laut unseren Erhebungen unter Mandatsträgern geht das glatt, und vor allem von der Öffentlichkeit unbemerkt, durch.
Im zweiten Schritt entscheiden Sie sich für eines unserer Modelle und schicken es, unter Ihrem Namen, in den politischen Alltag. Wir sorgen für die psychisch notwendige Konditionierung wie Linientreue und so weiter, wir garantieren Ihnen ein im Sinne Ihrer Partei fehlerfreies Abstimmverhalten für mindestens 1.000 Gesetze, wobei es keine Rolle spielt, ob ihr Substitut die fraglichen Gesetze versteht oder nicht.
Immer wenn Ihr Auftreten in der Öffentlichkeit erforderlich wird, hält Ihr Vertreter seinen aus ABM-Mitteln finanzierten Kopf hin, so dass Sie keinerlei Einbussen an Ihrer zukünftigen Lebensqualität mehr zu befürchten haben. Denn, wen werden die faulen Eier treffen, die enttäuschte Bürger nach Ihnen werfen werden? Und wer wird sich den hämischen Fragen der Politpaparazzi aussetzen müssen? Und wer muss zukünftig im Parlament rumsitzen und mit dem Schlaf kämpfen, während vorn am Pult die übliche Verächtlichmachung des jeweiligen politischen Gegners und seiner Konzepte abläuft?
Die Antwort lautet immer: Paps!
Paps! Das ist die Lösung aller Ihrer Probleme in diesem undankbaren Land, das seine Mandatsträger grundlos so abwertend beurteilt.
Noch Fragen. Meine Damen und Herren?«
»Und warum sozialverträglich?«
Bodo greift in den jugendlich üppigen Haarschopf von Paps und zog dran. Unter der sich ablösenden Maske kommt Helmut, unser örtlicher Gendefekt, zum Vorschein.
»Weil wir damit auch ihm eine ordentliche Chance geben. Sind wir nicht wirklich gut?«

:D

crossfire

 
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Gallenbitter

2. Februar
Arbeitslose leben im Durchschnitt 5 Jahre weniger als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Und das ist noch steigerungsfähig.

Heute, die Parteien beschäftigen immer noch alle Anwälte mit Verdunklungsangelegenheiten, so dass dem Bürger kein Recht übrig bleibt, begleite ich, als potentieller Zeuge, Franz, unseren Langzeitarbeitslosen, aufs Arbeitsamt.
Wir warten uns bis zum Sprechzimmer unterhaltend vor, Franz erzählt von seinen Träumen, die sich alle um angebotene Arbeit drehen, und er erzählt von seinem Pech, ausgerechnet in dem Land zu leben, das die geringsten Fortschritte bei der Schaffung von Arbeitsplätzen in weitem Umkreis macht, und schließlich erzählt er von seiner Angst, dass er mit jedem Tag den Anschluss ein wenig mehr verlieren könne, der Abstand zur möglichen Arbeit größer und er für dieses Leben endgültig verspielt haben würde: »Immerhin bin ich schon 45. Also bereits ohne richtige Chance, wie mir die Arbeitsberaterin versicherte. Wenn ich Astronaut wäre. In dem Job zählt Erfahrung noch was. Aber hier unten. Null Chancen!«
Bevor sich Franz weiter in ausgreifender Betrachtung seiner hoffnungslosen Situation deprimieren kann, werden wir aufgerufen und vorgelassen.
Die Arbeitsberaterin wickelt die Routine zügig unpersönlich ab: »Haben Sie inzwischen Arbeit? .. Nein. .. Wir haben auch kein Angebot für Sie. .. Nein, für eine Umschulung kommen Sie nicht in Frage. .. Ja, das Alter. .. Sie müssen sich halt zusammenreißen. .. Und Ihre Ansprüche zurückschrauben. .. Müssen Sie halt nehmen, was sich bietet. .. Sicher, bei dem herrschenden Überangebot stellt niemand überqualifizierte Mitarbeiter ein, warum auch, es gibt ja genug, die passen. .. Aber die Regierung hat ja schon was getan.«
»Wie?«
»Damit Sie sich in Ihren Bemühungen um Arbeit positiv motiviert fühlen, verzichtet die Regierung auf eine mögliche Kürzung Ihrer Arbeitslosenhilfe. Allerdings nur, wenn Sie sich auch glaubhaft bemühen.«
Franz, dessen linkes Bein in dem engen Schacht unter dem Schreibtisch unabsichtlich immer wieder mit mir Kontakt findet, beginnt dort unten zu zittern: »Und wie stelle ich ausreichend und glaubhaft meine Bemühungen dar, so dass die Regierung sie auch anerkennt?«
Ich wiederhole leise diesen ausgereift formulierten Satz und empfinde Achtung vor diesem spezialisierten Wissen, das sich Franz in den vergangenen Jahren zwangsläufig angeeignet haben muss. Hier zeigt sich, dass der Überlebenskampf heutzutage an vielen Fronten geführt wird, und teilweise mit seltsamen Mitteln.
Franz, im Vollbesitz des Gefühls seiner jahrelanger Diskreditierung, hat genau den für ihn wunden Punkt des Regierungsvorhabens gefunden, und bevor die Arbeitsberaterin die vorige Frage beantworten kann, stellt er bereits die nächste: »Oder gibt es inzwischen mehr offene Stellen als Arbeitslose?« Sein linkes Bein unter dem Tisch tanzt veits.
»Aber Franz. Du bist doch bisher gut mit uns durch die Jahre gekommen.«, versucht die Arbeitsberaterin ihn zu beruhigen: »Wir schaffen das schon.«
»Ich kann aber jetzt schon nicht mehr!« Franz schießt das Wasser sichtbar in die Augen.
Die Arbeitsberaterin langt neben sich, sucht in ihrer Handtasche, findet ein Päckchen Papiertaschentücher und reicht sie ihm über den Schreibtisch.
Franz wischt sich die Augen, wieder und wieder, und in den Pausen zwischen den Bewegungen, während er neues Wasser sammelt, während er den Zellstoff des Taschentuchs knetet, spricht er vor sich hin, teilt der formularbedeckten Schreibtischplatte seine akute Hoffnungslosigkeit mit.
Dann scheint er sich gefangen zu haben, er reicht das Päckchen mit den verbliebenen Taschentüchern über den Tisch, streift aber mit der Rückwärtsbewegung seines Armes das dreikantige Namensschild der Arbeitsberaterin vom Tisch, es fällt scheppernd neben seinen rechten Fuß.
»Laß es liegen.« sagt die Frau hinter dem Schreibtisch, aber Franz bückt sich schnell und beflissen, greift das Schild und will so schnell wieder hoch, wie er heruntergekommen war. Er hat die sitzende Senkrechte schon fast wieder erreicht, als ein leises Beben durch seinen Oberkörper geht und er sanft zu Boden sinkt.
Ich knie mich neben ihm nieder, prüfe den Puls seiner Halsschlagader, finde nichts. »Aus!«
»Ja. Arbeitslosigkeit ist ein tödliches Gewerbe.«

:D

crossfire
 
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