Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die sechs edlen Tugenden ansprechen, die jeder, der nach der Wahrheit sucht, laut Swami Sivananda besitzen sollte. Es wäre aber zu umfangreich, alle sechs Tugenden einzeln anzusprechen. Darum möchte ich mich auf eine allgemeine Beschreibung dieser sechs Tugenden beschränken. Wer sich detailliert über die sechs Tugenden informieren möchte, sollte die Seite von
Swami Sivananda lesen. Aber vorsichtig, die Seite ist haarig, da sie mit Sanskritbegriffen gespickt ist, die den Text für den Sanskritunkundigen schwer verständlich macht. Ihr könnt den Text allerdings auch in einer "übersetzten" Form von mir bekommen. Das dürfte einiges vereinfachen.
Hier nun also der Text:
Die sechs edlen Tugenden
Ein Schüler auf dem Weg zur Wahrheit muß sich mit den vier Mitteln zu Befreiung ausstatten, nämlich 1. Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen (Viveka), 2. Leidenschaftslosigkeit (Vairagya), 3. den sechs edlen Tugenden (Shat Sampat) und 4. dem intensiven Wunsch nach Befreiung (Mumukshutwa). Nur dann kann er ganz furchtlos den Weg beschreiten.
Kein Jota spirituellen Fortschritts ist je möglich, wenn man nicht tatsächlich diese vierfache Qualifikation hat. Diese vier Mittel sind so alt wie die Veden oder die Welt selbst. Jede Religion schreibt diese vier grundlegenden Voraussetzungen für den Aspiranten vor. Nur die Namen sind unterschiedlich. Nur unwissende Menschen führen Krieg mit Worten und stellen unnötige Fragen. Brahma Vidya (das Wissen um Brahman), die Wissenschaft vom Selbst, ist kein Thema, das durch bloßes intellektuelles Lernen, Überlegen oder Schlußfolgern verstanden und verwirklicht werden kann, auch nicht durch Diskussion und Streit. Es ist die allerschwierigste Wissenschaft.
Nur wissenschaftliche Bildung und ausgedehnte Studien mit hohen Anforderungen an die Intelligenz allein können dem Menschen nicht bei der praktischen Verwirklichung der Wahrheit, die in dieser Wissenschaft enthalten ist, helfen. Sie verlangt vollkommene Disziplin, eine Disziplin, die man an unseren modernen Universitäten und Hochschulen nicht findet, ein striktes Sadhana (spirituelle Übungen) zur Erlangung des Ziels, das unter dem Begriff Höchste Wissenschaft, zu verstehen ist.
Viveka ist die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, dem Dauerhaften und dem Vergänglichen und dem Selbst und dem Nichtselbst. Viveka darf keine kurzlebige oder zufällige Laune des Aspiranten sein. Ein Mensch mit Unterscheidungskraft ist immer achtsam und läßt sich nie in etwas verstricken. Ein Mensch mit Unterscheidungskraft erfährt innere Stärke und geistigen Frieden. Aus Unterscheidungskraft entsteht Leidenschaftslosigkeit.
Vairagya ist Leidenschaftslosigkeit, nicht aber die Aufgabe sozialer Pflichten und Verantwortlichkeiten im Leben. Ein leidenschaftsloser Mensch hat keine Zu- oder Abneigung. Ein weltlicher Mensch ist Sklave dieser beiden mächtigen Ströme. Ein leidenschaftsloser Mensch hat eine andere Ausbildung. Er macht überhaupt eine andere Erfahrung. Er ist ein Meister in der Kunst oder Wissenschaft des Sichlösens von Nichtdauerhaftem und Vergänglichem. Ein leidenschaftsloser Mensch ist der stärkste, glücklichste und reichste Mensch auf der Welt.
Die dritte Voraussetzung ist die sechsfache Tugend. Sie besteht aus 1. Gelassenheit, 2. rationale Kontrolle der Sinne, 3. das vehemente Abwenden des Geistes vom Wunsch nach Sinnesvergnügen 4. Duldungskraft, also das Freisein von Furcht oder Wehklagen gegenüber allen Übeln des Lebens 5. festes Vertrauen in die Worte des Gurus 6. geistiges Gleichgewicht durch Aufmerksamkeit. Die sechs Teile werden als eines gesehen, denn sie sind alle dazu bestimmt, Geisteskontrolle und Disziplin zu bringen. Konzentration und Meditation können ohne Geisteskontrolle und geistige Disziplin niemals möglich sein.
Samadhana (geistiges Gleichgewicht)
Samadhana ist geistiges Gleichgewicht durch Aufmerksamkeit. Es ist die Frucht der Praxis von Gelassenheit und Ruhe des Geistes (Sama), die Kontrolle der Sinne (Dama), dem vehementen Abwenden des Geistes vom Wunsch nach Sinnesvergnügen (Uparati), der Duldungskraft, alle Unbilden mit Gleichmut zu begegnen (Titiksha) und dem festen Vertrauen in die Worte des Gurus (Shraddha). Jetzt herrscht vollkommene Konzentration. Es ist das Festhalten des Geistes auf Atman, ohne ihm zu erlauben, sich Objekten zuzuwenden und seinen eigenen Weg zu gehen. Es ist Festigkeit in sich selbst. Shri Shankaracharya definierte es in seinem Atam Anatma Viveka (Kommentar): Immer wenn ein Geist, der beschäftigt ist mit dem Hören spirituellen Wissens, Nachdenken und Schlussfolgern und mit tiefer und intensiver Meditation über eine einzige Wahrheit, zu einem weltlichen Objekt oder Wunsch wandert, diese wertlos findet und wieder zu den drei Übungen zurückkehrt - wird dieses Zurückkehren geistiges Gleichgewicht genannt. Der Geist ist frei von Furcht und Schmerzen. Es herrscht Gleichgültigkeit inmitten von Freude. Es herrscht Festigkeit des Geistes, geistige Ausgewogenheit. Der Aspirant oder Praktizierende ist in jeder Hinsicht ohne Verhaftung. Er kennt weder Zu- noch Abneigungen. Er hat sehr viel Geisteskraft und inneren Frieden. Er hat unerschütterlichen, höchsten geistigen Frieden.
Manche Aspiranten haben geistigen Frieden, wenn sie in Abgeschiedenheit leben, und wenn es keine ablenkenden Faktoren oder Elemente gibt. Sie klagen über starkes Schwanken des Geistes, wenn sie in eine Stadt kommen und Kontakt mit Menschen haben. Sie sind völlig durcheinander. Sie können an einem belebten Ort nicht meditieren. Das ist eine Schwäche. Das ist kein Erfolg im geistigen Gleichgewicht. Diese Menschen haben keine geistige Ausgewogenheit oder Gelassenheit. Nur wenn ein Schüler seine geistige Ausgewogenheit auf einem Schlachtfeld, wenn es rundum Kugeln hagelt, genauso bewahren kann wie in einer einsamen Höhle im Himalaja, nur dann kann man wirklich sagen, er ist im geistigen Gleichgewicht voll verwurzelt. Shri Krishna sagt in der Gita: Tue alle Handlungen, und ruhe in der Einheit mit dem Göttlichen, verzichte auf alle Verhaftungen, und sei gelassen in Erfolg wie Mißerfolg. Das ist geistiges Gleichgewicht. Wieder sagt die Gita (heilige Schrift): Das disziplinierte Selbst, das sich zwischen den Sinnesobjekten bewegt, wobei die Sinne weder Zu- noch Abneigung haben und vom Selbst beherrscht werden, geht zum Frieden. Das ist auch geistiges Gleichgewicht.
Schließlich kommen wir zur vierten Hauptvoraussetzung. Das ist der intensive Wunsch nach Befreiung oder Freisein vom Rad von Geburt und Tod mit seinen Begleitübeln wie Alter, Krankheit, Täuschung und Sorge. Wenn ein Mensch die genannten Voraussetzungen hat, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen (Viveka), Leidenschaftslosigkeit (Vairagya) und die sechsfache Tugend kommt der intensive Wunsch nach Befreiung oder Freisein vom Rad von Geburt und Tod (Mumukshutwa) von selbst. Der Aspirant muß die vier Mittel mit höchster Intensität üben. Die Reihenfolge der vier Sadhanas (spirituellen Übungen) ist absolut von Bedeutung. Der Aspirant, der die vier Mittel besitzt, ist eine gesegnete Göttlichkeit auf dieser Erde.
Sorry, für den etwas längeren Text. Ihr wisst, dass ich selber lange Texte auch nicht mag, weil sie dazu verleiten, dass man die Lust am Lesen verliert. Aber in diesem Fall wusste ich mir nicht anders zu helfen.
Noch zwei Bemerkungen: Ich habe zwei Sätze unterstrichen, weil leider immer wieder einige Advaita-Anhänger behaupten, um das alles zu verstehen, sei eigentlich kein Wissen erforderlich. Eigentlich eine Ironie, Advaita, der Yoga des Wissens, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, das vor allem der Intellekt gefragt ist.
Und da immer wieder behauptet wird "es gibt nichts zu tun, es regelt sich eigentlich alles von Selbst" möchte ich die Behauptung aufstellen, dass sich keineswegs alles von Selbst regelt, sondern dass unendlich viel Arbeit erforderlich ist, um sich z.B. von den Verhaftungen zu lösen, um geistiges Gleichgewicht und die sechs edlen Tugenden zu erlangen.
Alles Liebe. Gerrit