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Lutz aber, der Kollege von Obermaier, ging aus und sah sich abermals um unter den Töchtern des Landes.
Obermaier stieß vor dem Präsidium zu Lutz, und zwar in den rechten Kotflügel des Ersatzwagens.
»Entschuldige, aber ich war in Gedanken.«
»Das glaubt keiner, der dich kennt. Ich hab´ noch was vergessen. Ich muss noch mal weg.« Lutz war Obermaiers Gesellschaft unerträglich und er floh vor ihm an die Ufer des Mains.
Der Fluss ging immer noch ruhig zu Tal und zeigte ausser den Stechmücken wenig Leben. Lutz bemerkte die als Fender verwendeten Autoreifen an einem Binnentanker, dachte: »Die Scheiben verfolgen mich.«, stellte fest, dass Reifen eher Ringen entsprechen und beruhigte sich, nahm den Rhythmus des Stromes vor sich auf und nickte ein.
Wir wollen Sie schonen und verzichten deshalb auf die Schilderung der allfälligen Träume, Sie können ja Kapitel 21 noch einmal lesen. Für den Autor schläft Lutz tief und traumlos, denn lässt man alle notwendige und gebotene Vorsicht bei¬seite und zerreisst das feste Band zur Realität, dann lebt Lutz bereits in einem Alptraum und ein Traum in einem Traum findet höchstens in einem schlechten Roman statt. Wir aber haben uns der Pflicht dokumentarischer Berichterstattung geweiht und sind so hautnah an der Realität, dass wir selbst kleinsten Pickeln ausweichen müssen.
Lutz ist durch diese Beteuerungen aufgewacht, er wirkte orientierungslos und verwirrt und fuhr zum Palais d´Amour. Mitzi schien ihn erwartet zu haben, denn sie stand bereits unten auf der Strasse.
Sie führte ihn nicht in ihr nüchternes Büro, sondern in das eigentliche Lokal, welches sich als schlecht beleuchtet, billig möbliert und auch sonst ziemlich geschmacklos erwies.
»Das hätte ich nicht von dir gedacht.« begann Lutz mit der Konversation, nachdem sie sich an einem kleinen, runden Tisch niedergelassen und zwei Gedecke zu 40 Mark, geordert hatten.
»Und was hast du gedacht?« entgegnete sie schnippisch.
»Ich habe dich für eine anständige Frau gehalten, trotz der schlechten Adresse.«
»Und nun glaubst du an was anderes.«
»Richtig.« stimmt ihr Lutz zu, froh, dass sie es so gelassen aufnahm.
»Und was glaubst du?« Sie nahm es doch nicht so gelassen auf, wie es zuerst geschienen hatte.
Lutz stotterte so heftig, dass sich eine Wiedergabe an dieser Stelle aus Gründen, die nur den Autor etwas angehen, verbietet. Zugleich ertönte aus dem finsteren Hintergrund sardonisches Gelächter. Lutz sprang auf.
»Ich will das jetzt wissen.« beharrte Mitzi energisch.
»Wer bezahlt die Drinks?« rief ihm die Bedienung hinter-her.
Das Gelächter entfernte sich in Richtung Ausgang, Lutz hinter sich herziehend.
Draussen war inzwischen die Dunkelheit angebrochen, wie sie es um diese Tageszeit zuweilen zu tun pflegt, so dass sich die Lichtverhältnisse zwischen Drinnen und Draussen nicht allzusehr unterschieden. Das Gelächter blieb unsichtbar zehn Meter vor Lutz und hielt den Abstand konstant. In dem ungewissen Licht der spärlichen Strassenlampen glaubte Lutz eine hastende Figur auszumachen, die die Quelle des Gelächters zu sein schien, aber glauben heisst nicht wissen. Die kreischenden Laute des Gelächters stellten das für Lutz einzig erkennbare Ziel dar und verband ihn mit seiner Beute.
Sie jagten die anrüchige Strasse entlang und bogen in eine noch anrüchigere Seitenstrasse ab, es stank nach Kot, Urin und Steuererhöhung. »Wir müssen hinter dem Finanzamt sein.« fuhr es Lutz durch den Kopf und das Bild des gekreuzigten Friedrichs entstand ohne sein Zutun in seiner Vorstellung, erschreckte und verlangsamte ihn.
Die enge Gasse hallte voll von Gelächter. Die Quelle war jetzt direkt vor ihm, obwohl er sich nicht bewegte, er würde nur zugreifen müssen.
Dann, nach einer letzten, blechernen Steigerung, brach das Gelächter so unvermittelt ab wie es in dem Lokal angefangen hatte. Ringsum gingen die Lichter an, die Fenster wurden geöffnet und die Beschimpfungen begannen: »Frechheit, das! Ruuuhhheee!!! Immer diese Typen! Wo leben wir eigentlich? u.s.w.«
Lutz wollte sich umschauen, gab aber diesen Gedanken auf, als ihn eine unbekannte Flüssigkeit von oben traf und er flüchtete auf die Strasse. Dort erwartete ihn sein Auto.
Obermaier wollte, wie immer, Bericht erstatten, aber Lutz schnitt ihm das Wort ab und benutzte es selber zu einer ausgiebigen und nur leicht retuschierten Erzählung über die Ereignisse der letzten Stunden. Die Szene mit der Jagd auf das Gelächter gewann im Nachhinein die Dimension einer Herbstjagd des Fürsten von Waldburg - Zeil und Wolfegg unter Hinzuziehung aller fünfhundert tributpflichtiger Bauern.
Obermaier lieferte die gewünschten Laute des Erstaunens und verdarb den guten Eindruck nur ganz am Schluss, als er überflüssigerweise bemerkte: »Wenn du ihn geschnappt hättest, hätten wir jetzt Feierabend.«
»Ich danke dir für diese Würdigung meines persönlichen und unter Einsatz meiner Gesundheit durchgeführten Einsatzes. War das jetzt ein etwas seltsamer Satz?« fragte Lutz am Ende seiner Ausführungen.
»Er war.« pflichte Obermaier bei. »Darf ich jetzt auch mal was sagen, ohne gleich wieder unterbrochen zu werden?«
»Wenn es sein muss?«
»Ich habe den Nachmittag nicht in der Gesellschaft zweifelhafter und polizeibekannter, sogenannter Damen verbracht, sondern handfeste, konventionelle Polizeiarbeit geleistet und sämtliche Büros der Opfer untersucht.
Alle waren bekennende Mitglieder der Hohlweltgesellschaft.«
Nein, höre ich die Leser rufen, nicht schon wieder eine dieser obskuren Gesellschaften, am besten auch noch mit Gründungsurkunde und Legende ausgestattet. Aber leider, lieber Leser, da muss man durch. Das Leben ist voller Enttäuschungen, da kommt es auf diese Eine auch nicht mehr an. Und ich versichere Ihnen, es wird nicht die Letzte sein, aber wir fassen uns kurz und lassen die Gründungsurkunde weg, die Legende aber müssen Sie ertragen.
»Kannst du nicht einen Bericht schreiben?« fragte Lutz schüchtern, denn manchmal zeigte Obermaier Mitleid. Nicht so jetzt:
»Nein. Das ist viel zu gut, das musst du dir anhören. Also, nachdem sich die Kirche mit ihrer Vorstellung durchgesetzt und alle ihre Schäfchen auf der vatikanischen Scheibe versammelt hatte, gebaren die Kräfte, denen Opposition ein Naturgesetz zu sein scheint, die Idee der Welt als Kugel. Leider ließen sich einige unstrittige Erscheinungen wie die damals nachgewiesenen und später sich in Nichts auflösenden Himmelssphären nicht mit dieser Idee in Einklang bringen, und so kehrten sie das Äusserste nach innen und nahmen an, dass wir auf der Innenseite einer riesigen Hohlkugel leben.
Diese Idee gedieh im Untergrund, denn abweichende Meinungen wurden damals öffentlich auf dem Scheiterhaufen gleichgeschaltet.«
»Ich weiss.« versuchte Lutz abzukürzen, aber Obermaier wurde von der Trägheit der Erzählmasse weitergetragen.
»Das war alles noch vor Galilei, Kopernikus und Kepler, selbst Tycho Brahe spielte noch im Sandkasten und schlief in der Nacht, anstatt Sterne zu beobachten.
Dann setzte sich die Kugelform doch durch und die Scheibengläubigen mussten in den Untergrund, wollten sie nicht verlacht werden. Die Kirche machte das einzig Richtige, sie ließ das Thema fallen und griff es beharrlich nicht mehr auf.
Die Hohlweltleute aber hatten jetzt noch ein viel grösseres Problem.
Die Kugelleute hatten einen Drang zu den Wissenschaften und machten sich daran, die für ihre Anschauung notwendigen Naturgesetze zu erfinden. Und sie waren damit so erfolgreich, dass heute Niemand mehr ernsthaft öffentlich an der Kugelform zweifelt, sogar die Sekundäreffekte wie diese Mondlandungen und Astronauten sind anerkannt.
Und so blühen abweichende Meinungen nur noch im Verborgenen, in elitären Zirkeln von Leuten, die wirklich wissen, was abgeht.«
»Und was hat das mit den Morden zu tun?« fragte ein sehr müder Lutz.
»Irgendwas hat diesen Gleichgewichtszustand gestört. Und die Gegenseite rächt sich jetzt.«
»Und wer, bitte soll diese Gegenseite sein?«
»Na, die Scheibenleute.«
»Haben wir noch Kaffee, oder besser, Schnaps?«
»Es müsste noch was vom letzten Betriebsfest übrig sein.«