Satirischer Fortsetzungsroman

21


Der Lutz nahm sich der Sache an, wie er es gesagt hatte.
Der Kaffee auf der nicht abgeschalteten Warmhalteplatte hatte bis zu Lutz´ Rückkehr Espressoqualität entwickelt und roch so stark und dick, wie er in die Tasse floss.
Draussen vor dem Fenster begann der Tag in das üblich sinnlose, aber grossstädtische Rasen zu verfallen, drinnen walteten die züchtigen Beamten mit der langen Anlaufzeit. Geschirrklappern und Kaffeemaschinenröcheln drang aus allen Büros. Lutz schloss die Tür und genoss das wohlig zerschlagene Gefühl am Ende einer durchgebrachten Nacht.
Mit dem heissen Becher in den Händen setzte er sich in seinen Schreibtischstuhl und ließ die Wärme in sich ausstrahlen. Nein, er wird sich in dieser stimmungsvollen Szene nicht die Hände verbrennen oder einem wie auch immer gearteten Unglück ausgesetzt werden, der Mann hat sich durch die Schrecken einer Nacht für uns, die Allgemeinheit, durchgeschlagen und wir sollten ihm etwas Ruhe gönnen.
Lutz nimmt dieses Angebot an und schließt die Augen.
Auf den geschlossenen Lidern läuft der Vorspann des Schlafes.
Lutz rutscht auf der Sitzfläche nach vorn, lehnt sich bequem weiter zurück.
Der Hauptfilm fängt an.

Erstes Bild:
Wüste. Wellige Sanddünen bis zum fernen Horizont. Ein Mann in der vollständigen Uniform des 18. Dragoner Leibregiments, vereidigt auf den Grossfürsten von St. Petersburg, in gebückter Stellung, mit der Rückfront zum Betrachter, scheint den Sand zu streicheln. Das Bild kippt, die Vogelperspektive stellt zwei Dinge klar, die Uniform ist garnicht voll-ständig, es fehlt der obligatorische Dreispitz und anscheinend tragen Dragoner unter ihrem Hut nichts, nicht einmal eine Schädeldecke, sondern der aufmerksame Betrachter kann bis den Schlund sehen. Auch das Streicheln des Sandes stellt sich als eine durch die täuschende Perspektive geförderte, falsche Annahme heraus, der Mann streicht den Sand, zieht mit einen Flachpinsel zehn Zentimeter weisse Farbe, taucht ihn in einen immer rechtzeitig auftauchenden Eimer ein und zieht die vorgemalte Linie nach. Weiteres automatisches Eintauchen, Ziehen, Eintauchen, Ziehen. Über die schroffe Düne links im Mittelgrund schiebt sich ein müde auf den Boden gesenkter Kopf, es folgt ein erschöpft pendelnder Hals, eine rissige Hand stützt sich in den glühenden Sand, eine weitere wird nachgezogen, der Rumpf wuchtet sich oberhalb der Hände über die Dünenkamm, ein, dann ein weiteres zerschundenes Knie folgt. Obermaier, denn es ist Obermaier, kriecht auf allem Vieren mühsam den Abhang hinab, man realisiert, dass ihn die Sonne ausgedörrt hat, Hautfetzen hängen von Gesicht und Lippen, er krächzt, als er den Mann sieht: »Hi..lf..e«. Der Mann in der Uniform blickt nicht hoch, achtet nur auf seine stupide Arbeit. Obermaier wälzt sich rollend bis in den Bereich der gedachten Fortsetzung der Linie. Der Mann arbeitet sich rückwärts weiter, stösst gegen Obermaier, hebt sorgsam, ohne zu schauen, tastend die Füsse über den Liegenden und zieht unbeirrt seine weisse Linie. Obermaier fleht: »Durst, Durst.«, aber der Mann ignoriert ihn vollständig und komplett, auch als Obermaier nach dem feuchten Pinsel schnappt und die Farbe ableckt. Der Dragoner malt sich in Zehn - Zentimeter - Schritten aus dem Bild, Obermaier bleibt hilflos liegen und verwandelt sich in das vertrocknete Abbild einer Mumie, er nimmt unter diesem Vorgang eine frappierende Ähnlichkeit mit Ötzi, den Steinzeitjäger aus dem Gletscher an. Die Sonne geht unter, die zweigeteilte Wüste wird eiskalt und gefriert unter einer Schicht Firn.

Zweites Bild:
Mitzi öffnet mit einer einladenden Geste die Tür und sagt: »Bitte«. ER, der Betrachter, tritt ein und findet sich auf einer steinigen Hochebene wieder. »Aber, ich dachte, wir wären verabredet?« beschwert ER sich, dreht sich um und die Tür, durch die ER gerade getreten ist, ist verschwunden. Von unten, den steil ansteigenden Flanken des Tafelberges, kommen rhythmische Laute, ein Singen, bekannt aus ethnologischen Dokumentarfilmen als Einleitung unappetitlicher Bräuche. Er tritt an den scharfen Abbruch der Ebene und kann den Steilhang hinabsehen. Eine Karawane Mensch zieht in langer Formation bergauf und treibt dabei, drohend schreiend, einen Mann im schlecht geschnittenen und sitzenden, grauen Strassenanzug vor sich her. Der Mann ist schlecht in Form und strauchelt ununterbrochen. Er fällt den Berg hinauf, getrieben von der bedrohlichen Menge hinter und gezogen von der Verheissung der nahen Kante vor sich. Die Hosenbeine sind durch das Straucheln zerfetzt und fallen in Streifen auf die braunen Schuhe, seine Hände bluten aufgeschürft. Die Karawane aus Verfolgtem und Verfolgern kommt näher, zwischen den Rufen: »Tod, Tod!« ist das qualvolle Keuchen des Mannes zu hören. Dann entdeckt der Mann IHN. Aus dem Liegen schaut er IHN gehetzt flehend an, doch ER rettet nicht, will nur betrachten. Der Mann rafft sich nach einem langen Moment wieder auf, stolpert einen Meter weiter über die Kante, findet auch auf der Hochebene keine Hilfe und bleibt schluchzend liegen. ER hört zwischen den stossweisen unartikulierten Seufzern Worte wie: »Warum ich?« und kann doch kein Mitleid in sich aufsteigen fühlen, nur Neugier, weshalb ihn dieser Gehetzte so unberührt lässt. ER hebt machtvoll der Masse eine aufhaltende Hand entgegen und ruft: »Warum?« Die Masse, im Bewusstsein, das Recht zu vollziehen, drängt ohne Antwort weiter, würde ihn überrennen. ER hebt auch die andere Hand und aus seiner Kehle steigt ein mächtiges Donnern: »Warum?«. Die Spitze der Masse stockt, wird noch einen Schritt von den Nachfolgen-den getrieben, dann weichen alle vor dieser Machtfülle zurück. Ein alter und anscheinend entbehrlicher Mann wird vorgeschoben. ER empfindet Reue über seine Demonstration und fragt beruhigend: »Warum also?« Der Alte fällt beschwichtigend auf die Knie, beugt das Haupt und spricht zu den staubigen Steinen vor sich: »Aber er ist ein Steuereintreiber. Er nahm der Witwe die letzte Kuh und den Waisen das Brot. Er nahm dem Bauern das Land, dem Hirten das Vieh und dem Handwerker das Werkzeug. Und so nahm er ihnen allen das Leben und die Hoffnung.« Der Alte schweigt, bereit das Urteil zu hören. Und ER wägt und findet zu leicht: »Kreuzigt ihn, auf dass er am Querholz die Labsal der Demut finde, bevor in die tiefste Hölle fahren wird.« Und ER wendet sich ab, besorgt über die plötzliche Härte, spürt eine Träne im Augenwinkel, öffnet die Tür und ist wieder bei Mitzi. Das Licht im Treppenhaus schaltet sich ab.

Drittes Bild:
Es dämmert im Zeitraffertempo und die Umgebung wird sichtbar. Das zunehmende Licht zeigt die Farben. Lutz steht auf einer saftig grünen Wiese, über sich einen ebenso blauen Himmel. Nur Himmel und Gras, nichts sonst stört die Ausgewogenheit bis zur horizontalen Vereinigung. Lutz stösst sich leicht vom Boden ab und schwebt eine Handbreit hoch regungslos in der Luft. Er ist überrascht, dass dieser letzte Versuch einer langen Reihe das erhoffte Ergebnis gebracht hat, beinahe hatte er schon Frau und Mutter geglaubt: »Der Mensch kann nicht fliegen.« Lutz stösst sich an der Luft ab und gleitet nach oben. Er wird langsamer und bleibt schließlich regungslos im Nichts schweben. Er genießt diesen Zustand vollständiger Freiheit. Dann richtet er seine Gedanken auf den Horizont und sein Körper folgt ihm, er liegt jetzt in der Luft und überquert das Gras unter sich mit hoher Geschwindigkeit. Der Horizont vor ihm verändert sich, wird zackig ausgebrochen und formt sich endlich zu der Skyline einer Stadt. Das strahlende Licht verblasst, die Welt erscheint rostrot fleckig. Lutz schwebt jetzt über den niedrigen Vororten. Er möchte zurück und stellt sich die Wiese vor, aber es zieht ihn zur Mitte der Stadt. Die neue Freiheit gehorcht ihm nicht. Die Gebäude ragen höher und Lutz taucht in seinem rasenden Flug in die klaffenden Schluchten ein und folgt dem Lauf der Strassen. Diese ganze Stadt wirkt abgegriffen und vernachlässigt. Die gerade Strasse führt auf einen gigantischen Turm zu, der seltsam zerfließend wirkt. Als er näher kommt, sieht Lutz den Grund: Der Turm ist über und über mit gotischen Wasserspeiern besetzt, alle Spielarten dieser Dämonendarstellung sind vertreten, und alle richten ihren blinden, steinernen Blick auf den heranschwebenden Lutz. Vor ihm tut sich die Wand auf, klafft plötzlich eine Öffnung, die er fliegend passiert. Sobald er das Innere des Turms erreicht hat, fällt ein gewaltiges Tor aus Stein vor die Öffnung. Der Saal ist gross, aber endlich und nur unzureichend mit rauchigen Fackeln erleuchtet. An der entfernten Stirnwand ist ein Tribunal aufgebaut. Lutz schwebt auf es zu und kommt unwillentlich zum Halten, als er Einzelheiten erkennen kann: In der Mitte und am höchsten Punkt steht seine Ex-Frau, links und rechts, etwas tiefer, ihre gesichtslose Anwältin, weiter links und rechts, nach aussen abfallend postieren sich die Schreiberinnen des Gerichts und protokollieren. Alle ragen blutrote Roben und totenweisse Perücken. »Lutz« hallt sein Name von den Wänden. »Lutz! Du hast dich unerlaubt erhoben und die Menschen beschämt.« Die Worte wogen durch den Saal, kehren wieder und umfließen eindringlich Lutz. »Selbst jetzt, vor deinen Richterinnen, schwebst du frech in der Luft, als ob für dich die Gesetze der Natur nicht gelten.« »Darf ich verteidigend reden?« »Nicht nötig, vollstreckt das Urteil!« und Lutz erhält seine naturgegebene Schwere wieder und stürzt ab. Er spürt den Aufprall und eine folgende Nässe um seine Körpermitte. Dann schlug er die Augen auf und lag neben seinem Stuhl im Büro, den Kaffeebecher umklammerte er noch.
Obermaier stand in der Tür und feixte.
 
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Nach diesen Erkenntnissen stellte Lutz Obermaier auf die Probe.
Lutz am Boden und Obermaier in der Tür, so lautete das letzte Bild der vorgehenden Szene.
In Lutz vibrierten die Schwingungen des letzten Traums noch nach, versetzten ihn in Unruhe und aktivierten seinen in den Genen festgeschriebenen Fluchtreflex, er wollte weg, einfach nur ziellos weg und wurde von den Höhen des Grosshirns zurückgehalten, aus der modernen Zivilisation gibt es kein Entkommen. Also scharrte er, als Zeichen des inneren Kampfes, unruhig mit den Füssen.
Obermaier, der nur noch die letzten Zentimeter vor dem Aufprall mitgekriegt hatte, aber sich seiner Auslöserschaft nicht sicher war, stand immer noch regungslos in der Tür und kämpfte einen ebenso heftigen inneren Kampf wie sein Kollege. Obermaier biss sich zurückhaltend auf die Lippen, konnte es aber schließlich nicht mehr halten und prustete laut und für ihn befreiend los.
Wir haben damit wieder das übliche Niveau der Beziehungen unserer beiden Protagonisten erreicht und können deshalb für die Leser schadlos die vorübergehend verwendete hohe Qualität zugunsten des üblichen leichten Plaudertons verlassen. Danke, dass Sie mit uns geflogen sind und wir wünschen ihnen noch einen guten Aufenthalt in diesem Buch.
Obermaier suchte vorsichtig (Er hatte Tränen in den Augen, deshalb!) und immer noch laute Schluchzer ausstossend seinen Stuhl und ließ sich drauffallen. Er verfehlte ihn, wahrscheinlich wurde die nötige Konzentration im entscheidenden Moment durch eine besonders heftige Kontraktion des Zwerchfells nachhaltig gestört, und er landete mit Lutz auf einer Ebene.
Sie blickten sich durch die sonst die Beine aufnehmenden Höhlen der Schreibtische an und ihr Verhalten kehrte sich momentan simultan um, Lutz lachend schluchzend, Obermaier frustriert schweigend.
»Hallo Kollege.« prustete Lutz und man muss sich die lachende Dehnung dieser beiden Wörter vorstellen, sonst hat man was verpasst.
Säuerlich und wesentlich weniger die Phantasie bemühend dagegen Obermaier: »Hallo Kollege. Schöne Nacht gehabt?«
»War auf jeden Fall nicht langweilig.« versetzte Lutz spöttisch, spürte dabei einen kleinen Stich durch das letzte Bild seines Schlafes tief in seiner Seele, kehrte aber sofort in das gewinnende Oberwasser zurück. »Und bei dir? Hast du neue Erkenntnisse?«
»Jede Menge. Vorwiegend über die Ausprägungen menschlichen Verhaltens. Weniger über den Fall.«
Sie tauschten ihre Informationen, Lutz begann, referierte frei aus dem Gedächtnis, Obermaier bemühte anschließend seine Notizen und verlas sie fast emotions- und wertungslos. Nur als er bei seinem Besuch beim Finanzamt angelangt war, schienen sich in ihm die Eindrücke zu einem wahrnehmbaren Gefühl zu erhärten: »Die Vollstreckungsabteilung ist im dritten Stock, halb in der Mansarde und duckt sich in die beginnende Krümmung des Daches. Überall an den Wänden mischt sich die absurde Weltsicht von Mordillo und Personalrat. Wütende, hassende Schuldner haben einige der Plakate herabgerissen und den Putz beschädigt, die Eingeweide des Gebäudes liegen dort offen. Die Einrichtung besteht aus gepfändeten Teilen, willkürlich zusammengestellt und so abstossend wie ihre Benutzer. Das ganze Stockwerk riecht nach Not und gnadenloser Macht.
Warum ich dir das so ausführlich und bildhaft schildere? Damit du die Stimmung verstehst, die sich in so einer Umgebung einstellen muss. Die Leute dieser Abteilung sind irgend-wie zwiespältig, auf der einen Seite gewohnt beamtenmässig devot, auf der anderen Seite mit der absoluten Macht einer letzten Instanz ausgestattet, gegen deren Entscheidungen kein Revisionsmittel besteht. Und in diesem schizophrenen Klima lebte Friedrich, nach aussen der angepasste Staatsdiener und innen ein ungezügelter Tyrann. Ich glaube, dass er an Schock starb, der Erfahrung körperlicher Demütigung.« Obermaier beendete seinen Bericht erschöpft, die Abgründe auf seinem Notizblock waren seiner einfachen Psyche fremd.
Lutz dagegen verstand zumindest ansatzweise das flüchtig präsentierte Spiel aus Geben und Nehmen, wobei das Nehmen immer das Geben überflügelte und von den Opfern mit Anstand und dem Gefühl der Notwendigkeit ertragen werden musste. Er lebte in der selben Situation, seine Frau hatte ihn so kreuzigen lassen, wie Friedrich dann wirklich gekreuzigt wurde, so wie er andere täglich im übertragenen Sinne an´s Kreuz geschlagen hatte. Der Killer verdiente Verständnis, fand Lutz einen schwachen Moment lang, bevor er wieder auf die gute Seite wechselte.
»Was machen wir jetzt?« unterbrach Obermaier diese Überlegungen.
»Haben wir was in der Hand?«
»Diese Gesellschaften, die Weisse und die Schwarze. Die sind sehr verdächtig, besonders die Schwarzen.«
Lutz dachte an Mitzi und ihre Verwandlung in die respektable Frau Börner und startete eine Entlastung: »Warum die Schwarzen?«
»Sie bekämpfen die Weissen.«
»Falsch, die Weissen bekämpfen die Schwarzen.«
»Und die rächen sich.«
»Wieder falsch. Wechseln das Quartier und bringen sich so in Sicherheit.«
»Das ist vorgeschobene Taktik und du lässt dich davon beeindrucken.« warf Obermaier vor.
»Immer noch falsch. Ich werte nur die vorhandenen Fakten unvoreingenommen.« verteidigte sich Lutz.
»Ich bleibe dabei, irgendein Mitglied dieser obskuren Vereinigungen ist der Killer.«
»Mit dieser schwachen Vermutung lässt sich reichlich wenig bei einem Richter anfangen.«
»Dann erklären wir Gefahr im Verzuge und arbeiten ohne Haft- und Durchsuchungsbefehle.«
Lutz sah eine entfernte Möglichkeit: »Ich werde dir nicht im Wege stehen.«
»Aber auch nicht unterstützen?«
Beide erhoben sich endlich vom Boden.
»Wie ich es sagte. Entschuldige. Ich muss mal.« Lutz verließ den Raum.
Obermaier nahm das Telefon: »Ich brauche Personal für zwei Razzien. Jetzt und sofort. Gut, ich komme.« und verließ ebenfalls den Raum.
Kurz darauf kam Lutz fröhlich vor sich hinpfeifend zurück.
 
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Die Lebenszeit Friedrichs dauerte fünfundfünfzigeinhalb Jahre.
Lutz dachte an die Vergänglichkeit und öffnete das Buch aus dem Gartenhaus. Das Buch hatte alle Attribute hohen Alters, aber ein Eindruck auf der dritten Seite wies es als Faksimile aus. Ausserdem schien es bereits sehr lange bei der Stadtbücherei ausgeliehen zu sein, ein handschriftlicher Eintrag auf dem Vorsatzblatt zeigte ein Datum von 1947 und eine ausgebleichte Unterschrift. Lutz wunderte sich etwas über diese Entdeckung, er hatte Friedrich bisher als korrekten Beamten eingeschätzt. Aber es hatte auch diese Rumpelkammer im Gartenhaus gegeben.
Lutz blätterte langsam durch die Vorstellungen, die sich unsere Vorfahren von ihrer Welt gemacht und ausgedacht hatten. Alle geometrischen Körper hatten als Modell dienen dürfen, und alle grossen Tiere ebenso. Die Seiten strotzen von sich gegenseitig überbietenden Phantasien, meist auf ideologischen oder religiösen Vorstellungen basierend und damit die eigene Auffassung der vertretenen Weltordnung im Grossen untermauernd.
Lutz schienen diese aufgezeigten geistigen Verrenkungen lächerlich und typisch für die zu Irrtümern und Leichtgläubigkeit neigende Natur der menschlichen Tiere. Mit Symbolen wurden Welten bewegt, oder auch daraus geboren.
Im Vorwort fand Lutz die Bestätigung dieser Gedanken, dort und damit weit in der Vergangenheit schrieb der unbekannte Autor:
Obwohl heute jedem Christenmenschen die Kugelform unserer Welt geläufig und verständlich ist, darf nicht vergessen werden, dass vor nicht allzu langer Zeit wegen dieser Vorstellung Menschen verbrannt worden sind. Auch ist es heute noch nicht angebracht, diese wissenschaftliche Form in Gesprächen mit Geistlichen zu äussern, zu gross wären die Peinlichkeiten. Nichtsdestotrotz kann die vollkommene Form der Kugel als Symbol der menschlichen Vollkommenheit und seines hergebrachten Herrscherstatuses über die Natur gedeutet werden, mögen auch philosophische Kritiker äussern, dass der Mensch weit von solcher Vollkommenheit entfernt sei.
Auch die Alten hatten schon so ihre Schwierigkeiten, mit den Erscheinungen ihrer Zeit fertig zu werden, soviel zum Thema gute, alte Zeit. Damals wurden noch die Kämpfe um Ideen unter Einsatz des eigenen Lebens und das der jeweiligen Untertanen ausgefochten, heute nur noch hinten auf dem Balkan denkbar, Lutz war sich da ganz sicher. In seiner gefestigten, manche sagten auch statischen, Gesellschaft traten neue Ideen nur noch unbemerkt auf den ungelesenen Seiten der Tageszeitungen auf, über Kämpfe wurde schon lange nichts mehr berichtet.
Lutz blätterte unschlüssig in den vergilbten Seiten, verstand weder, warum Friedrich noch er diesem Buch irgendwelche Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
An dieser Stelle müssen wir den Leser vor einer mystischen Erfahrung schützen und verzichten auf die folgende Fortsetzung: »Und doch war eine nicht zu unterdrückende Affinität zwischen Lutz und dem Buch vorhanden. Lutz spürte die Kräfte, die ihn zu den Seiten hinzogen, fühlte die lockenden Verheissungen einer möglichen Lösung in dem längst überholten Text, könnte man ihn nur richtig lesen. Auf diesen Seiten wurde über die Formen der Welt geschrieben und deshalb würden sie auch die Welt erklären. Lutz vertiefte sich in die Blätter, sog die ursprüngliche Kraft der überholten Modelle in sich auf und fühlte, wie mit seinen wachsenden Fähigkeiten das Buch sich öffnete und ihm den Mörder zeigte. Nur dieses Bild einer konkreten Person zuordnen und damit den Killer namhaft werden zu lassen, konnte er nicht.«
Lutz musste also auf diese Erfahrung verzichten und würde den Mörder nicht erkennen können, auch wenn er ihm persönlich begegnen würde. Und so spielte er mit diesem für einen Kriminalisten unangenehmen Gedanken und fragte sich, wer alles ein unbekannter Mörder sein könnte, zum Beispiel Obermaier, ein Exempel, das Lutz Behagen bereitete, oder er, Lutz, selber. Aber das konnte nicht sein, um sich zu identifizieren, wäre sicher keine Vision nötig, sondern nur ein gewöhnlicher Spiegel. Obermaier und ein lautstarkes Gefolge brachen diese müssigen Überlegungen jäh ab. Lutz vertiefte sich schützend in das Buch, blätterte fliegend um und ritzte sich den Finger am vorletzten Blatt.
Obermaier stand in der Tür und krähte: »Alle geschnappt, den verrückten Baron und seinen Diener, die vorgetäuschte Dame und ihre Mädchen. Lasse sie auf unsere Zellen verteilen und nehme sie dann einzeln vor. Bis zum Abend habe ich ein Geständnis.«
»Oder eine ganze Menge Dienstaufsichtsbeschwerden und Anwälte.« knirschte Lutz.
»Heisst das, dass du mir nicht bei den Verhören hilfst?«
»Wie werden sehen.« antwortete Lutz und wartete, bis sich Obermaier auf dem Flur in der Menge verloren hatte. Dann untersuchte er das vorletzte, fingerschädigende Blatt und es stellte sich als zwei Blätter heraus, die zusammenklebten und zwischen sich einen scharfen Gegenstand bargen. Dieser Gegenstand hatte sich erst durch den Klebefalz und dann in Lutz´ Haut geschnitten. Lutz löste die beiden Seiten und fand einen Sicherheitsschlüssel. Er drehte das kleine Stück Metall vor seinen Augen und versuchte besondere Kennzeichen zu finden. Oben, auf dem kreisrunden (schon wieder dieser Körper) Griffstück fand er Ziffern eingraviert: 243B. »Ein Schließfach, irgendwo in dieser Stadt und damit für alle Zeiten unauffindbar.« dachte Lutz verzweifelt.
»Da ist ja mein Schlüssel!« rief die unbemerkt eingetretene Putzfrau.
 
24


Die Putzfrau war alt und hochbetagt.
»Wie, Ihr Schlüssel?« schreckte Lutz aus seinen trüben Gedanken hoch.
»Ich habe heute Nacht beim Putzen einen Schlüssel verloren. Und der, den Sie in der Hand halten, sieht genau so aus. Also ist das mein Schlüssel.« Sie griff danach.
Lutz brachte ihn in Sicherheit, indem er seine Faust darum schloss und beschwichtigte: »Aber gute Frau, daaas kann er nicht sein.«
»Aber er sieht genau so aus. Und die Nummer ist 222B.«
»Na also.« triumphierte Lutz. »Dieser Schlüssel hat die Nummer 243B.«
»Schade. Und trotzdem sah er genauso aus.« Die Putzfrau schlich betrübt aus der Tür.
»Was ein Zufall?« dachte Lutz: »Vermisst einen Schlüssel genau wie den, den ich in der Hand halte.«
Bedeutungsschwere Stille senkte sich herab.
»Halt, warten Sie!« brüllte ein den Flur hinabstürmender Lutz der Putzfrau nach.
Die drehte sich um und wartete, bis er bei ihr ankam und fragte: »Ist doch meiner?«
»Leider nein. Aber in welches Schloss passt dieser Schlüssel, den sie vermissen und der genau so aussieht, wie der Schlüssel in meinen Büro?«
»Zu einem Schließfach in der Hauptwache. Ich nutze es schon seit Jahren.«
In Lutz sprang die professionelle Neugier hoch: »Und wofür?«
»Nicht, dass Sie das was angeht. Aber Sie werden mir es sowieso nicht glauben und deshalb kann ich es ruhig erzählen. Eigentlich bin ich eine schwerreiche Bleistiftfabrikantenwitwe und mache diesen Job nur, weil mich ein ausländischer Geheim¬dienst mit der hinterzogenen Erbschaftssteuer zu Spitzeldiensten im Polizeipräsidium erpresst. Und weil mein jeweiliges Outfit des Ausgangspunktes an den jeweiligen Zielpunkten unangemessen wäre, ziehe ich mich auf halber Strecke um. Die Kleider deponiere ich in einem Schließfach. Und weil ich den Schlüssel verloren habe, kann ich nicht zurück nach Hause.« Die Frau schaute Lutz erwartungsvoll an.
»Tolle Story und dabei so schön unwahrscheinlich. Aber trotzdem vielen Dank.« Und Beide gingen entgegengesetzt den Flur hinunter, Lutz lächelnd und kopfschüttelnd, die Dame mit einen minituriarisierten Funkgerät am Mund: »Lady ruft Ratte. Lady ruft Ratte. Verdammt, meldet euch endlich! Meine Tarnung fliegt auf.«

Lutz verließ die S-Bahn und befand sich damit auf dem D-Niveau der Hauptwache, was bedeutet, er war auf der tiefsten Sohle des Publikumsbereichs. Unter ihm liefen noch ein paar einzelne Versorgungsleitungen und das Grundwasser.
An der Hauptwache begegnen sich alle unterirdischen Verkehrsmittel in Frankfurt und die Pendlerströme werden dort zweimal täglich neu gemischt. Lutz befand sich am Ende der morgendlichen Rushhour und wurde vom Strom der Ausgestiegenen zum nächsten Aufgang mitgerissen. Erst im Stau am Fusse der Rolltreppe konnte er sich unter Einsatz seines ganzen Gewichts (in den Neunziger, wie das Jahrhundert) befreien und seines Wegs gehen.
Der Aufsichtsbeamte in seiner Glaskanzel trank Kaffee und knurrte, ohne hinzusehen: »Zutritt nur für Dienstpersonal. Beschwerden und Auskünfte an den Schaltern auf der B-Ebene.«
Lutz bediente sich seines Dienstausweises und erkaufte sich mit dem aufgedruckten Wappentier den notwendigen Respekt. Der Beamte schien eventuell bereit zu sein, wahrscheinlich mehr aus Neugier auf die Mordkommission, als aus Hilfsbereitschaft, die eine oder andere Frage zu beantworten. Lutz versuchte es mit der einen Frage und hielt dem Mann den Schlüssel fragend hin: »Wo finde ich die zugehörigen Schließfächer?«
Der Mann blieb teilnahmslos stumm.
Also stellt Lutz die andere Frage: »Können Sie mir helfen?«
Die Antwort kam prompt und ohne Zögern: »Auskünfte an den Schaltern auf der B-Ebene.«
»Danke.« Lutz knallte die Tür nicht hinter sich zu, so gerne er es auch getan hätte, aber die Dämpfung des mechanischen Türschließers war stärker.
Der Bahnsteig hatte sich fast vollständig geleert, nur ein paar ehemalige und jetzt im Konkurs befindliche Unternehmer sassen an den Wänden entlang und tranken französischen Landwein, die Flasche für 1,99 bei Norma. Sie schauten Lutz taxierend an, erkannten aber sofort, dass sich die Mühe des Schnorrens nicht auszahlen würde und so ließen sie ihn ungehindert passieren.
Die Rolltreppe sprang an und Lutz wurde nach oben transportiert, allerdings nur etwa fünf Sekunden oder zwei Stufen lang, dann stoppte das Band. Während er muskulär den Rest der Geschosshöhe überwand, hatte er genug Zeit, das auffällige und mit grünen Bäumen und gelben Sonnenblumen verzierte Plakat zu lesen, das kundige Menschen genau für diesen Zweck aufgehängt hatten.
Liebe MitbürgerInnen, stand da zu lesen und fuhr fort in diesem Stil fort: Wir alle wollen Natur. Kraftwerke schaden der Natur. Deshalb haben die StadträtInnen beschlossen, dass wir alle Strom sparen sollen. Die MitarbeiterInnen der Stadtwerke wollen auch helfen und haben sich in der neuen Programmierung der Nachlaufzeiten der Rolltreppen verwirklicht. Sollten Sie also jetzt aus eigener Kraft diese Treppe bewältigen, denken sie an die Natur und wie sie es Ihnen danken wird. Ebenso ihr Herz. Die MitarbeiterInnen der Stadtwerke.
In der C-Ebene grassierten nur ahnungslose Fahrgäste und Lutz sah ein, dass er noch eine Ebene nach oben gewinnen werden müsste. Diese Rolltreppe wies das gleiche freundliche Plakat auf, lief aber klaglos und ohne Zögern zuende. Lutz dankte der unbekannten MitarbeiterIn innerlich für ihre großzügige Auffassung selbstverwirklichender Programmierung.
Der restliche Weg war ziemlich einfach zu bewältigen.
Drei der zehn Schalter waren besetzt, vor den Zweien mit der Aufschrift Kundenkarten spielte sich nichts ab und an dem Einen mit der Aufschrift Fahrscheine, Auskünfte, Beschwerden standen ungefähr zwanzig Leute an. Lutz trat an einen der leeren Schalter und sagte höflich: »Wo, bitte, sind die Schließfächer?«
»Auskünfte an Schalter 3.«
»Ich bin von der Mordkommission und meine Frage ist dienstlich.«
»Hätt´ste was anständiges gelernt. Auskünfte nur an Schalter 3.«
Lutz sah ein, dass er hier nicht weiter kommen würde und postierte sich mit einem Sidestep vor dem anderen Schalter. Bevor er seine Frage äussern konnte, fiel der Verschlussschieber krachend in die untere Stellung. Also blieb nur noch der Schalter mit der zwischen Geländerleitwerken geführten Schlange. Lutz ging an der Schlange vorbei nach vorn. Allerdings nur drei Leute weit. Dann stand ein ungewöhnlich muskulöser Arm in Brusthöhe im verfügbaren Raum. »Wir warten hier alle.« kommentierte nicht unfreundlich, aber sehr bestimmend das zugehörige Muscleshirt. Lutz verstand sofort: »Verstehe, hatte ja nur ´ne kurze Frage.« und hörte schon die Wiederholung: »Wir warten hier alle.« nur noch von hinten. Nach zwanzig Minuten hatte er sich zum Schalter durchgewartet und wurde schnell, kompetent und freundlich bedient. Die gesuchte Fächer seien aus Sicherheitsgründen etwas abseits angeordnet und deshalb nicht leicht zu finden. Aber wenn er den Schildern Commerzbank folgen würde, fast ganz bis zum Ende und sich dann immer links hielte, sei es gar kein Problem.
Lutz ging los und landete dreimal vor dem alten Commerzbanktower. Dann entdeckte er einen schmalen Abzweig, der mit einem, wenn auch durch den Rost nicht mehr lesbaren Schild ...fäch.. versehen war. Lutz bog ein und prallte sofort wieder zurück. Vor ihm tat sich eine orientalische Basarstrasse 4. Ordnung auf, einschließlich der zugehörigen Geruchsmischung. Es stank nach alten Kleidern, altem Schweiss, altem Essen und alten Abfällen, darüber mischte sich der Geruch von Fäkalien in fortgeschrittenem Zustand der Verwesung. Die Wände links und rechts waren mit Sperrmüll bebaut, der irgendwie geartete Nischen und Alkoven formte. Dazwischen blieb eine gerade schulterbreite Gasse frei, in der sich die Bewohner stauten. Lutz drang ein.
Die Bewohner hatte sich vollständig eingerichtet, ausser den Wohnquartieren sah Lutz Garküchen und Handwerksbetriebe, Kleinhändler boten Restinhalte an und Geschichtenerzähler besorgten die Unterhaltung. Er kam an einem Stand vorbei, der sich mit dem Schild schmückte: Satelliten-fernsehen, 99 Programme, ein weiteres Gelass bot an: Blick in die Zukunft. Eine kleine, parasitäre Siedlung.
Lutz schob sich mit seiner Masse ungeduldig durch die Bewohner. In dem engen Gang hallten die Geräusche der vielen Menschen schmerzhaft verstärkt. Und dann kam von vorn links ein Gelächter. Zuerst achtet Lutz nicht darauf. Dann wurde ihm bewusst, dass er unter diesem Gelächter in der letzten Nacht gelitten hatte und er versuchte die Quelle zu orten. Das Gelächter brach sofort ab. Nur ein alter, hinfällig erscheinender Mann mit seltsam bekanntem Aussehen blickte über die Schulter kurz zurück und verschwand dann in der Menge. Lutz schob sich schneller vorwärts, aber die Menge wirkte wie Sirup so zäh und bestand darauf, dass er keine Position gewann. Dann spie sie ihn gegen die Front der Schließfächern.
 
25


Lutz aber sprach noch mit einer anderen Frau, namens Mechthild.
Die ordentlich angeordneten Schließfächer wirkten vor dem chaotischen Hintergrund fremd und falsch, sie reizten das in den letzten fünf Minuten in Lutz neu entstandene Raumempfinden, das den schiefen Winkel als gegeben annahm. Allerdings relativierte sich dieser Eindruck zusehends durch die Graffiti auf den Metalltüren.
Vom üblichen Killroy was here über das schon anspruchsvollere Rettet die Schlümpfe jetzt bis zu dem absolut unverständlich und damit wertvollen Freiheit für Ezra Pound war das ganze verbale Spektrum vertreten, die symbolische Fraktion schien sich auf die Wände konzentriert zu haben. Die Bezeugungen mittels Sprühfarbe banden die Metallwand schließlich doch noch in diese unterirdische Welt ein.
Lutz suchte das zu seinem Schlüssel passende Fach und schloss auf. Das Fach schien leer. Lutz kniete sich nieder und brachte so seine Augen auf Fachhöhe. Das Fach war doch nicht leer, der seltsame Weg hierher nicht umsonst gewesen.
Lutz holte den Umschlag aus der Metallhöhle und las die Aufschrift: Mein Vermächtnis.
Friedrich hatte keine Verwandten und wenn Lutz Obermaier richtig verstanden hatte, auch keine Freunde, nur Kollegen und denen macht man kein Vermächtnis. Wer also, wenn nicht er, Lutz, der sich aus beruflichem Interesse mit dem Hinterlassenden beschäftigte, konnte als Adressat gedacht gewesen sein, als Friedrich das Kuvert beschriftet hatte. Lutz riss es auf und las das einzelne, mit Schreibmaschine und den Äusserungen eines Toten beschriebene Blatt vor den Geräuschen des brodelnden Lebens hinter ihm im Gang:
Mein Vermächtnis.
An den, der es liest.
Lieber unbekannter Leser,
schon aus der Anrede kannst du ersehen, dass ich in diesem Leben nicht viele Freunde gehabt haben kann. Ich habe meine Jahre mit der Erfüllung der mir auferlegten Pflichten verbracht und so blieb keine Zeit und Gelegenheit für das, was man gemeinhin und fälschlich Leben nennt.
Mein Leben war, wenn es bisher auch anders erscheinen mag, erfüllt mit der tiefen Freude, die man aus dem Gefühl bezieht, seinen Platz in der Welt gefunden zu haben. Und diesen Platz hatte ich eingenommen. Oh ja!
Vermutlich kennst du, lieber Leser, meine Profession. Was du nicht kennen kannst, sind die Befriedigung, die einem dieser Beruf verschafft.
Ein Vollstrecker sorgt dafür, das dem Kaiser gegeben wird, was dem Kaiser ist. Ein Vollstrecker setzt die berechtigten Ansprüche seines Staates durch und sorgt damit für das reibungslose Funktionieren unserer Gesellschaft.
Ja, es ist nicht vermessen zu sagen, dass ein Vollstrecker eine wesentliche und unerlässliche Keimzelle unserer Weltordnung bildet. Durch seine Tätigkeit sorgt er dafür, das alles auf seinem Platz bleibt, der Reiche oben und der Arme unten, dass die von den Roten geforderte und nur für Verwirrung sorgende Bewegung klein gehalten oder auch rückgängig gemacht wird.
Der Vollstrecker wirkt als Bewahrer der göttlichen und trostspendenen Hierarchie, wie sie uns von unseren Vätern zu klugem Gebrauch übergeben wurde. Leider habe ich keinen Sohn, dem ich die Insignien meines Standes vererben kann und so wird dieser Zweig einer langen Reihe von Vollstreckern verdorren müssen.
Und deshalb, lieber unbekannter Leser, trage mein Anliegen an das Leben bei dir in deinen Herzen und nehme meine Gedanken in dein eigenes Vermächtnis auf, auf dass diese Art nicht aussterbe. Ich bitte dich darum.
Sieh dich in deiner Umgebung um und urteile selbst. Ist es nicht an der Zeit, den Kräften des Chaos Einhalt zu gebieten? Die Verbrechen und Verwirrung unserer Jugend sind eine direkte Folge der nicht klar erkannten Zuweisung des gegebenen Platzes. Jeder strebt nach oben und unten bleibt ein Nichts.
Das, lieber unbekannter Leser, ist mein Vermächtnis und Bekenntnis zur beherrschenden Weltordnung.
Die Welt ist rund
»Was ein Scheiss?« dachte Lutz und ließ das Blatt sinken. »Der Alte hat geglaubt, dass er mit seinem Pfandsiegel uns vor der galoppierenden Anarchie und dem Sozialismus rettet.« Lutz drängte sich in Schlange der Bewohner, die Richtung Ausgang kroch. »Und für diese gequirlte Scheisse tue ich mir das hier an.« Das Ende des Ganges war bereits sichtbar. »Aber hinter langweiligen Fassaden findet sich meist auch nichts Besseres.« Das irritierende Gelächter ertönte leise von weit hinten. Lutz ingnorierte es trotzig, er hatte gerade eine falsche Spur mühsam bis zum Ende verfolgt.

Im Präsidium stand Obermaier unterdessen mächtig unter Druck.
Dabei hatte es so schön angefangen. Gleich nachdem Lutz gegangen war, hatte Obermaier begonnen, Spannung bei den Verhafteten durch die gezielte Anwendung von Stress und Ruhephasen aufzubauen. Obermaier pendelte dafür zwischen den beiden Verhörzimmern, stellte brüsk und fast beleidigend Fragen und empfahl, über die wahrhaftige Antwort in den kommenden, ruhigen Minuten nachzudenken.
Die Delinquenten schienen auf die Behandlung anzusprechen und es war nur noch eine Frage von Stunden, bis ihre Abwehr zusammenbrechen und sie ihre Untaten gestehen würden. Obermaier verstärkte seine Bemühungen, wurde mit wankender Defensive brüsker und beleidigender.
Dann trafen leider die Anwälte ein und die ganze schöne Strategie fiel in sich zusammen. Nun wurde Obermaier brüsk befragt und beleidigend angefahren, während sich die Delinquenten lächelnd hinter der gekauften, juristischen Kompetenz zurücklehnten.
Die bohrenden Fragen der Anwälte kamen immer schneller, kaum hatte Obermaier den Ausführungen des einen Anwalts zugehört und wollte zu einer Antwort ansetzen, dröhnte aus dem anderen Zimmer die Stimme des anderen Anwalts und forderte Obermaier zu sofortigem Erscheinen auf. Der ließ sich auf dieses Spiel ein und würde zwischen den Fragen folgerichtig zermürbt.
Als Lutz auf dem Flur erschien, sprang Obermaier nur noch zwischen den jetzt weit geöffneten Türen der Verhörzimmer hin und her und nahm bruchstückhaft die vollständige Entfaltung juristischer Abwehrmassnahmen wahr. Seine Augen waren glasig und sein Atem flach und unzureichend. Noch wenige Sprünge und er wäre zusammengebrochen, bereit für jede Art von Geständnis.
Lutz genoss den Anblick, bevor er mit der Stimme aus dem zweiten Bild seines frühmorgendlichen Traums donnerte: »Ruhe. Was ist hier los?«
Würdige Stille kehrte ein und verdichtete sich zu einer bevorstehenden Problemlösung.
Die Anwälte fassten sich als erste: »Unsere Mandanten werden widerrechtlich festgehalten. Laut Menschenrechtskonvention ...«
»Ist schon gut. Oder wollen Sie auch noch die NATO bemühen?« Lutz hielt den an der Wand hinab rutschenden Obermaier fest. »Ihn haben sie auch nicht gerade nach den Massstäben menschlichen Handelns fertiggemacht.« Ein Protokollschreiber nahm Obermaier ab. »Ihre Mandanten können nach Hause gehen, sollten aber besser in den nächsten Tagen nicht verreisen. Und bringen Sie ihnen bei, dass ein ordentlicher Lebenswandel das beste Mittel gegen Verdächtigungen ist. Sie können gehen.«
Alle standen auf und drängten zum Ausgang. Als Mitzi an Lutz vorbeirauschen wollte, hielt er sie auf: »Tut mir leid.«
Sie äusserte jenes Geräusch, dass jedem als beleidigend, abwertend und kränkend geläufig ist und stieß ihren Anwalt an. Der begriff nicht, was zwischen den Beiden vorgegangen war und im Moment wieder vorging, und blaffte: »Sie werden meine Mandantin in Ruhe lassen.«
»Genau das meinte ich nicht.« rüffelte sie und verschwand, den heftig irritierten und entschuldigenden Anwalt im Gefolge.
Nur noch Obermaier und Lutz blieben in dem geräumigen Flur zurück.
»Anstrengend, so ein grosser Auftritt.« lästerte Lutz.
»Danke, dass du mich da raus geholt hast.« stöhnte Obermaier und dann ging ihm auf, was er gerade getan hatte: »Obwohl, ich hatte die Sache im Griff.«
»Sicher.« meinte Lutz gönnerhaft. »Komm´, ich will dir zur Erholung was zeigen.«
Sie gingen in ihr Büro und Lutz legte das Vermächtnis vor Obermaier auf den Tisch.
Der las langsam und zeilenweise, kommentierte undeutlich (»Hab´ ich auch schon gedacht.« oder so ähnlich) manche Stellen und wischte am Schluss über die letzten Worte.
»Was ist?« fragte Lutz, als das Wischen nicht aufhören wollte.
»Hast du diesen Fleck auf dieses Dokument gedreckt?«
»Welchen Fleck?«
»Den!« Obermaier wies auf eine dunkle Verfärbung hinter dem letzten Satz.»Oder war der schon da.«
»Der muss schon da gewesen sein, als ich das Kuvert öffnete«
»Gut.« sagte Obermaier und holte ein Feuerzeug aus der Schreibtischschublade, machte es an und hielt es unter das Papier.
»Nein.« rief Lutz. »Das ist ein Beweisstück.«
»Moment.« Obermaier schwenkte die Flamme hin und her, heizte eine ganze Fläche möglichst gleichmässig auf. »Es kommt schon. Nur noch ein kleiner Moment.« Dann legte er das Papier vor Lutz auf den Tisch und der sah Buchstaben dort, wo vorher nur der dunkle Fleck gewesen war.
»Wie funktioniert das?« fragte er erstaunt.
»Pisse. Hast du in deiner Jugend nie geheime Botschaften ausgetauscht?«
»Sicher, geheim ja, aber nicht unappetitlich. Wir nahmen Zitronensaft.«
»Pisse ist immer verfügbar.«
»Stimmt.« musste Lutz zugeben.
»Aber eigentlich ist dieser Trick schon ziemlich abgegriffen.« sinnierte Obermaier.
»Vielleicht wollte er, dass wir das lesen können?« sagte Lutz und las den jetzt vollständigen Satz vor: »Die Welt ist rund und doch keine Scheibe.« Er stockte einen Moment, bevor er fortfuhr: »Sagt dir das was?«
»Nein.« antwortete Obermaier schnell, so schnell, dass ein noch frischer und nicht übernächtigter Lutz misstrauisch geworden wäre. Aber so ging dieser Moment ungenutzt vorbei.
»Also war er nicht nur revers paranoid, sondern auch verrückt.« wollte Lutz abschließen.
»Nicht alles ist so, wie es im ersten Durchgang scheinen will.« schloss Obermaier leise und für Lutz unverständlich murmelnd vorläufig den Vorgang.
 
26


Im Lande aber brach eine Hysterie aus, eine andere als die frühere zur Zeit der Zweiteilung.
Sie tranken in schweigender Stille Kaffee, nur unterbrochen von Obermaiers Schlürfen und Lutz´ Blasen, denn der Kaffee war heiss, stark, süss, hieß eigentlich Espresso und stammte noch aus der Nacht.
Obermaier kam zu dem Schluss, dass er seine Lippen vor-läufig ausreichend malträtiert habe und stellte die Tasse auf den Ringen früherer Pausen auf dem Schreibtisch ab. »Was verstehst du unter revers paranoid?«
Lutz musste sich erst erinnern, bei welcher Gelegenheit er diesen Begriff gebraucht hatte (Sie finden ihn auf der letzten Seite des gerade gelesenen Kapitels. Dieser Hinweis wurde speziell für Leser mit der schlechten Gewohnheit literarischen Zappens aufgenommen.). »Sieh das mal so! Normal ist, wenn sich ein Bürger vom Staat verfolgt wähnt, schließlich ist er den Verfolgungen durch das Finanzamt, Kreiswehrersatzamt, Politessen, Radarfallen und grossem Lauschangriff ausgesetzt. Jeder Bürger, der auch nur eine annähernd normale Empfindlichkeit für die Einschränkungen seiner Grundrechte aufweist, muss paranoid werden. Das ist der einfache, ordinäre Verfolgungswahn und die Behandlung wird, wegen der weiten Verbreitung, nicht von den Krankenkassen getragen. Friedrich sah den Staat und seine Organe und damit sich selbst verfolgt. Und das ist mit Sicherheit nicht normal, sondern der Realität genau entgegengesetzt, deshalb revers paranoid.«
»Verstehe.« Obermaier versuchte einen Schluck, aber die Temperatur hatte noch nicht genügend abgenommen. »Und verrückt. Warum sagtest du verrückt?«
»Das die Welt rund ist, weiss jeder. Wenn es auch...« Lutz zeigte auf das immer noch auf seinem Tisch liegende Buch aus dem Gartenhaus: »...schon andere Vorstellungen gab. Also haben wir hier eine ganz profane, sogar triviale Aussage. Und dann folgt der verheimlichte Zusatz: aber doch keine Scheibe. Was lässt sich aus diesem Zusatz schließen? Welcher geometrische Körper ist rund, aber keine Scheibe? Nur die rotierende Scheibe, die Kugel. Das ist aber auch schon wieder triviales allgemeines Wissen. Warum versteckt Friedrich diesen Satz teilweise? Darauf gibt es zwei mögliche Antworten: Erstens: Friedrich glaubt daran, dass die Erde eine Scheibe ist und unterdrückt dieses Wissen, weil er nicht als Aussenseiter gelten will. Oder, zweitens: Friedrich glaubt daran, dass es Menschen gibt, die daran glauben, dass die Erde eine Scheibe ist. Beides liegt soweit von der heute herrschenden Realität, Meinung und Auffassung entfernt, dass es verrückt gedacht ist, also beweist Friedrich durch diesen geheimen Zusatz, dass er verrückt ist. Quad era demonstrandum.«
»Was?«
»Quod era demonstrandum? Latein, was zu beweisen war. Kennst du das nicht aus dem Mathematikunterricht?«
»Nöö.«
»Aber du warst schon auf der Schule?«
»Sogar einer Gesamtschule.«
»Verstehe.«
(Eigentlich sollte jetzt eine knallharte Polemik gegen den Zerfall des Schulwesens folgen, leider musste sie entfallen, da der dafür angeheuerte pädagogische Ghostwriter die erforderliche Qualität auch nach mehrfachem Nachbessern nicht erbrachte. In der hastig einberufenen Krisensitzung stellte sich heraus, dass er leider nur seinen Namen und seine Tarif-stufe lesen und schreiben konnte. So werden wir ohne die Erläuterung des Sinns des obenstehenden Dialogendes weiterleben müssen, nur hessische Eltern mit schulpflichtigen Kindern werden verstehen, was ich meine.)
Die schweigende Stille kehrte wieder ein, jetzt aber viel-leicht ein bisschen feindlich.

Es war wieder Obermaier (Im Vertrauen, er spielte genau so lausig Poker), der das Schweigen brach: »Findest du es richtig, hier untätig rum zu sitzen, während draussen ein Irrer serienweise killt?«
Lutz nahm den Blick vom Fenster und warf ihn zu seinem Gegenüber: »Sollen wir ihm helfen? Oder was?« Als Obermaier diese humorvolle Frage nicht zu einem entspannenden Lachen nutzte, wurde er ebenso ernst: »Was haben wir, mit dem wir was anfangen können? Bisher haben wir drei Leichen und wenn die Kollegen aus dem Computerzentrum recht haben, weisen diese Drei achtundsechzig paarweise und zwölf komplette Gemeinsamkeiten auf. Das ergibt in einer Stadt in der Grösse Frankfurts locker hunderttausend Verdächtige. Ohne Umland. Die können wir nicht mal alle im Waldstadion einsperren.«
»Wer redet von einsperren« und Obermaier schauderte bei dem Gedanken an Verhaftungen allgemein und ihrer Folgen im Besonderen. »Aber wir könnten Spuren suchen, oder so was. Auf jeden Fall was tun.«
Lutz zeigte Souveränität und überlegene Kompetenz: »Wir brauchen den vierten Fund, das wird voraussichtlich die Gemeinsamkeiten auf zwei reduzieren und dann schlagen wir zu.« So hatten ihm es die Hacker aus dem Computerraum mit blutunterlaufenen Augen erklärt und dann hinterhergerufen: »Vergiss nicht die Bilder von der Leiche.«
Die schweigende Stille kehrte nochmals ein, sich nun frustrierend anhörend.

Weder Obermaier noch Lutz brachen diesesmal das jetzt schon unangenehm auf ihnen lastende Schweigen, sondern das Telefaxgerät mit seinem aufgeregt antwortendem Pfeifton.
»Na also.« sagte Lutz: »Es tut sich was.«
»Endlich.« stimmte ihm Obermaier zu
Sie hatten doch einen tollen Beruf, empfanden die beiden in diesem aufregenden Moment.
Der Moment dauert ziemlich lang, da sich ein Papierstau in dem Gerät bildete, von Obermaier entfernt wurde und die beiden Beamten gespannt auf eine Wiederholung der Bemühungen des Absenders warten mussten.
Dann war es soweit, die Übertragung lief fehlerlos ab und das bedruckte Blatt kam aus dem Ausgabeschlitz:

Ene, mene, miste,
kein Recht ist auf der Piste,
Ene, mene, muh,
gerecht gerächt stirbst du.



7. Hinweis für Bullen:
Ihr Telefaxgerät stellt ein wertvolles Fenster zur Welt dar, dass Ihnen Ihr Dienstherr freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Warum, zum Teufel, halten Sie es dann nicht in Ordnung?


8. Hinweis für Bullen:
Ein beliebtes Spiel unter Jugendlichen ist eine Verfolgung an Hand von Zeichen. Diese Zeichen werden meist, weniger aus Umwelt- als aus Kostengründen, mittels Abfallprodukten aus der Holzverarbeitung hergestellt.
Sie haben drei Möglichkeiten zur Auswahl:

a) Verstecken
b) Völkerball
c) Schnitzeljagd

Die richtige Antwort ist c. Wenn Sie nicht richtig geraten haben, bleiben Sie den Rest des Tages in Ihrem Büro.
Sollte Sie richtig geraten haben, dürfen Sie jetzt die Variante für Polizisten spielen. Das erste Zeichen befindet sich in der Tiefgarage.

 
27


Als der Chef von Lutz und Obermaier alt geworden und seine Intelligenz erloschen war, so dass er nicht mehr schlüssig denken konnte, rief er seinen älteren Untergebenen Obermaier und sagte zu ihm: »Mein Nachfolger.« Der antwortete: »Hier bin ich.« Da sagte der Chef: »Du siehst, ich bin alt geworden. Ich weiss nicht, wann ich gehe. Nimm jetzt dein Jagdgerät, deinen Notizblock und deinen Bleistift, geh in die Stadt und jag´ mir ein Wild. Bereite mir dann einen leckeren Bericht, wie ich ihn gern mag, und bringe ihn mir zum lesen, damit ich dich den Oberen empfehle, bevor ich gehe.«
Rebekka (Damals im Vorzimmer und später Lutz´ Frau und noch später seine Ex.) hatte das Gespräch zwischen dem Chef und Obermaier mitangehört. Als Obermaier zur Jagd in die Stadt gegangen war, um ein Wild herbeizuschaffen, sagte Rebekka zu ihrem Wild Lutz: »Ich habe gehört, wie dein Chef zu deinem Konkurrenten Obermaier gesagt hat: "Hol mir ein Wild, und bereite mir einen leckeren Bericht, dann will ich dich vor den Direktoren loben, bevor ich gehe." Nun hör genau zu, mein Lieber, was ich dir auftrage: Geh´ in´s Bahnhofsviertel und bringe mir von dort zwei schöne Zuhälterlein. Ich will damit einen leckeren Bericht für deinen Chef zubereiten, wie er es gern mag. Du bringst ihn dann deinen Chef zum Lesen, damit er dich vor seinem Weggang empfiehlt.« Lutz aber antwortet Rebekka: »Mein Konkurrent Obermaier ist firm in allen Vorschriften, ich aber habe keine Ahnung. Vielleicht prüft mich der Chef, dann könnte er meinen, ich hielte ihn zum Besten, und ich brächte Minus- statt Pluspunkte über mich.« Rebekka aber entgegnete: »Hör auf mich, mein Lieber und bring´ mir die Zuhälterlein.« da ging er hin, holte sie und brachte sie Rebekka. Die bereitete einen leckeren Bericht zu, wie es der Chef gern mochte. Dann holte Rebekka eine Gegensprechanlage und verkabelte Lutz. Die Hörer steckte sie ihm in die Ohren und das Mikrophon um den Hals. Dann übergab sie den leckeren Bericht in einer ebenso leckeren Akte, die sie zubereitet hatte, ihrer Beute Lutz.
Der ging zu seinem Chef hinein und sagte: »Mein Chef.« »Ja.« antwortete der: »Wer bist du?« Lutz entgegnete seinem Chef: »Ich bin Obermaier, dein Nachfolger. Ich habe getan, wie du mir gesagt hast. Setz dich auf, lies meinen Bericht und dann empfehle mich.« Da sagte der Chef zu seinem Nachfolger: »Wie hast du nur so schnell etwas finden können?« Lutz antwortete: »Die ausufernde Kriminalitätsrate hat sie mir entgegengetrieben.« Da sagte der Chef zu Lutz: »Komm näher heran. Ich will dich prüfen, ob du wirklich mein Nachfolger Obermaier bist oder nicht.« Lutz trat zu seinem Chef hin. Der fragte ihn: »Wieviel Zulagen kennt der Polizeidienst« Und Lutz antwortet schnell: »256.« Der Chef sagte: »Die Stimme ist zwar Lutz´Stimme, aber das Wissen ist Obermaiers Wissen.« Und er erkannte ihn nicht, denn Rebekkas Wissen war so gut wie Obermaiers Wissen und so empfahl er ihn schriftlich, aber Rebekka vertauschte die Namen.
Kaum hatte der Chef Lutz empfohlen, und war Lutz weggegangen, da kam sein Konkurrent Obermaier von der Jagd. Auch er bereitete einen leckeren Bericht, brachte ihn seinem Chef und sagte zu ihm: »Mein Chef richte sich auf und lese den Bericht seines Nachfolgers, damit er mich dann empfehle.« Da fragte ihn sein Chef: »Wer bist du?« Der antwortete: »Ich bin Obermaier, dein Nachfolger.« Da überkam den Chef ein heftiges Zittern und er fragte: »Wer war es dann, der das Wild gejagt und es mir gebracht hat. Ich habe alles gelesen, bevor du gekommen bist, und ich habe ihn empfohlen, und empfohlen wird er bleiben.« Als Obermaier die Worte seines Chefs hörte, schrie er heftig auf, aufs Äusserste verbittert und sagte zu seinem Chef: »Empfehle mich auch.« Der entgegnete. »dein Konkurrent ist mit List gekommen und hat dir die Empfehlung weggenommen.« Da sagte Obermaier: »Hat man ihn nicht Betrüger genannt? Er hat mich jetzt schon zweimal betrogen: Rebekka hat er mir genommen, jetzt nimmt er mir auch noch die Karriere.« Dann sagte er noch: »Hast du mir keinen Posten aufgehoben?« Der Chef antwortete: »Ich habe ihn zum Vorgesetzten über dich gemacht und alle deine Kollegen dazu. Auch mit Büromaterial und Papier habe ich ihn versorgt. Was kann ich da noch für dich tun?« Da sagte Obermaier zu seinem Chef: »Hattest du nur diese eine Empfehlung?« Und Obermaier begann laut zu weinen. Sein Chef antwortete ihm und sprach:
»Fern von der oberen Besoldungsstufe musst du wohnen / Fern von dem Glanz der Chefetagen droben / Von deinem Block wirst du leben / deinem Konkurrenten wirst du dienen / Doch hältst du durch, so streifst du ab / sein Joch von deinem Nacken.«
Obermaier spürte die kalte Nässe in seinem Gesicht und die aufmunterenden Ohrfeigen. Jemand rief ständig: »Obermaier, wach´ auf.« und skandierte die ständigen Wiederholungen mit heftigem Schlägen auf den Rücken. Da gab er nach und schlug die Augen auf.
»Na endlich. du warst fast fünf Minuten weg.« sagte ein erleichtert aussehender Lutz.
Obermaier machte sich von den stützend zerrenden Händen frei und setzte sich auf: »Was ist passiert?«
»Wir wollten los, wie es das letzte Telefax befahl. Und da bist du gegen die Tür gerannt, weil sie gerade aufging, weil gerade die neueste Besoldungsvorschrift verteilt werden sollten und hast dir den Kopf an den Druckschriften gestossen. Geht´s wieder?«
»Danke. Nur leicht verwirrt, irgendwie kam deine Beförderung dazwischen, Lutz, und die reichlich seltsamen Vorgänge drumherum sind mir gerade vollständig aufgegangen.«
»Du wirst doch diesen alten Käse nicht aufwärmen wollen?« fragte Lutz: »Das ist doch längst verjährt. Und überhaupt, schau mich und meine Scheidung an und du weisst, wer der wirkliche Gewinner ist.«
»Wir sprechen uns noch, Lutz, aber erst krallen wir uns diesen Killer.«
»Das ist die richtige Einstellung.«
»Auf was wartest du dann noch.«

Sie schwiegen sich nicht unfeindlich an, während der Lift in die Tiefen des Präsidiums glitt. Die Tiefgarage war verlassen, dunkel und ruhig.
»Und jetzt?« Obermaier blieb seinem vorlauten Image auch hier und unter diesen Umständen treu.
»Psst. Ich glaube, da ist was.«
Beide lauschten.
»Läuft da nicht Wasser?« fragte endlich Lutz.
»Rechts hinten!« antwortet Obermaier und zeigte nach links.
»Ist schon gut, schauen wir uns es an.«
Jemand mit mässiger handwerklicher Begabung hatte einen Gartenschlauch in der Mitte einer Spülschüssel mit aufwärts zeigender Düse installiert und das Wasser aufgedreht. Das Arrangement befand sich auf einem alten Dreibeinhocker und das Wasser lief über den gesamten Umfang der Waschschüssel auf den Boden.
»Was ein Scheiss!«
»Moment. Siehst das Schild.« Lutz zeigte auf ein inzwischen aufgeweichtes Pappschild an einem der drei Beine: M 1 : 10. »Ob das was bedeutet?«
Obermaier hatte in seiner Jugend der Modellbahn gefrönt, bevor er sie wegen der Mädchen vernachlässigte. »Das ist eine Skalierung, eine Angabe eines Massstabes und bedeutet, dass dieses Modell zehnmal kleiner als das Original ist.«
»Modell? Aber ja, das ist unser erster Hinweis.« begeisterte sich Lutz, nur um sich sofort wieder herunterzuziehen: »Aber Modell von was?«
Obermaier legte den Kopf erkenntnisfördernd schief, umfasste das reduzierte Panorama mit einem Rahmen aus Daumen und Zeigefinger beider Hände und rechnete hoch: »Opernplatz, der Brunnen.«
»Was?«
»Opernplatz, der Brunnen. Lass´ uns hinfahren und nachgucken. Die Spurensicherung soll sich um das hier kümmern.«
»Besser als nichts.«

Von Weitem war die Ähnlichkeit mit dem Modell nicht ganz von der Hand zu weisen, aber das Original machte doch den stabileren Eindruck: Ein grosses Abbild einer dieser zweietagigen Früchteschalen. Unten die eine Schale auf Bodenniveau, die andere, kleinere Schale ungefähr anderthalb Mann hoch darüber. Das Wasser sprudelt oben in der Mitte und fällt über den Rand in die untere Schale.
Sie gingen über den wenig belebten Opernplatz auf den Brunnen zu und Lutz las wie immer die Inschrift über dem Portal: DEM WAHREN DEM SCHOENEN DEM GUTEN. Sie schien die steinerne Überlieferung ferner, unverständlicher Epochen längst untergegangener Rassen mit längst vergessenen Idealen zu verkörpern. »Wir sind da. Der Brunnen ist da. Wo ist der Killer?« dämpfte er seine Beklommmenheit.
»Bisher hat er es uns nicht gerade einfach gemacht. Warum sollte er jetzt damit anfangen?«
»Gehen wir drumrum.«
Die Inspektion erbrachte keine auffälligen Kennzeichen.
»Oben?« fragte Lutz.
»In der Schale?«
»Genau. Wenn ich hier was nicht sofort sichtbar deponieren müsste, würde ich es oben machen.« antwortete Lutz und weiter: »Ich mach´ dir die Räuberleiter.«
»Ausgerechnet ich!«
»Du bist der Leichtere von uns beiden.«
»Okay.«
Die beiden Beamten zogen Schuhe und Socken aus, und der Autor muss zu seinem Leidwesen berichten, dass es davon nichts zu berichten gibt, Socken und Schuhe hielten sich im gesellschaftlich tolerierten Rahmen. Anders verhielt es sich mit den Flüchen, die Lutz ab den ersten Schritt in dem kalten Wasser ausstieß, er hatte sich an einer Glasscherbe geschnitten. Sie kamen unter dem Rand der oberen Schale an und hielten kurz vor dem fallenden Vorhang des Oberwassers.
»Los geht´s« sagte Lutz und hielt die vor dem Geschlecht gefalteten Hände zur Besteigung hin. Obermaier umfasste Lutz´ Hals, stellte den rechten Fuss in die Hände und zog sich hoch. »Bingo.« kam es von oben und gleich darauf sprang Obermaier, Lutz mit dem verdrängten Wasser benetzend, herab.
»Was ist es? Gib´ her.« quengelte Lutz, während er sich das Gesicht mit dem Ärmel seiner Jacke trocken wischte.
»Weiss nicht. Kam nicht dran. Wir müssen zur anderen Seite.«
Sie reproduzierten das Manöver an der gegenüberliegende Seite und diesmal kam Obermaier mit einem Umschlag zurück.
»Gehen wir an Land.« schlug Lutz vor und sie wateten zum Rand des Brunnens, wo er seine Schuhe aus den besitzergreifenden Händen eines Obdachlosen riss: »Das sind meine!«
»Ich hab´ sie aber zuerst entdeckt.«
»Ich bin von der Polizei.«
»Und dann raubst du einem armen Menschen die Schuhe?«
Obermaier kam, in Socken und Schuhen und drückte den Mann einen kleinen Schein in die Hand: »Lass´ gut sein.«
»Danke, Herr Doktor. Küss´ die Hand, Herr Professor. Einen schönen Tag, Herr Geheimrat.« hinterließ der Landstreicher unverkennbar wienerisch.
Lutz zog seine Schuhe an und sagte nachdenklich: »Einen Moment habe ich geglaubt, er sei´s.«
»Wer?«
»Der Kottan. Ein Kollege aus Wien. War mal sehr erfolgreich. Hab´ ihn irgendwann aus den Augen verloren. Aber hier und so? Kann einfach nicht sein.«
Obermaier rief: »Kottan!«
Doch der Landstreicher flüchtete, seinen Einkaufswagen mit der Gitarre hinter sich herziehend. Nur ein fernes: »Immer kassieren uns die Deutschen.« schien sich im ansonsten sonnigen Morgen nebelgleich zu verbreiten. Dann war der Spuk vergangen.
»Mach´ auf.« versuchte Lutz den Fortgang des Spiels zu forcieren.
»Zwei Eintrittskarten in´s Senckenbergsche Naturkundemuseum und einen Übersichtsplan. Die Saurierabteilung ist angekreuzt.«
 
Genau diese Abteilung war als geschlossen und mit rotweissen Bänder gesperrt. Lutz griff sich einen der regungslos dastehenden Aufseher und ordnete an: »Wir sind von der Polizei und müssen da rein.«
Der Mann erschrak, riss sich los und telefonierte an einem dieser Apparate, die hinter vorgetäuschten Brandschutzeinrichtungen wie roten Türen mit grossen F versteckt sind.
Kurze Zeit später kam aus einer geräuschlosen Tapetentür, die eigentlich besser Fossilientür heissen würde, denn eine Tafel versteinerter Schachtelhalme kaschierte sie, ein wichtig aussehender Mann im weissen Arbeitsmantel. »Sie sind von der Polizei?«
»Ja.« bestätigte Obermaier und wedelte mit seinem Dienstausweis.
»Schön. Sie kommen gerade richtig. Sehen Sie selbst, was diese Vandalen angerichtet haben.« Und der Weisse führte sie unter den Absperrbändern hindurch in den Saal.
Jemand hatte dem Stegosaurus für die Statik wesentliche Teile des Skeletts entfernt, der Rest bildete einen wirren Haufen auf dem angestammten Podest. Die fehlenden Knochen waren auf der freien Fläche zwischen den Mammuts im Hintergrund des Saales arrangiert.
»Haben Sie was verändert?«
»Nein. Schließlich sehen wir auch die Krimis im Fernsehen.«
»Macht das für Sie einen Sinn?« tappte Obermaier orientierungslos im Dunkel.
»Haben Sie eine Leiter?« fragte ein fortgeschrittener Lutz.
Der Weisse ordnete die Herbeibringung der Bockleiter an, die die Putzfrau sonst zum Abstauben der Rückenplatten benutzte, die dem Stegosaurier den Namen geben.
Lutz stieg hinauf, warf einen kurzen Blick auf das Knochenorakel, kam wieder herunter, ließ die Leiter auf die andere Seite des Stillebens umstellen, kletterte wieder hinauf, rief Obermaier zu sich und gemeinsam entzifferten sie, für alle hörbar das Muster unter sich auf dem Boden: »Fe-Steg«.
»Das hat aber nichts mit uns zu tun.« wies der Weisse diese Botschaft von sich.
»Nein. Das gilt uns.« beruhigte Lutz und fragte ratlos: »Aber was soll es bedeuten?«
»Fe ist das chemische Symbol für Eisen, wenn Ihnen das hilft.«
»Eisen - Steg.« sinnierte Obermaier, und er führte diese anstrengende aber bei ihm erfolglose Übung bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen durch.
»Eiserner Steg« verbesserte Lutz und bewies einmal mehr, dass seine Beförderung nicht nur erschlichen war.
»Lassen Sie alles, wie es ist, die Kollegen kommen gleich.« riefen die beiden Beamten von der Tür her und schossen davon.

Der eiserne Steg lag ruhig, frisch renoviert und unbeeindruckt quer hoch und grün über dem Main in der Sonne.
»Nichts zu sehen.« blinzelte Lutz in´s Gegenlicht.
»Der hätte auch was kleineres, handlicheres nehmen können.«
»Gehen wir rüber, vielleicht ist der Hinweis in Sachsenhausen.«
Ein nicht mehr zurückzuhaltender Hinweis auf die Geschichte: Als die Bürger der Stadt Frankfurt reich und dick geworden waren, überfielen sie auf der nächtlichen Fährtour zurück von Sachsenhausen und seinen Zechmöglichkeiten heftige Ängste, trunken und hilflos in´s Wasser zu fallen und die Getränke zu verdünnen. Da der Magistrat aus weltfremden Abstinenzlern bestand und für die Sorgen seiner Bürger (Kommt ihnen das bekannt vor? Das ist die bisher nicht entdeckte fünfte Naturkraft, die die Welt bewegt.) kein offenes Ohr aufwies, wurde aus den mangels Gelegenheit gesparten Trinkgeldern schließlich eine Fussgängerbrücke im Geschmack der Zeit, der Eiffelturm war noch ganz frisch, errichtet, der eiserne Steg. Eine gusseiserne Gedenktafel zeugt heute noch von dieser für Frankfurt typischen Entschlossenheit seiner Bürger, nicht umsonst ist es die Stadt der Banken.
Aber jetzt standen Lutz und Obermaier vor dem Beweis vergangener Grösse und zeigten kein bisschen des zupackenden Geistes ihrer Vorfahren.
»Und ich klettere da nicht hinauf.« wehrte sich Obermaier und zeigte auf die geschwungene Oberkante des Trägergeflechts.
»Soll ich die Feuerwehr rufen, oder was?« schrie Lutz zurück.
Um die Beiden sammelte sich schnell die übliche Menge vom Leben gelangweilter, für die kostenlose Unterhaltung dankbarer und als Gaffer diskreditierter, wissbegieriger Menschen, ausnahmslos Leute, die sich ihre kindliche Neugier bis in das jeweilige Alter bewahrt hatten. Die fortschreitende Diskussion zwischen Lutz und Obermaier entwickelte sich zügig in das Stadium der bestätigenden Wiederholungen nach dem Muster: »Nein - Doch - Nein - Doch - und so weiter.«. Ratschläge wurden zuerst zögernd und dann in enger Folge prasselnd aus dem umgebenden Ring abgefeuert, blieben aber in ihrer Heftigkeit unerhört und -verstanden.
Das Sprachgewirr steigerte sich bis zur absoluten Unverständlichkeit eigener Gedanken und verebbte dann spontan mangels eskalierendem Nachschubs, das Denken setzte wieder ein und jeder wich beschämt zurück, nur Lutz und Obermaier standen zurückgeblieben beisammen.
Der Main rauschte, aber bleiben wie ehrlich, dieser kanalisierte Fluss rauscht nicht, sondern er mogelt sich zu Tal und bietet damit keinen geeigneten lyrischen Hintergrund.
»Was jetzt?«
»Geben wir auf?«
»Vergessen wir die Sache, es gibt immer noch eine Gelegenheit.«
»Morgen ist auch noch ein Tag.«
Lutz warf eine letzten bedauernden Blick auf den Aufgang zu dem Steg und zuckte. Obermaier folgte seinem Blick und zuckte ebenfalls. Die sonst mit Patina getarnte Gedenktafel glänzte hell und golden in der Sonne. Die beiden Polizisten stiegen die fünf Stufen bis zum Podest unterhalb der Tafel synchron im feierlichen, getragen und schleppenden Gleich-schritt hinauf.
»Messing.« stellte Lutz fest.
»Ganz neu.« stimmte Obermaier zu.
»Und erst dieser Text.«
»Ziemlich verändert.« stimmte Obermaier wieder zu.
»Aller Guten Dinge sind drei.« las Lutz vor. Und: »Viertens kommt der Tod. Per Post und Bahn. Amen.«
»Wir sind auf jeden Fall fast am Ende.« konstatierte Obermaier.
»Nur, wo ist das Ende?«
»Bei Bahn und Post.«
»...« schwieg Lutz.
»Vielleicht am Güterbahnhof?« versuchte es Obermaier.
»In der Posthalle?« spann Lutz den Faden weiter.
»Wo die Pakete umgeladen werden?« steigerte Obermaier.
»Am Bahnhof rechts?« hob Lutz die Vision in´s Unendliche.
»Was stehen wie hier noch rum?«

»Und was wollen Sie da drin?« der Pförtner ließ sich durch Lutz´ Dienstausweis nicht von seiner Neugier abbringen.
»Wir suchen eine Leiche.«
»Die leben noch.« wehrte der Mann hinter dem Glas ab und zeigte auf die Bediensteten auf der Rampe neben dem Eingang. »Die bewegen sich immer so langsam.«
»Dürfen wir jetzt?« drängelte Obermaier.
»Wenn sie müssen. Gleich links.«
Lutz und Obermaier sahen sich irritiert an, fanden aber dann gleich links sowohl eine Toilette und den Eingang und gingen in der Ungewissheit, ob sie vielleicht verarscht worden waren, in die stille Halle.
»Wie eine neuzeitliche Kathedrale.« dachte Lutz: »Und wie das Licht durch die schmutzigen Scheiben bricht und die andächtige Stille. Wahnsinn.«
Sie gingen die verlassenen Ladestrassen entlang und blickten in die unnütz geparkten und leeren Güterwaggons. Vom Eingang her rief der Pförtner: »Geht heut´ alles mit LKW. Habe schon seit Jahren kein Paket mehr gesehen.«
Sie erreichten die Stirnwand mit den geschlossenen und zugerosteten Einfahrtstoren und querten Halle und Schienenstränge: drei Stufen abwärts, erste Schiene, zwei Schritte auf der Schwelle, zweite Schiene, drei Stufen aufwärts, sechs Schritte auf dem brüchigen Beton der Rampe und wieder drei Stufen...
»Warum ragt dieses Tor soweit rein?« fragte Lutz leichtfertig.
»Wird wohl einer dagegengefahren sein.« gab Obermaier leichthin die Antwort.
»Ruf´ die Jungs.« erbleichte Lutz, als er den Arm in den aufgesprungenen Spalt zwischen den Flügeln ragen sah und erkannte, dass die roten Schlarren auf dem Drahtglas des Tores nicht von Rostwasser stammten.
 
28


Der Chef rief Lutz, rüffelte ihn und befahl ihm: Gehe in´s Gefängnis. Begebe dich direkt dort hin. Gehe nicht über Los und ziehe keine fünftausend Mark ein.
Lutz gab das Handy an Obermaier mit den Worten: »Beschaff´ dir eine neue Nummer und gib sie nicht wieder jedem Trottel.« zurück und sah wieder den Bergungsarbeiten zu.
Eine Rangierlok hatte den Güterwagen von dem Tor weggezogen, die Türflügel hatten sich nur widerstrebend und erst in weit geöffneter Stellung von den sie durchbohrenden Puffern gelöst, Lutz bot sich das ganze mörderische Panorama mit den zerquetschten, traurigen Überresten an der Frontseite des Waggons.
Der Leichenbeschauer, diesmal ein sehr junger Quincy mit sichtlich wenig Erfahrung, kniete zwischen den Geleisen und opferte sein Frühstück. Dann endlich stand er auf, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, zog seinen weissen Kittel aus und ging laut klagend über die in der Sonne glitzern-den Schienenstränge in Richtung Mainbrücke davon. Er würde später, viel später, vielleicht nochmals in Lutz´ Ereignishorizont eintreten, aber diese Geschichte wird sich erst noch ereignen müssen, eventuell.
»Schaff´ Ersatz bei.« knurrte Lutz seinen Assistenten an.
»Bin schon da.« antwortete der unbemerkt herangekommene dienstälteste Arzt. »Habe gehört, dass das Ihre Leiche ist. Da ist alle Erfahrung und ein entfernter halber Magen nötig.« Quincy taxierte das Opfer: »Charmant, charmant. Er ist zerquetscht worden, nicht wahr?«
»Als wir ihn gefunden haben, klebte er am Tor.«
»Vor die Wand gefahren.« setzte Obermaier hinzu.
»Wie die meisten guten Absichten von Regierung und Opposition.« sagte ein Nichtidentifizierter.
»Psst. Wir sind schließlich Beamte.« Und Schleimer wollen wir nicht auch noch namentlich auszeichnen.
Der Arzt näherte sich, wild mit seiner Kleinbildkamera um sich schießend und mehrfach: »Was ein Motiv!« rufend der Arbeit.

Eine Viertelstunde später war alles erledigt: Die Taschen der Leiche geräumt, die Kleider in dem grauen Sack für Restmüll und der Körper wurde in der braunen Biotonne vom Gelände gefahren. Nur der Güterwaggon wurde zu gefährlichem, lebensbedrohenden Sondermüll erklärt, dessen Entsorgung erst nach einem dreissigjährigen Formularkrieg erfolgen werde können und deshalb in Form eines Generationenvertrages den Ungeborenen aufgedrängt wurde.
Lutz nahm die obligatorische Brieftasche in Empfang, drehte sich scheinbar zum Licht, nahm die ebenso obligatorischen fünf Tausender heraus, präsentierte sich und die jetzt erleichterte Brieftasche wieder den Anderen und verlas die Daten des obligatorischen Personalausweises (Alle Opfer können als staatstragende Bürger eingeordnet werden, da sie sich an die Personalausweismitführungspflicht hielten.): Ronald Mac Zahn, Anwalt, 43, reich und skrupellos.
Die beiden letzen Informationen standen nicht auf dem Papier, aber wer denkt das nicht bei der Erwähnung dieses Berufsstandes, besonders seit durch Grisham die Welt der freien Juristerei in ihrer ganzen Fülle verbreitet wird.
Lutz suchte weiter und fand das obligatorische Familienfoto: lächelnde Eltern, peinlich berührte Kinder, dann fand er noch ein Foto, aber mit anderer Mama und anderen Kindern, an dem ein weiteres Foto festpappte, wieder neue Frau und Kinder, jedesmal Junge und Mädchen. »Arbeit, Obermaier. Der Kerl hat gleich drei Witwen, die in angemessener Form verständigt werden wollen.«
»Wo kann ich kündigen?« lautete die Antwort, dann notierte sich Obermaier die Adressen, denn er hatte über seine Pensionsansprüche nachgedacht.
»Und lass mir den Wagen da.« setzte Lutz ihm nachrufend noch eins drauf.
»Und wie komm´ ich dort hin?« rief Obermaier zurück.
»Schon´ die Umwelt. Steig´ um auf Bus und Bahn.« skandierte ein sichtbar belustigter Lutz.
»Leck mich.« brüllte der verärgerte Assistent.
»Du bist ein schlechter Verlierer.« behielt Lutz diesmal das letzte Wort, bevor er sich wieder dem Innenleben der Brieftasche zuwandte und eine Mitgliedskarte der Gesellschaft der Förderer der umfänglichen Markierung des Äquatorialkreises, weisse Sektion fand. »Sieh´ an, sieh´ an.« murmelnd machte er sich aus den Weg nach Sachsenhausen.

Dieser zweite Besuch bei der Zentrale der Gesellschaft verlief gänzlich unspektakulär und geschäftsmässig. Der alte Baron gewährte ohne grosse Umstände, er ließ sich nur die absolute Vertraulichkeit gegenüber den Medien zusichern, Lutz den Einblick in die Mitgliederlisten. So sehr es den Autor jetzt in den schreibbereiten Fingern über der Tastatur juckt, die von Lutz zugesicherte Diskretion gilt auch für ihn, nur ein bescheidener Tip sei erlaubt: Wenn ihnen bei öffentlichen verbalen Absonderungen eines beliebigen Politikers der Gedanke kommt, da spreche ein Gendefekt, dann dürfen Sie mit gutem Gewissen auf eine Mitgliedschaft schließen. Diese Regel ist auch auf andere Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses anzuwenden.
Nur Roth, der hirnlose Politiker und Zahn, der geplättete Anwalt erwiesen sich als Mitglieder der Gesellschaft, die bei-den anderen Opfer, die gesichtslose Richterin und der ans Kreuz geschlagene Vollstrecker boten keinen Bezug.
»Mist.« verabschiedete sich Lutz. »Ich komme wieder.« sprach trotzig Hartmut von Seelande und ritt vom Hof. Aber das gehört in die deutschen Heldensagen und auf keinen Fall hier her, wenn auch Lutz dieselben Worte gebrauchte.
Der Weg zurück in´s Präsidium verlief ohne besondere Zwischenfälle, besonders, wenn man einen Auffahrunfall infolge gierigem Blätterns von geklauten Tausendmarkscheinen für normal hält, wie Lutz es bei Dienstfahrten tat.
Die zentrale Computerabteilung residierte hinter kugelsicherem Glas in der zweiten Etage mit unverbaubarem Blick auf einen Hinterhof, auf dem gerade ein Wasserwerfer mit Blumengießen beschäftigt war.
»Leider gehen die Blumen ein, da sie im Wasser immer CS - Reizstoffe gelöst haben.« erläuterte der Computerfreak von Monitor 1 die weitgehende Vegetationsfreiheit des Hofes.
Monitor 1 ist die höchste Stufe, die in der Computerabteilung erreichbar ist und erfordert eine jahrelange und aufopfernde Tätigkeit auf den Überholspuren des Daten - Highways oder einen erfolgreichen elektronischen Raubzug in einer Bank. Es ging im Präsidium das Gerücht, dass die in der Computerzentrale sitzenden Leute nur die Strohmänner und Frauen der inzwischen im Tessin ansässigen eigentlichen Computerfachleute seien. Zumindest stützte die überwiegend gezeigte Qualität diese Version.
»Ich habe eine vierte Leiche und möchte, dass wir sie durch die Datenbank jagen.« kam Lutz zu seinem Anliegen.
»Lass sehen.« forderte Monitor 1 und schlug dann auf seine Tastatur ein. Der Bildschirm wechselte die Farbe, wurde blass und begann Zeilen zu spucken. »He Jungs, wir haben einen Fall von Trigamie, wer hat darauf gewettet?«
»Norm!« kam es vielstimmig aus dem Raum zurück, Monitor 1 zog eine Zigarrenschachtel unter dem Schreibtisch her-vor und warf sie einem dicklichen Typ mit den Worten: »Schöne Grüsse an Vera.« zu.
Der Monitor spuckte immer noch Zeilen und zuckte bei jedem Hochrutschen des Bildes. »Is´ ´ne Allergie. Gegen Gewalt.« erläuterte Monitor 1 und schlug mit der Faust auf den Bildschirm ein. Die Zeilen blieben stehen und der Monitor auch. »Jetzt stellt er sich tot. Wird ´ne Weile dauern, sollten wir nutzen und lesen, was er gefunden hat.«
Lutz beugte sich vor, wurde aber sofort hastig von Monitor 1 zurückgerissen: »Vorsicht, er beisst.« Der Oberkommissar beschloss, in Zukunft jedem Gerücht über die Computerabteilung blind zu glauben und es, nachdem er es durch Verdoppelung der unwahrscheinlichsten Teile in die Nähe der wahrscheinlichen Wahrheit gebracht hatte, weiterzuverbreiten.
»Was haben wir also zu bieten?« fragte Lutz den Monitor 1.
»Ziemlich genau drei Vereine.«
»Drei Vereine?«
»Ja, alle hatten Verbindung zu diesen Vereinen, waren aber keine Mitglieder.«
»Und wie heissen diese Vereine?«
»1. Verein zur Förderung der städtischen Unkultur am Beispiel des Kulturetats der Stadt Frankfurt e.V.
2. Verein zur Bekämpfung staatlicher Willkür bei der Einschränkung der Ausübung des Rechtes auf die freie Wahl der Strassenseite e.V.
3. Verein zur Förderung der allgemeinen Rondenverbreitung in Mitteleuropa und angrenzender Kontinente e.V.«
»Sammlung schwachsinniger Sophismen.«
»Friedliche Förderung von Freiheit.«
»Erwischt! Von wird mit V geschrieben.«
»Gründe einen Verein für Lautverschiebung.«
 
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Lutz machte sich auf und zog weiter.
In seinem Büro angekommen, listete Lutz zuerst die seit gestern geleisteten Überstunden auf. Das zweistellige Ergeb-nis aktivierte einen tiefliegenden Reflex, den Ich-habe-im¬mer-meine-Pflicht-getan-und-warum-erkennt-das-keiner-an-Reflex.
Dieser Reflex lässt sich nur bei öffentlich Bediensteten fest-stellen und wird bei uns üblicherweise mit der Zuteilung des Bundesverdienstkreuzes geheilt, ersatzweise, bei minderen Symptomen oder Chargen, mit dem Ehrenbrief des zuständigen Landesfürsten.
Wird der einmal aktivierte, akute Reflex nicht sofort im Anfangsstadium mit heftigem Schulterklopfen nicht unter einer Viertelstunde eingedämmt, bildet er Metastasen in den ehrkäsigen Gehirnlappen und ist nur noch mit verschärften Dienstjubiläen unter Einschluss kernigen Händeschüttelns durch den Ministerpräsidenten, ersatzweise auch des Bundesministers für das Innere (Wer sonst?) an der epidemischen Ausbreitung zu hindern. Das wurde in der Anfangszeit der Republik leider versäumt, und nun ist unser Land so wie es ist und die Bevölkerung unterliegt einem dumpfen aber mächtigen Drang in den öffentlichen Dienst.
Auch Lutz war in seinem früheren, jugendlichen Leben diesem unaufhaltsamen Sehnen nach Unkündbarkeit, regelmässigen Bezügen und Vorhersehbarkeit gefolgt, hatte sich für den Staatsdienst beworben und war endlich bei der Polizei gelandet.
In den Lehrjahren bis zu seiner endgültigen Übernahme auf Lebenszeit (Das ist der Moment, wo ein Beamter sich zurücklehnt und sagt: »Jetzt habe ich es geschafft.« Die Meisten bleiben dann zurückgelehnt.) verschärfte sich die unaussprechliche Sehnsucht zu konkreten Symptomen, die reine Erfüllung der Pflicht erzeugte bereits das Gefühl völliger Verausgabung.

Als Obermaier von seiner Kondolenztour an drei Spielorten zurückkam, fand er seinen Chef schweratmend und »Ruhm, Orden, Zuschläge.« murmelnd im gemeinsamen Büro.
Schnell angewandte Kompressen aus Belobigungsurkunden um den angeschwollenen und nie voll zu kriegenden Hals milderten die schlimmsten Anzeichen und gaben Obermaier die Zeit, noch fünf Kollegen herbeizurufen und gemeinsam auf dem Boden kniend sich verneigend und: »Heil dir, unser Obermufti!« rufend Lutz in die Realität zurückzuführen.
»Danke. Kollegen. Das war höchste Zeit. Und hat so gut getan. Nochmals vielen Dank.« Und dem aufmerksamen Beobachter wird die echte Rührung des Oberkommissars nicht entgangen sein, nur eine Erschütterung bis in die Grundfesten einer Persönlichkeit kann so etwas hervorrufen, also halten Sie Zwischenrufe wie »Simulant« und »Wichtigtuer« zurück, sie sind wirklich angesichts der Tragweite des Problems nicht an¬gebracht (Weiterführende Literatur zu diesem Thema: Peter, Das Peterprinzip oder Murphy, Mein Gesetz oder Spengler, Der Untergang des Abendlandes oder jedes beliebige von Tisch und auf die bestrichene Seite fallende Butterbrot.)
Sollten Sie die letzten Absätze aus beruflichen Gründen oder zutreffender Betroffenheit übersprungen haben, hier die gute Nachricht: Es geht mit der Geschichte weiter. Und nun die schlechte Nachricht: Die Garantie dieses Buches ist abgelaufen, weil Sie die nötigen Inspektionen nicht haben vornehmen lassen und Sie müssen den Text jetzt so interpretieren, wie ihn der Autor gemeint hat. Trotzdem noch viel Vergnügen.
Also, Lutz war mit den Namen und natürlich auch den Adressen dem Wahnsinn der Computerabteilung entkommen und Obermaier hatte durch die diversen Familien des Opfers getourt und dabei zahllose Notizblöcke mit seiner mikroskopischen und unleserlichen Handschrift gefüllt.
Leider bestand Obermaier auf eine halbstündige Kurzfassung eines Berichtes, der Lutz, geschwächt wie er war, nicht ausweichen konnte, wir aber unter dem Motto: »Rettet den deutschen Wald.« Setzern, Druckern und Papier ersparen.
Endlich konnte Lutz seinen profunden Wissensstand vor Obermaier prahlerisch ausbreiten, sozusagen informatorisch radschlagend. Die Beiden beschlossen, sich diese Vereine unverzüglich nach einem ausgiebigen, mehrgängigen Mittagessen anzuschauen.

Man stelle sich das Erstaunen der Beamten vor, als sich die Heimatadresse des Vereins zur Förderung der städtischen Unkultur am Beispiel des Kulturetats der Stadt Frankfurt e.V. als im Römer (Früher Krönungsort von Kaisern, heute schlägt hier eine parteienübergreifende Kommunalpolitik Kronen aus. Aus was? Das würde bereits den Tatbestand der Beleidigung erfüllen.) gelegen erwies.
Im angegebenen Zimmer wurden sie freundlich vom Assistenten der Kulturdezernentin empfangen, der ebenso freundlich bereit war, die dem Verein zugrundeliegenden politischen Winkelzüge zu erläutern.
»Es fing mit den gigantischen, den Etat sprengenden Folge-kosten...« begann der Assistent die Erläuterung: »...des völlig überzogenen Museumsufers an. Als die Chefin daraufhin die nötige Kürzungen durch Schließung des einzigen produktiven Theaters der Stadt vornahm, erhob sich ein Sturm der Entrüstung in den Medien und unter der Kulturmafia. Die Schließung wurde zurückgenommen und im Etat klaffte wieder die ursprüngliche Lücke. Die Oberbürgermeisterin bestand weiterhin auf Kürzung, ließ aber offen, wo?
Nun gibt es wenige Triebe, die so stark sind, wie den Herdentrieb. Wir konnten einige einsichtige (Es waren die, die das Museumsufer beschlossen hatten) Mitglieder der Kulturmafia gewinnen, den Verein zur Förderung der städtischen Unkultur am Beispiel des Kulturetats der Stadt Frankfurt e.V. zu gründen. Diesen Leithammeln schlossen sich bald die restlichen Sprecher der Kulturszene an und die Kritik verstummte unter dem Einfluss des restriktiven Vereinsstatuts.«
»Irgendwie clever.« stimmte Lutz zu. »Wie aber hängen unsere vier Opfer mit dem Verein zusammen?«
»Roth als Politiker hatte die Idee, die Richterin trug den Verein offiziell in das Register ein, Zahn als Anwalt entwarf das Statut und der Vollstrecker entwickelte das System der Beitragsbeitreibung.«
»Hatten die nach der Gründung noch mit dem Verein zu tun?«
»Nein.«

Draussen, auf dem Parkplatz sagte ein sehr nachdenklicher Obermaier: »Vielleicht sollte ich auch einen Verein gründen, den Verein zur Richtigstellung erschlichener Beförderungsempfehlungen e.V.«
»Man braucht, glaube ich, fünf Gründungsmitglieder. Und die kriegst du nie zusammen.«
Sie waren sehr schweigsam auf dem ganzen langen Weg zum zweiten Verein.

Der Verein zur Bekämpfung staatlicher Willkür bei der Einschränkung der Ausübung des Rechtes auf die freie Wahl der Strassenseite e.V. fiel durch die Plazierung seines Messingschilds in Oversizeausführung an der den restlichen Firmenschildern entgegengesetzten Seite des Eingangs auf.
Sie wurden freundlich aus dem Flur heraus und hinter den Schreibtisch des Clubsekretärs auf die Besucherstühle gebeten.
»Was können Sie für mich tun?« fragte der Sekretär nach der Vorstellung, die für Lutz´ Geschmack einer Verabschiedung zu ähnlich gewirkt hatte.
»Der Name ihres Vereins legt den Verdacht einer kriminellen, wenn nicht sogar terroristischen Vereinigung nahe. Wann sind Sie das letzte Mal überprüft worden und wo, bitteschön, ist die Plakette?«
Der Sekretär stand umständlich und wortlos auf, indem er den Stuhl mit der Sitzfläche an seine (des Sekretärs) Sitzfläche gepresst hielt, dann drehte er sich um, beugte sich vor und präsentierte die nackte Rückseite (des Stuhls, was haben Sie gedacht?) mit der Verfassungsschutzplakette des laufenden Jahres.
»Danke, das genügt.«
Nachdem er die Ausgangsposition wieder eingenommen hatte, sagte der Sekretär: »Sie stören sich genau so wie Ihre Kollegen an dem Wort Willkür. Wir verwenden es in des Wortes eigener Bedeutung: gewollte Vorführung und nicht in der seit der französischen Revolution ideologisch befrachteten Abqualifizierung. Deshalb, und weil uns befreundete Regierungen wie Grossbritannien und Japan ihren rechtsgesteuerten Schutz zugesagt haben, sind wir unter die staatstragenden Säulen der Gesellschaft aufgenommen worden.«
»Und wie äussert sich Ihre Vereinstätigkeit?« fragte Obermaier und wollte Lutz durch die für die Ermittlungen über-flüssige Antwort ärgern.
»Wir erwägen zur Zeit, das Saarland billig zu erwerben und dort den Linksverkehr wieder einzuführen. Der Bundesfinanzminister würde es uns für eine Mark lassen, der Haken an der Sache ist aber, dass wir die jetzige Landesregierung mit übernehmen müssten, und wie lange das unsere Finanzen aushalten, wird noch geprüft.« Der Sekretär zog fragend die Schultern hoch. »Aber deswegen sind sie nicht hier?«
»In welcher Beziehung stehen Roth, Bärmann - Lütze, Friedrich und Zahn zu Ihrem Verein?« wollte Lutz wissen, Obermaier natürlich auch.
»Roth als Politiker hatte die Idee, die Richterin trug den Verein offiziell in das Register ein, Zahn als Anwalt entwarf das Statut und der Vollstrecker entwickelte das System der Beitragsbeitreibung.«
»Hatten die nach der Gründung noch mit dem Verein zu tun?«
»Nein.«

Der Verein zur Förderung der allgemeinen Rondenverbreitung in Mitteleuropa und angrenzender Kontinente e.V. war laut Anschrift in einer aufgelassenen Fabrik untergekommen.
Lutz und Obermaier bahnten sich durch die Abfälle den Weg in die Halle, fanden aber ausser einer Unzahl von Gussscheiben, einer vollständigen Gießereieinrichtung und einer Maschine, die Lutz für eine Tablettiermaschine, Obermaier aber für eine Einrichtung zur Herstellung von Nudelsieben hielt, wenig Erhellendes. »Ich glaube,...« sagte Obermaier: »...wir finden hier wenig Erhellendes.«
»Du hast recht wie selten.« stimmte Lutz zu und fragte, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten in einen grausam verfälschten, verdächtig süddeutsch klingenden Dialekt verfallend: »Was damer jetzt?«
»Jetzt damer die Füss´ weh.« antwortete Obermaier, Tonfall und Sprachmelodie in gleichem Masse nutzend, um die grundsätzlichen Erschwernisse einer Ermittlungslaufarbeit anprangernd.
Retten wir uns vor einer eventuellen Steigerung dieses Kapitels, indem wir den eisernen Vorhang auslösen.
 
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