Einfach Mensch
Sehr aktives Mitglied
21
Der Lutz nahm sich der Sache an, wie er es gesagt hatte.
Der Kaffee auf der nicht abgeschalteten Warmhalteplatte hatte bis zu Lutz´ Rückkehr Espressoqualität entwickelt und roch so stark und dick, wie er in die Tasse floss.
Draussen vor dem Fenster begann der Tag in das üblich sinnlose, aber grossstädtische Rasen zu verfallen, drinnen walteten die züchtigen Beamten mit der langen Anlaufzeit. Geschirrklappern und Kaffeemaschinenröcheln drang aus allen Büros. Lutz schloss die Tür und genoss das wohlig zerschlagene Gefühl am Ende einer durchgebrachten Nacht.
Mit dem heissen Becher in den Händen setzte er sich in seinen Schreibtischstuhl und ließ die Wärme in sich ausstrahlen. Nein, er wird sich in dieser stimmungsvollen Szene nicht die Hände verbrennen oder einem wie auch immer gearteten Unglück ausgesetzt werden, der Mann hat sich durch die Schrecken einer Nacht für uns, die Allgemeinheit, durchgeschlagen und wir sollten ihm etwas Ruhe gönnen.
Lutz nimmt dieses Angebot an und schließt die Augen.
Auf den geschlossenen Lidern läuft der Vorspann des Schlafes.
Lutz rutscht auf der Sitzfläche nach vorn, lehnt sich bequem weiter zurück.
Der Hauptfilm fängt an.
Erstes Bild:
Wüste. Wellige Sanddünen bis zum fernen Horizont. Ein Mann in der vollständigen Uniform des 18. Dragoner Leibregiments, vereidigt auf den Grossfürsten von St. Petersburg, in gebückter Stellung, mit der Rückfront zum Betrachter, scheint den Sand zu streicheln. Das Bild kippt, die Vogelperspektive stellt zwei Dinge klar, die Uniform ist garnicht voll-ständig, es fehlt der obligatorische Dreispitz und anscheinend tragen Dragoner unter ihrem Hut nichts, nicht einmal eine Schädeldecke, sondern der aufmerksame Betrachter kann bis den Schlund sehen. Auch das Streicheln des Sandes stellt sich als eine durch die täuschende Perspektive geförderte, falsche Annahme heraus, der Mann streicht den Sand, zieht mit einen Flachpinsel zehn Zentimeter weisse Farbe, taucht ihn in einen immer rechtzeitig auftauchenden Eimer ein und zieht die vorgemalte Linie nach. Weiteres automatisches Eintauchen, Ziehen, Eintauchen, Ziehen. Über die schroffe Düne links im Mittelgrund schiebt sich ein müde auf den Boden gesenkter Kopf, es folgt ein erschöpft pendelnder Hals, eine rissige Hand stützt sich in den glühenden Sand, eine weitere wird nachgezogen, der Rumpf wuchtet sich oberhalb der Hände über die Dünenkamm, ein, dann ein weiteres zerschundenes Knie folgt. Obermaier, denn es ist Obermaier, kriecht auf allem Vieren mühsam den Abhang hinab, man realisiert, dass ihn die Sonne ausgedörrt hat, Hautfetzen hängen von Gesicht und Lippen, er krächzt, als er den Mann sieht: »Hi..lf..e«. Der Mann in der Uniform blickt nicht hoch, achtet nur auf seine stupide Arbeit. Obermaier wälzt sich rollend bis in den Bereich der gedachten Fortsetzung der Linie. Der Mann arbeitet sich rückwärts weiter, stösst gegen Obermaier, hebt sorgsam, ohne zu schauen, tastend die Füsse über den Liegenden und zieht unbeirrt seine weisse Linie. Obermaier fleht: »Durst, Durst.«, aber der Mann ignoriert ihn vollständig und komplett, auch als Obermaier nach dem feuchten Pinsel schnappt und die Farbe ableckt. Der Dragoner malt sich in Zehn - Zentimeter - Schritten aus dem Bild, Obermaier bleibt hilflos liegen und verwandelt sich in das vertrocknete Abbild einer Mumie, er nimmt unter diesem Vorgang eine frappierende Ähnlichkeit mit Ötzi, den Steinzeitjäger aus dem Gletscher an. Die Sonne geht unter, die zweigeteilte Wüste wird eiskalt und gefriert unter einer Schicht Firn.
Zweites Bild:
Mitzi öffnet mit einer einladenden Geste die Tür und sagt: »Bitte«. ER, der Betrachter, tritt ein und findet sich auf einer steinigen Hochebene wieder. »Aber, ich dachte, wir wären verabredet?« beschwert ER sich, dreht sich um und die Tür, durch die ER gerade getreten ist, ist verschwunden. Von unten, den steil ansteigenden Flanken des Tafelberges, kommen rhythmische Laute, ein Singen, bekannt aus ethnologischen Dokumentarfilmen als Einleitung unappetitlicher Bräuche. Er tritt an den scharfen Abbruch der Ebene und kann den Steilhang hinabsehen. Eine Karawane Mensch zieht in langer Formation bergauf und treibt dabei, drohend schreiend, einen Mann im schlecht geschnittenen und sitzenden, grauen Strassenanzug vor sich her. Der Mann ist schlecht in Form und strauchelt ununterbrochen. Er fällt den Berg hinauf, getrieben von der bedrohlichen Menge hinter und gezogen von der Verheissung der nahen Kante vor sich. Die Hosenbeine sind durch das Straucheln zerfetzt und fallen in Streifen auf die braunen Schuhe, seine Hände bluten aufgeschürft. Die Karawane aus Verfolgtem und Verfolgern kommt näher, zwischen den Rufen: »Tod, Tod!« ist das qualvolle Keuchen des Mannes zu hören. Dann entdeckt der Mann IHN. Aus dem Liegen schaut er IHN gehetzt flehend an, doch ER rettet nicht, will nur betrachten. Der Mann rafft sich nach einem langen Moment wieder auf, stolpert einen Meter weiter über die Kante, findet auch auf der Hochebene keine Hilfe und bleibt schluchzend liegen. ER hört zwischen den stossweisen unartikulierten Seufzern Worte wie: »Warum ich?« und kann doch kein Mitleid in sich aufsteigen fühlen, nur Neugier, weshalb ihn dieser Gehetzte so unberührt lässt. ER hebt machtvoll der Masse eine aufhaltende Hand entgegen und ruft: »Warum?« Die Masse, im Bewusstsein, das Recht zu vollziehen, drängt ohne Antwort weiter, würde ihn überrennen. ER hebt auch die andere Hand und aus seiner Kehle steigt ein mächtiges Donnern: »Warum?«. Die Spitze der Masse stockt, wird noch einen Schritt von den Nachfolgen-den getrieben, dann weichen alle vor dieser Machtfülle zurück. Ein alter und anscheinend entbehrlicher Mann wird vorgeschoben. ER empfindet Reue über seine Demonstration und fragt beruhigend: »Warum also?« Der Alte fällt beschwichtigend auf die Knie, beugt das Haupt und spricht zu den staubigen Steinen vor sich: »Aber er ist ein Steuereintreiber. Er nahm der Witwe die letzte Kuh und den Waisen das Brot. Er nahm dem Bauern das Land, dem Hirten das Vieh und dem Handwerker das Werkzeug. Und so nahm er ihnen allen das Leben und die Hoffnung.« Der Alte schweigt, bereit das Urteil zu hören. Und ER wägt und findet zu leicht: »Kreuzigt ihn, auf dass er am Querholz die Labsal der Demut finde, bevor in die tiefste Hölle fahren wird.« Und ER wendet sich ab, besorgt über die plötzliche Härte, spürt eine Träne im Augenwinkel, öffnet die Tür und ist wieder bei Mitzi. Das Licht im Treppenhaus schaltet sich ab.
Drittes Bild:
Es dämmert im Zeitraffertempo und die Umgebung wird sichtbar. Das zunehmende Licht zeigt die Farben. Lutz steht auf einer saftig grünen Wiese, über sich einen ebenso blauen Himmel. Nur Himmel und Gras, nichts sonst stört die Ausgewogenheit bis zur horizontalen Vereinigung. Lutz stösst sich leicht vom Boden ab und schwebt eine Handbreit hoch regungslos in der Luft. Er ist überrascht, dass dieser letzte Versuch einer langen Reihe das erhoffte Ergebnis gebracht hat, beinahe hatte er schon Frau und Mutter geglaubt: »Der Mensch kann nicht fliegen.« Lutz stösst sich an der Luft ab und gleitet nach oben. Er wird langsamer und bleibt schließlich regungslos im Nichts schweben. Er genießt diesen Zustand vollständiger Freiheit. Dann richtet er seine Gedanken auf den Horizont und sein Körper folgt ihm, er liegt jetzt in der Luft und überquert das Gras unter sich mit hoher Geschwindigkeit. Der Horizont vor ihm verändert sich, wird zackig ausgebrochen und formt sich endlich zu der Skyline einer Stadt. Das strahlende Licht verblasst, die Welt erscheint rostrot fleckig. Lutz schwebt jetzt über den niedrigen Vororten. Er möchte zurück und stellt sich die Wiese vor, aber es zieht ihn zur Mitte der Stadt. Die neue Freiheit gehorcht ihm nicht. Die Gebäude ragen höher und Lutz taucht in seinem rasenden Flug in die klaffenden Schluchten ein und folgt dem Lauf der Strassen. Diese ganze Stadt wirkt abgegriffen und vernachlässigt. Die gerade Strasse führt auf einen gigantischen Turm zu, der seltsam zerfließend wirkt. Als er näher kommt, sieht Lutz den Grund: Der Turm ist über und über mit gotischen Wasserspeiern besetzt, alle Spielarten dieser Dämonendarstellung sind vertreten, und alle richten ihren blinden, steinernen Blick auf den heranschwebenden Lutz. Vor ihm tut sich die Wand auf, klafft plötzlich eine Öffnung, die er fliegend passiert. Sobald er das Innere des Turms erreicht hat, fällt ein gewaltiges Tor aus Stein vor die Öffnung. Der Saal ist gross, aber endlich und nur unzureichend mit rauchigen Fackeln erleuchtet. An der entfernten Stirnwand ist ein Tribunal aufgebaut. Lutz schwebt auf es zu und kommt unwillentlich zum Halten, als er Einzelheiten erkennen kann: In der Mitte und am höchsten Punkt steht seine Ex-Frau, links und rechts, etwas tiefer, ihre gesichtslose Anwältin, weiter links und rechts, nach aussen abfallend postieren sich die Schreiberinnen des Gerichts und protokollieren. Alle ragen blutrote Roben und totenweisse Perücken. »Lutz« hallt sein Name von den Wänden. »Lutz! Du hast dich unerlaubt erhoben und die Menschen beschämt.« Die Worte wogen durch den Saal, kehren wieder und umfließen eindringlich Lutz. »Selbst jetzt, vor deinen Richterinnen, schwebst du frech in der Luft, als ob für dich die Gesetze der Natur nicht gelten.« »Darf ich verteidigend reden?« »Nicht nötig, vollstreckt das Urteil!« und Lutz erhält seine naturgegebene Schwere wieder und stürzt ab. Er spürt den Aufprall und eine folgende Nässe um seine Körpermitte. Dann schlug er die Augen auf und lag neben seinem Stuhl im Büro, den Kaffeebecher umklammerte er noch.
Obermaier stand in der Tür und feixte.
Der Lutz nahm sich der Sache an, wie er es gesagt hatte.
Der Kaffee auf der nicht abgeschalteten Warmhalteplatte hatte bis zu Lutz´ Rückkehr Espressoqualität entwickelt und roch so stark und dick, wie er in die Tasse floss.
Draussen vor dem Fenster begann der Tag in das üblich sinnlose, aber grossstädtische Rasen zu verfallen, drinnen walteten die züchtigen Beamten mit der langen Anlaufzeit. Geschirrklappern und Kaffeemaschinenröcheln drang aus allen Büros. Lutz schloss die Tür und genoss das wohlig zerschlagene Gefühl am Ende einer durchgebrachten Nacht.
Mit dem heissen Becher in den Händen setzte er sich in seinen Schreibtischstuhl und ließ die Wärme in sich ausstrahlen. Nein, er wird sich in dieser stimmungsvollen Szene nicht die Hände verbrennen oder einem wie auch immer gearteten Unglück ausgesetzt werden, der Mann hat sich durch die Schrecken einer Nacht für uns, die Allgemeinheit, durchgeschlagen und wir sollten ihm etwas Ruhe gönnen.
Lutz nimmt dieses Angebot an und schließt die Augen.
Auf den geschlossenen Lidern läuft der Vorspann des Schlafes.
Lutz rutscht auf der Sitzfläche nach vorn, lehnt sich bequem weiter zurück.
Der Hauptfilm fängt an.
Erstes Bild:
Wüste. Wellige Sanddünen bis zum fernen Horizont. Ein Mann in der vollständigen Uniform des 18. Dragoner Leibregiments, vereidigt auf den Grossfürsten von St. Petersburg, in gebückter Stellung, mit der Rückfront zum Betrachter, scheint den Sand zu streicheln. Das Bild kippt, die Vogelperspektive stellt zwei Dinge klar, die Uniform ist garnicht voll-ständig, es fehlt der obligatorische Dreispitz und anscheinend tragen Dragoner unter ihrem Hut nichts, nicht einmal eine Schädeldecke, sondern der aufmerksame Betrachter kann bis den Schlund sehen. Auch das Streicheln des Sandes stellt sich als eine durch die täuschende Perspektive geförderte, falsche Annahme heraus, der Mann streicht den Sand, zieht mit einen Flachpinsel zehn Zentimeter weisse Farbe, taucht ihn in einen immer rechtzeitig auftauchenden Eimer ein und zieht die vorgemalte Linie nach. Weiteres automatisches Eintauchen, Ziehen, Eintauchen, Ziehen. Über die schroffe Düne links im Mittelgrund schiebt sich ein müde auf den Boden gesenkter Kopf, es folgt ein erschöpft pendelnder Hals, eine rissige Hand stützt sich in den glühenden Sand, eine weitere wird nachgezogen, der Rumpf wuchtet sich oberhalb der Hände über die Dünenkamm, ein, dann ein weiteres zerschundenes Knie folgt. Obermaier, denn es ist Obermaier, kriecht auf allem Vieren mühsam den Abhang hinab, man realisiert, dass ihn die Sonne ausgedörrt hat, Hautfetzen hängen von Gesicht und Lippen, er krächzt, als er den Mann sieht: »Hi..lf..e«. Der Mann in der Uniform blickt nicht hoch, achtet nur auf seine stupide Arbeit. Obermaier wälzt sich rollend bis in den Bereich der gedachten Fortsetzung der Linie. Der Mann arbeitet sich rückwärts weiter, stösst gegen Obermaier, hebt sorgsam, ohne zu schauen, tastend die Füsse über den Liegenden und zieht unbeirrt seine weisse Linie. Obermaier fleht: »Durst, Durst.«, aber der Mann ignoriert ihn vollständig und komplett, auch als Obermaier nach dem feuchten Pinsel schnappt und die Farbe ableckt. Der Dragoner malt sich in Zehn - Zentimeter - Schritten aus dem Bild, Obermaier bleibt hilflos liegen und verwandelt sich in das vertrocknete Abbild einer Mumie, er nimmt unter diesem Vorgang eine frappierende Ähnlichkeit mit Ötzi, den Steinzeitjäger aus dem Gletscher an. Die Sonne geht unter, die zweigeteilte Wüste wird eiskalt und gefriert unter einer Schicht Firn.
Zweites Bild:
Mitzi öffnet mit einer einladenden Geste die Tür und sagt: »Bitte«. ER, der Betrachter, tritt ein und findet sich auf einer steinigen Hochebene wieder. »Aber, ich dachte, wir wären verabredet?« beschwert ER sich, dreht sich um und die Tür, durch die ER gerade getreten ist, ist verschwunden. Von unten, den steil ansteigenden Flanken des Tafelberges, kommen rhythmische Laute, ein Singen, bekannt aus ethnologischen Dokumentarfilmen als Einleitung unappetitlicher Bräuche. Er tritt an den scharfen Abbruch der Ebene und kann den Steilhang hinabsehen. Eine Karawane Mensch zieht in langer Formation bergauf und treibt dabei, drohend schreiend, einen Mann im schlecht geschnittenen und sitzenden, grauen Strassenanzug vor sich her. Der Mann ist schlecht in Form und strauchelt ununterbrochen. Er fällt den Berg hinauf, getrieben von der bedrohlichen Menge hinter und gezogen von der Verheissung der nahen Kante vor sich. Die Hosenbeine sind durch das Straucheln zerfetzt und fallen in Streifen auf die braunen Schuhe, seine Hände bluten aufgeschürft. Die Karawane aus Verfolgtem und Verfolgern kommt näher, zwischen den Rufen: »Tod, Tod!« ist das qualvolle Keuchen des Mannes zu hören. Dann entdeckt der Mann IHN. Aus dem Liegen schaut er IHN gehetzt flehend an, doch ER rettet nicht, will nur betrachten. Der Mann rafft sich nach einem langen Moment wieder auf, stolpert einen Meter weiter über die Kante, findet auch auf der Hochebene keine Hilfe und bleibt schluchzend liegen. ER hört zwischen den stossweisen unartikulierten Seufzern Worte wie: »Warum ich?« und kann doch kein Mitleid in sich aufsteigen fühlen, nur Neugier, weshalb ihn dieser Gehetzte so unberührt lässt. ER hebt machtvoll der Masse eine aufhaltende Hand entgegen und ruft: »Warum?« Die Masse, im Bewusstsein, das Recht zu vollziehen, drängt ohne Antwort weiter, würde ihn überrennen. ER hebt auch die andere Hand und aus seiner Kehle steigt ein mächtiges Donnern: »Warum?«. Die Spitze der Masse stockt, wird noch einen Schritt von den Nachfolgen-den getrieben, dann weichen alle vor dieser Machtfülle zurück. Ein alter und anscheinend entbehrlicher Mann wird vorgeschoben. ER empfindet Reue über seine Demonstration und fragt beruhigend: »Warum also?« Der Alte fällt beschwichtigend auf die Knie, beugt das Haupt und spricht zu den staubigen Steinen vor sich: »Aber er ist ein Steuereintreiber. Er nahm der Witwe die letzte Kuh und den Waisen das Brot. Er nahm dem Bauern das Land, dem Hirten das Vieh und dem Handwerker das Werkzeug. Und so nahm er ihnen allen das Leben und die Hoffnung.« Der Alte schweigt, bereit das Urteil zu hören. Und ER wägt und findet zu leicht: »Kreuzigt ihn, auf dass er am Querholz die Labsal der Demut finde, bevor in die tiefste Hölle fahren wird.« Und ER wendet sich ab, besorgt über die plötzliche Härte, spürt eine Träne im Augenwinkel, öffnet die Tür und ist wieder bei Mitzi. Das Licht im Treppenhaus schaltet sich ab.
Drittes Bild:
Es dämmert im Zeitraffertempo und die Umgebung wird sichtbar. Das zunehmende Licht zeigt die Farben. Lutz steht auf einer saftig grünen Wiese, über sich einen ebenso blauen Himmel. Nur Himmel und Gras, nichts sonst stört die Ausgewogenheit bis zur horizontalen Vereinigung. Lutz stösst sich leicht vom Boden ab und schwebt eine Handbreit hoch regungslos in der Luft. Er ist überrascht, dass dieser letzte Versuch einer langen Reihe das erhoffte Ergebnis gebracht hat, beinahe hatte er schon Frau und Mutter geglaubt: »Der Mensch kann nicht fliegen.« Lutz stösst sich an der Luft ab und gleitet nach oben. Er wird langsamer und bleibt schließlich regungslos im Nichts schweben. Er genießt diesen Zustand vollständiger Freiheit. Dann richtet er seine Gedanken auf den Horizont und sein Körper folgt ihm, er liegt jetzt in der Luft und überquert das Gras unter sich mit hoher Geschwindigkeit. Der Horizont vor ihm verändert sich, wird zackig ausgebrochen und formt sich endlich zu der Skyline einer Stadt. Das strahlende Licht verblasst, die Welt erscheint rostrot fleckig. Lutz schwebt jetzt über den niedrigen Vororten. Er möchte zurück und stellt sich die Wiese vor, aber es zieht ihn zur Mitte der Stadt. Die neue Freiheit gehorcht ihm nicht. Die Gebäude ragen höher und Lutz taucht in seinem rasenden Flug in die klaffenden Schluchten ein und folgt dem Lauf der Strassen. Diese ganze Stadt wirkt abgegriffen und vernachlässigt. Die gerade Strasse führt auf einen gigantischen Turm zu, der seltsam zerfließend wirkt. Als er näher kommt, sieht Lutz den Grund: Der Turm ist über und über mit gotischen Wasserspeiern besetzt, alle Spielarten dieser Dämonendarstellung sind vertreten, und alle richten ihren blinden, steinernen Blick auf den heranschwebenden Lutz. Vor ihm tut sich die Wand auf, klafft plötzlich eine Öffnung, die er fliegend passiert. Sobald er das Innere des Turms erreicht hat, fällt ein gewaltiges Tor aus Stein vor die Öffnung. Der Saal ist gross, aber endlich und nur unzureichend mit rauchigen Fackeln erleuchtet. An der entfernten Stirnwand ist ein Tribunal aufgebaut. Lutz schwebt auf es zu und kommt unwillentlich zum Halten, als er Einzelheiten erkennen kann: In der Mitte und am höchsten Punkt steht seine Ex-Frau, links und rechts, etwas tiefer, ihre gesichtslose Anwältin, weiter links und rechts, nach aussen abfallend postieren sich die Schreiberinnen des Gerichts und protokollieren. Alle ragen blutrote Roben und totenweisse Perücken. »Lutz« hallt sein Name von den Wänden. »Lutz! Du hast dich unerlaubt erhoben und die Menschen beschämt.« Die Worte wogen durch den Saal, kehren wieder und umfließen eindringlich Lutz. »Selbst jetzt, vor deinen Richterinnen, schwebst du frech in der Luft, als ob für dich die Gesetze der Natur nicht gelten.« »Darf ich verteidigend reden?« »Nicht nötig, vollstreckt das Urteil!« und Lutz erhält seine naturgegebene Schwere wieder und stürzt ab. Er spürt den Aufprall und eine folgende Nässe um seine Körpermitte. Dann schlug er die Augen auf und lag neben seinem Stuhl im Büro, den Kaffeebecher umklammerte er noch.
Obermaier stand in der Tür und feixte.