Satirischer Fortsetzungsroman

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Einige Zeit später vergingen sich Lutz und Obermaier gegen ihren Herrn, den Chef.
Im Tunnel öffnet sich eine Tür, hinter der nur eine Elektroverteilung sein dürfte. Der alte und der junge Mann kommen vorsichtig heraus. Beide tragen schwarz. Der Alte streckt fordernd die Hand aus, der Jüngere legt ein Messinstrument hin-ein. Der Ältere hantiert und winkt dann den Jüngeren herbei. Beide beugen sich über die schwach erleuchtete Skala und lesen den Wert ab, der Jüngere tut sich sichtbar schwer, er nimmt die Zunge zur Hilfe. Der Ältere schaltet das Gerät aus und gibt es zurück. Die Beiden diskutieren heftig gestikulierend. Dann zwängt sich der Jüngere durch die Tanzenden und drängt sich zum Leitstand. Der Alte wartet geduldig, als die Lautstärke anzieht, nickt er befriedigt. Der Jüngere kommt zurück und sie wiederholen hastig die Messprozedur. Beide nicken und gehen zu der Tür zurück, durch die sie den Tunnel betreten haben. Einer der Typen vom Sicherheitsdienst sieht, wie sie die Tür öffnen und stürzt heran. Der Alte überlässt dem Jüngeren die Unterhaltung, greift aber schließlich doch mit einigen anscheinend sehr wirksamen Bemerkungen ein, denn der Sicherheitsmensch entfernt sich eilig. Die beiden schlüpfen in die Tür, der Alte sagt, schon halb aus dem Tunnel: »Es entwickelt sich richtig.«

Lutz hat den Hörer aufgelegt und das nervende Pfeifen abgeschnitten. »Ich würde sagen, dass unser Chef ganz schön in der Scheisse sitzt.«
»Wir haben noch keinen Beweis dafür und sollten vorsichtig sein.« Obermaier steht auf und geht zum Faxgerät.
»Bist du sonst auch so zuvorkommend?« lästert Lutz und sieht dabei seinem Kollegen zu, wie der hantiert.
»Nur, wenn ich den Beweis schon beinahe in der Hand halte.« antwortet der und das Faxgerät beginnt pfeifend zu arbeiten. »Ich frage mal nach, was der Chef so als Letztes weggeschickt hat.«
Lutz ist halb aufgestanden, so dass er den Ausgabeschlitz sieht. Das Gerät beruhigt sich, dann springt der Lüfter an.
Obermaier hält das Blatt in der Hand, liest vor: »Ene, mene, miste. Ist das ein Beweis?«
»Und ob. Ich gratuliere.« sagt Lutz und meint es ganz auf-richtig. »Also gehen wir los und sehen selbst nach.«
»Und da endet diese unsere Glückssträhne und mutiert zum üblichen Pech.«
»Es waren zwei Königskinder..« intoniert Lutz, bricht dann ab, da ihm die am Anfang noch klar vor Augen stehende Aussage beim dritten Wort abhanden gekommen ist. Dann sagt er endlich: »Du meinst?«
»Ich meine.«
»Du glaubst.«
»Ich weiss.«
»Wirklich?«
»So sicher wie die nächste Steuererhöhung.«
»Aber irgendjemand in diesem Haus muss doch wissen, wo das Büro des Chefs oder zumindest sein Parkplatz ist.« befragt sich Lutz und gibt sich die Antwort: »Getroffen habe ich allerdings noch keinen.«
»Das ist es. Dank der ausgeklügelten Sicherheitsmassnahmen unseres Chef ist er auch vor uns sicher.«
»Aber wir werden ihn finden.« schwört Lutz und hebt die Hand.
»Sicher.« bestätigte Obermaier und klatscht ab.

Mitten auf der gesperrten Zufahrt zum Tunnel hebt und schiebt sich vorsichtig ein Gullydeckel. Erst erscheint der Jüngere, er trägt einen Rucksack. Dann erscheint der Alte und beide verschließen den Ausstieg. Von der Tunnelöffnung her zuckt ein blauer Laserblitz, bahnt scheinbar den Kanal für die ausbrechende Musik, laut und schnell wie ein Jet. Die beiden gehen an schweigsam seitlich an der Tunnelöffnung vorbei und klettern über die kleine Begrenzungsmauer auf das Dach über der Einfahrt. Über ihnen ragen die Ansaugstutzen der Tunnelbelüftung. Der Jüngere nimmt den Rucksack ab und legt ihn auf den Boden. Er nimmt ein in der Dunkelheit nicht erkennbares Teil heraus, als er es dreht, glänzt es metallisch. »Muss ich noch was einstellen?« fragt er den Älteren. »Nein.« Der Jüngere klettert einen der Ansaugstutzen hoch, er benutzt einen Riemen, ganz so wie die Arbeiter an den Telegrafenmasten, die es in der Stadt nicht mehr gibt. Als er oben ist, führt er einige nicht zuordenbare Bewegungen aus und rutscht dann vorsichtig herunter. Den Gegenstand hat er nicht mehr bei sich. Der Ablauf wiederholt sich bei den beiden anderen Stutzen. Dann gehen die Beiden zurück und verschwinden wieder in dem Gully. Und wenn wir mehr Zeit hätten, könnten wir sie auf der anderen Seite des Tunnels wiedertreffen, aber wir müssen jetzt umschalten.

Nachdem sich ihre kurzzeitige Euphorie gelegt hat, sind Lutz und Obermaier in ein Stimmungsniedrigdruckgebiet gefallen. Alle Versuche, an die Position des Chefbüros heran zu kommen, scheiterten kläglich. Jetzt hängen die beiden rum und starren die Wand an.
Lutz fällt zum ersten Male, und er residierte jetzt seit drei Jahren auf seinem Platz, der quadratische und mit einem anderen Tapetenmuster versehene Fleck auf. »Was ist das eigentlich, da hinter dir?«
Obermaier dreht sich kurz um. »Nix besonderes. Nur der alte Speisenaufzug. Der frühere Chef hatte sein Büro hier und da man ihm nicht die Kantine zumuten wollte, erhielt er das Essen per Lift zugestellt. Als die Chefs und die Büros wechselten, hat man die Öffnung mit einer Sperrholzplatte vernagelt.«
Lutz springt auf. »Der neue Chef muss auch Essen!«
»Du hast ja so recht.«
Lutz und Obermaier stürmen aus dem Büro, die eingeschaltete Kaffeemaschine vergessend.
Die angeknackste Kanne wird um 5 Uhr 45 endgültig springen und ihren Inhalt langsam auf die Warmhalteplatte abgeben. Um 5 Uhr 49 wird der Kaffee die Heizstäbe erreichen, die ihn nicht zu schätzen wissen, sondern sich beleidigt kurz-schließen und den Kunststoff zum Verkohlen anreizen. Um 5 Uhr 51 brennt das Sideboard. Um 5 Uhr 55 brennt die restliche Einrichtung. Um 5 Uhr 59 platzen die beiden Fensterscheiben durch die Hitze in´s Freie und machen den Weg frei, die Flammen schlagen an der Fassade des Präsidiums entlang hoch. Um 6 Uhr 01 gibt es Generalalarm, aber die Feuerwehr ist bereits durch eine andere Katastrophe voll involviert und schickt nur einen Brandmeister. Der schätzt sofort den Umfang richtig ein und schließt die Bürotür. Um 6 Uhr 09 erlischt das Feuer mangels Masse. Der Schaden hält sich in Grenzen, nur Lutz wird einen Moment lang glauben, dass sich seine Schulden bei der Bank mit den Kontoauszügen in Rauch auf¬gelöst haben, dann ruft ihn Obermaier in die Realität zurück und Lutz erfährt sowas wie einen herben Verlust.
Aus diesem Blick in die unmittelbare Zukunft lässt sich Verschiedenes ableiten:
a) Die Beiden werden in dieser Nacht nicht mehr in ihr Büro zurückkehren.
b) Wir werden so gegen 6 Uhr keine Zeit für kleine Katastrophen haben.
c) Lutz wird auch in weiteren Verlauf der Nacht nicht unbedingt die für ihn dringend erforderliche Erleuchtung erfahren.

Obermaier springt die Stufen hinunter, Lutz eilt hinterher. Sie erreichen die Kantine, die immer noch gut besucht ist, ob-wohl die Verkaufsschalter inzwischen geschlossen sind. Manche Gäste haben sich schon für die Nacht eingerichtet und liegen ausgezogen und unter der mitgebrachten Decke auf den Bänken.
»Ich wusste nicht, dass es um die Ehen der Beamten so schlimm steht?« staunt Obermaier.
»Nee, Nee. Das sind Beamten aus Mittelhessen, die können sich von ihren Bezügen nicht auch noch ein Zimmer in Frankfurt leisten, wenn sie eine Familie zu Hause haben.«
Lutz und Obermaier suchen einen Eingang in die hinteren Räume der Kantine, aber alle Türen sind verschlossen.
»Habt.... urrrps .... entschuldigt Kollegen, habt ihr ´n Problem?« fragt ein ziemlich dicker und ziemlich Angetrunkener.
»Wir müssen da rein.« antwortet Lutz.
»Gut dass ihr mich getroffen habt, Kollegen. Ich muss auch darein. Ich hab´ nämlich kein Bier mehr.« Der Dicke schließt unter grösseren Schwankungen auf. »Bitte.«
Die Beiden stürmen an ihm vorbei und orientieren sich.
»Da« ruft Obermaier und zeigt auf das Holzviereck in der Wand, rennt darauf zu und schiebt die Türe hoch. »Das wird wohl mein Job.« sagt er, als er den verfügbaren Raum abschätzt.
»Ich lass´ dich runter.«
Obermaier zwängt sich in den Aufzug und Lutz greift zu dem in einen Schlitz laufenden Seil. »Das klappt irgendwie nicht.«
»Vielleicht muss die Tür geschlossen sein?« schlägt Ober-maier vor.
»Moment« sagt Lutz, schiebt die Tür zu. »Na also, es geht.«
Der Aufzug kommt unten an. Lutz ruft in den Schacht: »Kannst du aussteigen?«
Von fern kommt zurück: »Irgendwas klemmt.«
»Ich hol´ dich wieder hoch.« Lutz zieht am Seil. »Verdammt, irgendwas klemmt.«
»Und jetzt?« hallt es aus dem Schacht.
»Du sitzt doch im Keller fest?«
»Ja.«
»Ich kenne jemand, der sich dort auskennt. Keine Panik.«
 
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Zwei Sekunden später hat der Lutz einen nächtlichen Tagtraum: Er steht am Main. Aus dem Main steigen sieben gut-aussehende, sportliche Hängebauchschweine und wühlen in den Abfällen am Mainufer. Nach ihnen steigen sieben andere Hängebauchschweine aus dem Main; sie sehen hässlich aus und sind fett. Sie stellen sich neben die schon am Mainufer stehenden Schweine und die sieben hässlichen, fetten Schweine fressen die sieben gutaussehenden, sportlichen Schweine auf.
»Willste auch ´n Bier, Kollege?« fragt der Dicke, der vorhin die Tür aufschloss. »Ich muss eh noch ein paar mehr mitnehmen, für meine sechs Kumpel.«
»Danke nein, ich habe ein Problem im Keller.« antwortet Lutz und drückt sich vorbei.

Im Lovetunnel übergibt Lady Di an Marusha. Die versucht sich einen Überblick über die Raver zu verschaffen, aber die Wand aus Musik, Dunst und Licht vor der Kommandokanzel ist zu dicht, als dass man weiter als fünf Meter sehen könnte. »Gut angeheizt.« ruft sie ihrer Kollegin nach und hebt eine der aparten grünen Augenbrauen, aber ihre Stimme geht unter. Marusha widmet sich ihrem Job und tut, was ein DJ so tut.

Auf der siebenten Stufe kommt Lutz in´s Straucheln und braucht sieben weitere Stufen, bis er wieder im normalen Stil läuft. Ausserdem ist die Treppe glücklicherweise bereits nach sechs Stufen zu Ende und Lutz verursacht die Siebte aus einem Reflex heraus.
Er steht jetzt vor einer Entscheidung: Links geht es zum Alten vom Keller, rechts in den Bereich unter der Kantine und geradeaus in die Tiefgarage, wo Lutz´ MGB Roadster fahrtbereit (Hoffentlich, bei englischen Autos sollten man da nie zu sicher sein.) auf einen offenen Ausritt in die warme Nacht wartet.
Lutz entscheidet sich schließlich doch für die Pflicht und geht nach links, aber nicht weit. Dann steht er vor der T120 - Tür (Für Nichttechniker und Menschen, deren Briefkasten den Aufkleber: Keine Werbung trägt: Wie der Autor durch ein jahrelanges Studium von Baumarktprospekten gelernt hat, werden Sicherheitstüren nach der Widerstandszeit bezeichnet. T120 bedeutet also, dass die Tür dem durchschnittlich ausgerüsteten Vandalen 2 Minuten standhält. Oder zumindest so ähnlich. Oder so. Oder ach was soll´s.) des Archivs, die für die Nacht geschlossen, verriegelt und verschweisst ist.
Lutz hastet zurück und hätte damit wieder die Möglichkeit, sich mit offenem Verdeck fahrend aus diesem Buch zu verabschieden und die weiteren Ermittlungen dem immer noch festsitzenden Obermaier zu überlassen. Aber Lutz verfügt über Prinzipien und ist ausserdem nicht der Klügste.
Er befindet sich jetzt unter der Kantine, wie gut am Schimmel und den Sossenflecken an der Decke zu erkennen ist. Es riecht streng nach Brühwürfeln. Er geht an einer Reihe Türen vorbei, die alle unverdächtig unbeschriftet sind.
Dann leuchtet ihm von der Tür rechts eines dieser Schilder mit dem krampfhaft glitzernden Untergrund (Sie wissen schon, diese Plastiknachbildung eines Kristalleffekts) und der Aufschrift: Privat. Zutritt für Unbefugte verboten. in´s professionelle Auge, das perfekte Mittel, verschwiegene und geheime Domizile als Gastwirtswohnungen zu kaschieren.
Lutz wägt kurz seine Wertigkeit ab und findet, dass Ermittlungen in einem sechsfachen Mordfall ziemlich befugen, eine Erkenntnis, zu der andere Amtspersonen schon bei viel geringeren Anlässen gekommen sind, man denke allein an die Hausmeister, die ihre Tätigkeit schnell und gern in die Funktion eines Blockwarts umwandeln, oder öffentliche Busfahrer, die sich auf Selektionsfahrt wähnen.
Unser Lutz aber drückt zaghaft die Türklinke nach unten und ist sehr gerührt, als die zugehörige Tür nicht verschlossen ist. Er tritt ein.

Marusha ist inzwischen bei den Klassikern ihres Programms angelangt, zur Zeit läuft »Somewhere over the rain-bow« im long count mix und die Masse unter ihr arbeitet sich dort hin.
Die meisten Raver haben sich bereits von der Realität abgenabelt und zucken sich ein eigenes, äusserst persönliches Universum. Sie nehmen ihre Mitraver nur noch als Schatten an den Grenzen ihrer Ausdehnung wahr und wechselwirken mit einer neuen Qualität.

Für Lutz öffnet sich nach einem kurzen und engen Flur mit einer weiteren Tür an der rechten Seite die kompakte Umgebung eines Standardhotelzimmers der grossen, amerikani-schen Ketten: Doppelbett, Schreibtisch-, TV- und Gepäckkonsole, Stuhl, zwei Sessel mit losen Lederkissen, runder Beistelltisch, Einbauschrank. Alles in dunklem, wertvoll er-scheinenden Holz. Sogar die obligatorischen Prospekte und der Hinweis auf das Pay-TV sind stilecht vorhanden. Nur die Zusätze wie das Telefaxgerät auf dem Schreibtisch und die klopfende, billige Schiebetür an der Wand über dem Bett passen nicht hierher.
Lutz zieht die Schuhe aus und steigt auf das Doppelbett. Er schiebt die Tür vor dem Aufzug hoch und legt einen inzwischen sichtlich verkrampften und genervten Obermaier frei.
»Hallo, da bin ich.« begrüsst Lutz seinen Kollegen, doch der ist damit beschäftigt, die Blutzirkulation in den verschiedenen Gliedern reibend, schlagend und wedelnd in Gang zu bringen, alles im gesellschaftlich zulässigen Rahmen natürlich.
»Du hast ganz schön lange gebraucht.« beschwert sich Obermaier schließlich. »Ich dachte schon, ich müsste auf Gummimensch umschulen.«
»Jetzt bin ich aber da und alles ist gut.«
»Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich habe ich bleibende Verformungen davongetragen.«
»Das sehe ich nicht so. Nur weil du dich im Moment nicht aufrichten kannst und aussiehst wie ein Quasimodo für Arme, kann ich doch keine wesentliche Beeinträchtigung deines Erscheinungsbilds feststellen.« Lutz packt Obermaier am Arm und versucht ihn in eine annähernd vertikale Lage zu bringen.
»Hör auf.« schreit der auf. »Es muss eben mal so gehen. Und überhaupt, wo sollen wir noch hingehen, nachdem wir wissen, dass unser Chef in einem *** - Inn - Zimmer ohne persönliche Note und Eigenschaften residiert. Ich schäme mich so.«
»Armer Junge.« tröstet Lutz und streicht ihm beruhigend über das schüttere Haar am Hinterhaupt. »Sie haben dich jung in den Waschsalon befohlen und dann stellst du fest, dass deine Idole auch nur Menschen sind und waschen müssen. Und nun suchst du einen neuen Sinn im Leben und willst in der Zwischenzeit verzweifeln.
Hättest du aber rechtzeitig ein Feinwaschmittel benutzt, dann hätte auch dein Hemd den Daumentest bestanden und du wärst heute noch mit diesem aufregenden Mädchen zusammen.«
Obermaier erholt sich unter diesen mitfühlenden und von Lutz ungewohnten Worten zusehends, nur der Rücken bleibt vorläufig krumm. Er intoniert optimistisch: »Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.«
Lutz unterbricht ihn: »Wir wollen doch nicht übertreiben.«
»Verstehe. Sicher. Kommt nicht wieder vor. Entschuldigung. Ist mir einfach so rausgerutscht.«
Beide werden sich in achtundvierzig Jahren noch schämen, wenn sie sich an diesen Moment erinnern, auch und obwohl sie die Urenkel auf den Knie haben werden.
Lutz geht in das Bad, Sie wissen, die Tür rechts, direkt wenn man reinkommt. Es ist ebenfalls die Standard - Einrichtung: Ein Waschtisch aus Marmorimitat mit schnörkligem Wasserhahn, der Halter für Kleenextücher, die einfallslose Badewanne und der an der Haut klebende Duschvorhang. »Hier ist er auch nicht« beginnt Lutz und schiebt den Vorhang auf die Seite: »Aber ...«

Irgendwo, unten, aber weiter weg, schleicht ein Exemplar der vorherrschenden Spezies in dieser Stadt über seine adäquaten Schleichwege. Es muss den Plan in seinem Kopf ständig korrigieren, die Welt hier ist in einem denkbar schlechten Zustand und verändert sich schnell. Die Ratte schnüffelt nach dem freundlichen Geruch von Artgenossen und drängt sich durch den erfolgsversprechensten Spalt. Sie schiebt sich an rostigen Moniereisen und fallenden Wassertropfen interesselos vorbei, lässt die frischen Betonkrümel beidseits unbeachtet, folgt in der Hauptsache ihrer Nase und lässt einen archaisch fremden Geruch links liegen.

»... ich habe den Notausgang gefunden.« setzt Lutz seinen Satz nach dieser kleinen, nicht vermeidbaren, da für das Verständnis der Geschichte wertvollen und ausserdem spannungssteigernden Unterbrechung fort.
Obermaier hat inzwischen auch das Bad erreicht, er versucht die ungewohnte Statik seiner Haltung mit einer in die rückwärtige Hüfte gestützten Hand auszugleichen, was aber nur teilweise gelingt und ihn aussehen lässt wie eine heissgelaufenen Winkerkrabbe. »Ihm nach?«
»Ihm nach!« bestätigt Lutz und die Beiden dringen in einen verwinkelten, engen, schlecht beleuchtet und geputzten, spinnwebigen Gang.
»Ob´s in allen Hotels so aussieht?« überlegt Obermaier.
»Du sollst auch niemals in die Küche eines Lokals schauen, in dem du anschließend essen willst.« antwortet Lutz mit einer leicht verrutschten Analogie.
Vor ihnen, nur noch eine Biegung entfernt und deshalb schon innerhalb der Grenzen der Wahrnehmbarkeit, brennt eine blecherne, schwarz lackierte, altmodische, einsame Schreibtischlampe.
 
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Als Lutz erfuhr, dass es in Sossenheim Scheiben zu kaufen gab, schickte er Obermaier dort hin.
Vorher aber, denn der Satz über uns befindet sich noch in einer ungewissen Zukunft und muss nicht unbedingt eintreffen, wenn auch seine Wahrscheinlichkeit höher ist als die eines Lottogewinns, also, noch einmal zurück zum Anfang: vorher aber, denn auch der Satzanfang des akuten Satzes liegt in einer ungewissen Zukunft und harrt seiner Auswahl durch das Schicksal oder die Determination oder jenes höhere Wesen, das wir verehren, deshalb, wir sollten zurück zu den Tatsachen und weg von Wahrscheinlichkeiten und begeben uns an das Ende des letzten Kapitels: altmodische, einsame Schreibtischlampe. Lutz sieht den Schein, ist auch schon an der letzten Biegung des Ganges und stoppt. Obermaier rennt ihm den immer noch vorgestreckt gebeugten Kopf in die Nierengegend und kommt ebenfalls zu stehen.
Vor ihnen an dem ausrangierten Schreibtisch des Alten vom Keller sitzt lesend ein Unbekannter, ungefähr im fortgeschritten, mittleren Alter, in das dezente Grau beamteter Führungskräfte gekleidet und auch sonst ziemlich unauffällig: »Besondere Kennzeichen? Der Mann hatte keine, überhaupt keine. Wenn Sie jemals einen Durchschnittstypen für die Visualisierung von Otto Normalverbraucher suchen, sollten Sie ihn nehmen.«.
Sie müssen wohl auf den verwinkelten Pfaden des Ganges die Abschottung des Archivs umgangen haben.
Lutz nähert sich dem Schreibtisch, der Mann liest immer noch konzentriert, mit festen und entschlossenen Schritten. Vor dem Tisch bleibt er stehen und fragt, fest und entschlossen wie die Schritte, die ihn in diese Lage gebracht haben und vor allem will er sich vor dem nachschleichenden Obermaier keine Blösse geben und ausserdem schätzt er, dass er dreissig Kilo schwerer und zwanzig Jahre jünger ist, als der Mann hinter dem Schreibtisch.: »Wer sind Sie? Was machen Sie? Und wo ist Ihre Eintrittskarte?«
Der Mann blickt auf und lächelt Lutz an: »Aber Lutz, kennst du mich nicht mehr? Ich bin der Alte, im Keller Vergessene, der ...« Der Mann bricht ab, er merkt an Lutz´ Gesichtsausdruck, dass irgendwas nicht stimmt. Er greift sich an die Wange und scheint die relative Glätte zu erfühlen. Ein stummes Verstehen huscht über sein Gesicht, allerdings nur in Ansätzen und unvollständig, denn der Mann dreht sich um, macht hastige Bewegungen, dreht sich als der Alte vom Keller zurück und fragt Lutz: »Du wärst nicht eventuell bereit, über diesen kleinen Toilettenfehler hinwegzusehen.« Der Alte forscht in Lutz´ Miene. »Nein, ich denke nicht. du warst schon immer ehrgeizig.« Dann geht, wie immer in solchen Situationen, das Licht aus, warum sollte auch gerade diesem Autor was Besseres einfallen.

Die Ratte denkt: »Mit dieser Welt hier stimmt aber Einiges nicht.« Das heisst, wenn Ratten in ganzen Sätzen denken könnten, was bis heute noch nicht bewiesen ist, aber auch das Gegenteil ist nicht bewiesen. Nimmt man die unglaubliche Anpassungsfähigkeit der Rattenspezies als Massstab, und dass sie vermutlich die menschlichen Primaten überleben werden, dann könnte man, falls man den Ekel überwindet, zu der Auffassung neigen, dass Ratten ganze Sätze denken und nur deshalb bisher nicht mit Menschen geredet haben, weil sie uns eine Verständigung nicht zutrauen. Unsere Ratte, richtiger, die Ratte, die wir auf ihrem nächtlichen Streifzug durch die Fundamente eines noch sehr frischen und nicht vollständig kartographierten Gebäudes begleiten dürfen, jedenfalls findet die Gegend wenig vertrauenswürdig. Obwohl sie sich immer rechts von diesem archaisch fremden Geruch gehalten hat, wird der Sung stärker oder sie muss noch weiter nach rechts ausweichen, gerade so, als ob sich das durch den Geruch beanspruchte Areal ausdehnen würde. Sie hält in ihrer Erkundung inne, setzt sich auf die Hinterpfoten und hebt das Schnäuzchen schnuppernd hoch über den Boden. Der Geruch ist dort schwächer, so als ob die Geruchsmoleküle über den Boden kriechen würden. Die Ratte schleicht weiter, jetzt immer an der gerade noch ertragbaren Schwelle des archaisch fremden Geruchs entlang.

Bis Lutz den Schalter der Schreibtischlampe findet, hört er in der nachtschwarzen, bedrohlichen Dunkelheit erst drei heftige Geräusche, die sich hastig entfernen, dann nur noch sein Tasten auf dem Schreibtisch. Endlich hat er den Schalter gefunden und seltsamerweise glühen beim Schalten auch die trüben Notlichter auf.
Der Stuhl liegt umgeworfen am Boden, das muss Geräusch 1 gewesen sein, dann liegt dort die Gummimaske des Alten, Geräusch 2, von ihr führen schlurrige Spuren im Bodenstaub weg, Geräusch 3.
Lutz und Obermaier folgen der Fährte in die Wildnis zwischen den Regalen und schnüren wie ein kleines, aber immerhin jagendes Rudel Wölfe hinterher. Lutz lässt Obermaier den Vortritt, denn durch die gekrümmte Haltung hat der eh die Nase mehr am Boden.
Die Regale bleiben schließlich zurück, sie befinden sich jetzt auf der Reservefläche des Archivs für zukünftige Generationen. Weit vor ihnen auf der freien und durch die Notbeleuch-tung nur spärlich punktuell erhellten Ebene mit dem Erscheinungsbildes eines Halmabretts sehen sie den Mann, er rennt in seltsam ungelenkem Stil durch einen der kleinen Lichtkreise, verschwindet im Dunklen und erscheint wieder, in irgendeinem anderen Kreis, quert ihn, ist weg und materialisiert entfernt in einem neuen Kreis. Die betretenen Kreise bilden keine gerade Linie, sondern zacken ungefähr auf die entfernteste Ecke des Raums zu.
»Teilen wir uns auf und nehmen ihn in die Zange.« ruft Lutz und: »Du links, ich rechts.«
Obermaier nickt verstehend und geht nach rechts, läuft dabei Lutz vor die Füsse. Beide stolpern. Als sie sich wieder aufgerappelt haben, lamentiert Lutz: »Links, Obermaier, links.« und dann: »Du kannst ja wieder stehen!«, schließlich: »Er ist weg.«
Richtig, die düsteren Lichtkreise liegen unberührt.

Im Lovetunnel fassen die Dealer die zweite Ration aus. Diesesmal tragen die Beutel mit den Tabletten den Aufdruck: Zweite Ration. Nicht vor der ersten verteilen. Haltbarkeit: Längstens bis zum Morgen. Die Verteilung läuft ohne grosse Werbeaktionen, wo ein Dealer auftaucht, wird er umringt und die Tabletten wechseln ruhig und schnell die Hände. Eine Bezahlung wird nicht verlangt.
Marusha mit ihrer Erfahrung findet die Veranstaltung seltsam, kann aber ihre Empfindung nicht an irgendwas festmachen und schiebt es schließlich auf den unterirdischen Ort. Ihre Schicht läuft noch fünfzehn Minuten, die Lautstärkeregler sind inzwischen auf Maximum, das Tempo ist über Hundertachtzig und zwingt das Zwerchfell flatternd in Resonanz. Die Lightshow gewittert metallisch blaugrün und fast schon materiell dicht.
Der Polizeichef trifft vor dem Tunnel ein und erkundet die Lage. Die Beamten schätzen, dass sich jetzt über dreissigtausend Raver die achthundert Meter verfügbaren und beschallten Tunnel teilen. Die Raver sind ein angenehmes Publikum und bei den Polizisten beliebt, jeder mit sich selbst beschäftigt, keine Streit, keine Schlägereien. Der Dienst am Tunnel ist begehrt und eine Erholung nach der Absicherung des Fussballspiels vom Nachmittag.

»Wo ist der hin?« fragt Obermaier.
»Er kann es doch nicht bis zur Wand geschafft haben?« fragt Lutz.
»Er war da drüben in dem Kreis.« zeigt Obermaier.
»Nee. Da war er.« korrigiert Lutz.
»Checken wir sie alle.« schlägt Obermaier vor und schreitet federnd zu Tat, das Gefühl eines aufgerichteten Oberkörpers genießend.
Lutz folgt ihm und sie gehen parallel durch die Lichtkreise. Lutz ist etwas schneller und bald einen Kreis im Vorsprung. da hört er von hinten: »Hil...« Als er sich umdreht, ist Obermaier nicht mehr zu sehen.
Lutz greift sich an die Stirn und denkt so angestrengt nach, dass er sich den Schweiss abwischen muss. Dann rennt er zu dem Kreis, den er als Obermaiers letzten in Erinnerung hat. Nichts passiert. Er durchquert den Kreis auf verschiedenen Durchmessern, nichts. Sollte Obermaier noch einen Kreis zurück gewesen sein?
Lutz hastet durch die Dunkelheit und bricht in das Dämmerlicht und in den Boden ein. »Hil..« kann er noch rufen, bevor ihm im freien Fall die Luft wegbleibt.

Unten, am Ende der Rutsche trifft er Obermaier, und zwar mit den Füssen in den Hintern: »Tschuldige. Wollte ich zwar schon immer machen, aber nicht so. Wo ist er hin?«
Obermaier reibt sich die angegriffene Sitzfläche und verzichtet überraschend auf die fällige Antwort, sondern sagt sachlich: »Hier entlang.« und rennt in einen mit Kabeln und Rohren vollgestopften Gang.
Lutz folgt ihm.
Der Gang endet an einer Tür, die sich leicht und lautlos öffnen lässt. Beide stolpern auf einen Bahnsteig der U-Bahn. Der Gejagte steigt fünfzig Meter weiter gerade in einen Zug.
Lutz fällt in Windeseile ein paar eiskalt überlegte Entschlüsse: »Ich hab´ ´ne Jahreskarte, also bleib´ ich an ihm dran. Du alarmierst die Kollegen.« Dann rennt er los, schafft es aber nur noch in den anderen Wagen. Die Türen schließen sich und der Zug fährt ab. Obermaier bleibt alleine auf dem Bahnsteig zurück: »Alarmiere die Kollegen. Und wofür und womit?« und lässt die Brösel seines auf der Rutsche geopferten Handys auf die Fliesen fallen.
 
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Der Hunger lastete schwer auf dem Land.
Unsere inzwischen altbekannte und liebgewonnene Ratte (oder haben Sie was gegen seidiges Fell und verschmitzte Augen? Na also!) spürt ihn in den Eingeweiden. Die Nahrung hat sich mit dem Rest der Welt genauso rapide verändert und ist archaisch fremd ungenießbar geworden. Der Geruch infiziert anscheinend die Realität und macht sie unbrauchbar. Würde man unserer Ratte eine Liste mit möglichen Eigenschaften des Geruchs vorlegen, die über archaisch fremd hinausginge und Mehrfachnennungen sowie eigene Adjektive zuließe, dann erhielte man vielleicht: leer, trocken, kreisend, polar, universell, sternenkalt, die Durchsage erfolgt wie immer ohne Gewähr.

Lutz stürmte im Wagen nach vorn, in Richtung des verfolgten Mannes. Leider ist der Übergang in den anderen Wagen von einem Fahrstand versperrt. Lutz geht zum Ausstieg.
»Schweitzer Platz«
Der Zug hält. Lutz stellt fest, dass er auf der falschen Wagenseite steht, der Bahnsteig ist in seinem Rücken. Als er nach draussen schauen kann, betritt der Mann gerade die nach oben führende Rolltreppe.
Lutz springt aus dem Zug und hastet hinterher, er erreicht die Rolltreppe fast ohne Aufenthalt, nur ein Typ fragt: »Ey, haste mal ´ne Mack.« Der verfolgte Mann steigt oben von der Rolltreppe und Lutz wehrt den bettelnden Typ ab: »Hab´ nur Tausender.«
»Verarschen kann ich mich selber!« schreit ihm der Typ die Rolltreppe hinterher, dabei war Lutz nur ehrlich.
Lutz folgt dem Mann die nächste Rolltreppe hinauf, sie fahren in freie Nacht. Der Mann wendet sich dem nahegelegenen Main zu und rennt die Stufen zum Wasser hinab.
Unten wartet bereits ein Motorboot, der Mann springt hinein, der Motor heult gewalttätig auf und das Boot rast auf den dunklen Main hinaus.
Lutz steht enttäuscht und abgehängt am Ufer.

Sechshundert Meter diagonal rechts entfernt klatscht Marusha ihren sie ablösenden Kollegen ab. DJ Accel, »Kommt von accelerate, und das tu ich auch deinem Hirn an.« übernimmt. Sie hat ihn noch nie gesehen oder gehört, aber von ihm gehört, und deshalb macht sie, dass sie aus dem Tunnel kommt.
DJ Accel prüft als erstes, ob sich die Lautstärkeregler nicht doch noch etwas nach oben schieben lassen. Dann legt er die erste eigene CD auf und aus den Boxenstrassen hallt sehr hochtouriger Rhythmus und deckt alles andere zu, falls sonst noch was, zum Beispiel Melodisches, auf der CD gewesen sein sollte. Der stampfende Rave nähert sich der Vollkommenheit. Er beeinflusst bereits bis in die Moleküle.

Zurück am Mainufer sehen wir einen wütend einem unbeleuchteten Motorboot hinterherstarrenden Lutz. Vor ihm das vollkommen lichtlose Band des Wassers und rechts neben ihm die Brücke, die wegen Reperaturarbeiten gesperrt ist. Hinter Lutz ragt der eingerüstete, weil derzeit in Renovation befindliche Turm der Marienkirche empor, und links knistert die Plane eines dreieckigen Imbisstandes im Gegenwind.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wollten wir jetzt die in Lutz in Windeseile ablaufende Assoziationskette vollständig darstellen, deshalb beschränken wir uns auf die wichtigsten Stationen: Der letzte Urlaub auf Mallorca. Der Flug dort hin. Einige Punkte aus moralischen Erwägungen gestrichen. Die alten Flugzeuge in der Abflughalle. Graf Zeppelin. Wieder einige Punkte gestrichen, da zu technisch. Berblingers erfolgreiche Überquerung der Donau. Das knatternde Dach des Imbisses in Verbindung mit einem Kirchturm an einem Flussufer.
Selbst Sie sollten jetzt wissen, was Lutz vorhat. Für alle Anderen beschreiben wir es.
Lutz reisst das Dach einschließlich des Metallgestänges von den Seitenteilen, hakt sich mit dem linken Arm hinter den Rohren ein und macht sich an der Aussenseite des Gerüstes an den Aufstieg. Von unten sieht das aus, als ob ein gentechnisch missratener Schmetterling die Eigernordwand zu Fuss bezwingen wollte, aber der vertikale Fortschritt ist unverkennbar.
Dann geht Lutz der Atem oder die Kraft oder der Mut aus, er möchte sich ausruhen und vielleicht auch sammeln, als ihn eine Bö vom Gerüst reisst.
Lutz schlägt wild um sich, während er durchsackt, dann greift der Gegenwind und stabilisiert den improvisierten Flügel.
Lutz überquert die Küste und segelt neuen Ufern entgegen und der Autor verkneift sich alle Witze mit anderen Ufern.
Der Tragfügel trägt, wie es sein Name schon sagt, gut. Lutz hat keine Ahnung, wie er das Gebilde steuern, lenken oder handhaben soll und entscheidet sich instinktiv für das einzig Richtige, er bleibt stocksteif schockweiss unter dem Gestänge hängen.
Unten auf dem Motorboot bleibt der kühne Flug unbemerkt, denn dort wird gerade die alte Weisheit zum wiederholten Male bestätigt, dass An- nicht einfach die Umkehrung von Ablegen ist, sondern ungleich schwieriger. Der Fahrer dieses Bootes scheint jedenfalls nebenbei einen Härtetest für den Bootsbug (das ist vorn das Spitze) durchführen zu wollen, da er immer wieder damit gegen die Spundwand und anschließend abprallt.
Lutz fühlt sich inzwischen so wohl, dass er sogar die Zeit findet, den Manövern unter ihm zu folgen und sich die Vorteile auszumalen, die sich aus der mangelnden Beherrschung des Bootes für ihn ergeben.
Normalerweise müsste jetzt dieser fast paradiesische Zustand durch den Gedanken an eine Landung beendet werden, aber da wir in einer real existierenden Gesellschaft leben, hat sich auch diesmal wieder das vorlaute ********* gefunden, das im falschen Moment das Schädlichste, was man sich nur ausdenken kann, vorlaut dazwischenruft: »Aber der Berblinger ist doch in die Donau gefallen.«
Nun mag dies ja seine historische Korrektheit haben, ist jedoch zu bemerken so überflüssig wie ein grüner Gentechnikbeauftragter. Lutz, der Bedauernswerte, hört aber auch überflüssige und vorlaute Bemerkungen, realisiert den Sinn, stellt fest, dass er im Moment eine aerodynamische Unmöglichkeit bildet und stürzt trudelnd in den Main ab.
Zum Glück kam die Erkenntnis nur langsam und spät, und so schwimmt Lutz die verbleibenden fünf Meter bis zum Ufer.
Während des Absturzes hat der Bootsführer die nötige Erfahrung gewonnen und das Boot längsseits an eine Leiter gesteuert, wobei ihm der Zufall zu Hilfe kam, denn eigentlich prallte er dort hin. Der Bug hat diese Manöver überstanden, ungefähr einen viertel Meter kürzer, aber immer noch vorn, wenn auch nicht mehr ganz so spitz.
Lutz kommt wenige Sekunden später an der inzwischen verlassenen Leiter an, entgeht somit der Gefahr, dass ihm jemand böswillig auf die Finger tritt, gewinnt demzufolge auch schnell die verfügbare Höhe und steht endlich tropfend auf dem Pflaster.
Das Dach übrigens treibt den Main hinunter, überwindet auf geheimnisvolle Weise alle Staustufen, mündet in den Rhein und schließlich in die Nordsee, zieht mit dem rückkehrenden Golfstrom bis zur Saragossasee und verfängt sich dort im treibenden Tang. Endlich sinkt es auf den Meeresgrund und drapiert sich über die Fundamente eines Kiosks an der ehemaligen Promenade von Altantiscity und wird nie wieder von einem Menschen gesehen, weshalb auch Sie die Einzigen sind, die um den Flug des Lutz´ wissen.
Lutz rennt hinter den Beiden her, der jüngere Mann stützt anscheinenden den älteren, Lutz gibt alles, was er hat, wenn es auch nicht viel ist.
Die Strassen sind um diese Tageszeit sehr leer, so bleiben Lutz dumme Fragen nach der Ursache des Feuchtegrads seiner Kleidung erspart.
Die Schritte der Drei hallen zwischen den Häusern, aber niemand interessiert sich dafür.

Obermaier, den wir in der U-Bahn-Station verlassen haben, sucht derweilen eine Telefonzelle, die noch mit Geld und nicht mit Plastik arbeitet. Als er endlich einen Einwurfschlitz findet, widersetzt sich dieser der Münze, er ist von der abgebrochenen Ecke einer Telefonkarte blockiert.
Alle Autos, die Obermaier dann anhalten möchte, fahren weiter, wer nimmt um diese Zeit schon Anhalter mit.
Dann greift er zum letzten, verzweifelten Mittel und stellt sich pinkelnd vor das Schaufenster einer Edelboutique. Dreissig Sekunden später ist der private Sicherheitsdienst da.
Obermaier nutzt die gewonnenen Kommunikationsmöglichkeiten, denn die Herren in schwarz sind äusserst hilfsbereit, nachdem sie Obermaier unter den Schlägen der Gummiknüppel von der Echtheit seines Dienstausweis überzeugt und der Intelligentere der Beiden ihn entziffert hat. Leider hat die Zentrale nichts von Lutz gehört, sie will aber gerne die in einer halben Stunde ihren Dienst antretende Frühschicht informieren.
»Trink´ einen Kaffee mit uns.« wird Obermaier als Entschädigung angeboten und er nimmt dankbar an.
 
44


Dann befahl der Alte seinem Begleiter: »Lass´ ihn rein, ich will ihn versuchen.«
Das Ganze spielt sich ungefähr acht Meter über dem Boden ab und Lutz hängt ziemlich unkommod draussen am Schutzgitter eines Bauaufzuges an der Aussenseite des neuen Commerzbanktowers, derzeit das höchste Bürogebäude Europas, zumindest seit dem Richtfest, ob das auch noch bei der Einweihung gelten wird, hängt von der Risikofreudigkeit Londo¬ner Investoren ab.
»Danke« keucht Lutz, nachdem er sich über das Gitter in den Fahrkorb gezogen hat.
»Keine Ursache« erwidert der Alte aus dem Keller und zu seinem jugendlichen Begleiter: »Fahr´ weiter.«
»Wieso nehmen sich mich eigentlich mit? Das ist nicht unbedingt das, was auf der Polizeischule als fluchttypisches Verhalten bezeichnet wird.«
»Mein lieber Lutz, wir, also mein Begleiter und ich, fliehen nicht, sondern haben uns planmässig hierher begeben, weil wir was zu erledigen haben.«
Der Aufzug gewinnt ruckend und schüttelnd an Höhe.
»Und Sie geben zu, dass sie der Absender der Telefaxe sind?«
»Warum leugnen?« versetzt lächelnd der Alte.
»Und dass Sie fünf Menschen ermordet haben?« führt Lutz das improvisierte Verhör fort.
»Sechs, oben ist noch einer.« lächelt der Alte.
»Dann verhafte ich Sie hiermit und verlange, dass Sie sofort nach unten fahren.« reagiert Lutz auf diese Ungeheuerlichkeit.
»Sieh mal, Lutz, mein Begleiter könnte dich jederzeit aus diesem sicheren Korb werfen. Findest du nicht, dass du mit Forderungen vielleicht etwas vorsichtiger sein solltest?«
»Ich habe das Recht auf meiner Seite.« beharrt Lutz und setzt trotzig hinzu: »Und die Moral. Und die Menschlichkeit.«
Der Alte lacht laut mit bekanntem Gelächter auf. »Und den Gerichtshof in Den Haag.«
»Richtig, den auch noch.«
»Und nun schweige stille, Lutz, weil ich dir eine Geschichte erzählen werde, die sich gewaschen hat. Und ausserdem suchst du immer noch das Motiv für die Morde, also halt den Mund, bis wir ganz oben sind, du kannst eh nichts unternehmen.«
Lutz hatte in der Zwischenzeit den Begleiter und den wachsenden Abstand zum Boden gemustert und stimmt angesichts dieser starken Kombination zu: »Ich höre.«
Der Alte räuspert und stellt sich theatralisch in Positur: »Nachdem das Königreich Bayern 1785 den Illuminatenorden verboten hatte, floh A. Weishaupt in die freie Reichsstadt Frankfurt. Obwohl man in dieser Stadt nicht so dogmatisch der Verfolgung originärer Ideen anhing wie in Ingolstadt in Bayern, hatte Weishaupt seine Folgerungen gezogen und arbeitete seine Erfahrungen in die Neugründung ein.
Waren die Illuminaten ein eher anarchistischer und auf Wachstum angelegter Orden, standen für die Jakobiten Eigennutz und Stabilität im Vordergrund.
Pate für die Namensgebung stand der Jakob aus der Bibel, jener, der seinen Bruder Esau, den wahren Sympatieträger in dieser Geschichte, zweimal übervorteilte und deshalb als das älteste Beispiel für die Ellenbogengesellschaft gelten darf.«
Hinter den umgebenden Häusern, die unter ihnen zurück-blieben und den Blick auf den Horizont freigaben, rötet sich der Himmel.
»Von vorn herein...« fuhr der Alte fort: »...als gewinnorientiertes Unternehmen konzipiert, machten sich die wenigen und in ihrer Zahl auf immer begrenzten Mitglieder daran, die Geschäfte zum Laufen zu bringen.
Die erste erfolgreiche Operation war die grosse Revolution in Frankreich. Die Jakobiten wandelten ihren Name leicht ab und gaben ihn einer Tarnorganisation, den Jakobinern.
Das Unternehmen lief hervorragend an, nur die Enthauptung der Königin war so nicht im Plot vorgesehen. Am Ende der Revolution stand Bonaparte und sammelte die Reste ein.
Bonaparte gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Jakobiten, vermutlich aus Enttäuschung über eine verschleppte Beförderung, schließlich war er Korse.
Schnelle und leichte Erfolge führen oft zu Übermut, unter dieser Prämisse ist das nächste Unternehmen zu sehen, die Unterwerfung Europas. Wieder wurde Bonaparte vorgeschickt, der sich inzwischen Napoleon nannte und den Operationsplan in der Innentasche seines Rocks niemals aus der Hand gab.
Wie gesagt, das Unternehmen Europa war zu ambitioniert und schlug auch gründlich fehl. Die Jakobiten erkannten viel zu spät, dass sie besser in Preussen investiert hätten. Da nichts so schnell scheidet wie Verluste, verbrachte Bonaparte seinen verkürzten Lebensabend auf St. Helena. Das kurze Intermezzo davor war nicht abgestimmt und damit von vornherein ein Fehlschlag.«
Mit der zunehmenden Höhe des Aufzuges wuchs die Weite des Blickes, Lutz konnte schon den Rand der aufgehenden Sonne sehen.
Der Alte blickte ebenfalls in die Richtung: »Schön, so ein Sonnenaufgang, wenn er auch nicht richtig ist.« Und bevor Lutz nachfragen konnte, was an diesem Sonnenaufgang falsch sein sollte, sprach der Alte weiter: »Die Jakobiten zogen aus dem Desaster mit Bonaparte die Lehren und entwickelten die Mechanismen indirekter Beeinflussung bis zur Perfektion. Frankfurt blieb die Organisationsbasis.
Da die deutschen Fürsten nicht freiwillig teilen wollten, wurde die 1848er Revolution angezettelt. Die neue Art der Beeinflussung funktionierte in weiten Teilen hervorragend, man denke nur an die Paulskirche und die Verfassung. Aber es fehlte dann im entscheidenden Moment an der notwendig skrupellosen Persönlichkeit, und so versank der Aufstand in einer Flut gelehrten und pathetischen Papiers.
Man dachte nach und spielte dann doch noch die preussische Karte. Bismarck wurde delegiert, um die Aktion durchzuziehen. Er war sehr erfolgreich, zu erfolgreich, denn durch die glorreiche Errichtung des Kaiserreichs schlug der deutsche Minderwertigkeitskomplex in puren Grössenwahn um.
Das Ergebnis waren die beiden grossen Kriege, die selbst die Jakobiten nicht aufhalten konnten, denn eigentlich ist Krieg gut fürs Geschäft, aber bei diesen Grössenordnungen verlieren alle.
Die Jakobiten besonders, denn eine gegen alle Absprachen auf die Zentrale geworfene Bombe traf elf der dreizehn Mitglieder tödlich und verbrannte auch die Aufstellung der Schweizer Nummernkonten.
Damit hätte die Geschichte der Jakobiten eigentlich beendet sein können.
Aber die beiden verbliebenen Mitglieder gaben nicht so leicht auf. Als erstes versuchten sie, Frankfurt zur Hauptstadt erklären zu lassen, sie scheiterten an Adenauer, der nicht von Köln wegziehen wollte.
Dafür waren die Bemühungen, die Bundesbank anzusiedeln, erfolgreich, aber als Flop musste eingeordnet werden, dass Wiesbaden die Landeshauptstadt wurde.
Nun ja, die beiden Übriggebliebenen waren nicht unbedingt die Creme der Jakobiten, eher der noch nicht fertig ausgebildete Nachwuchs. Ich glaube, wir sind oben.« und der Aufzug stoppte.
 
45


Lutz vermochte sich vor den Leuten, die vor ihm standen, nicht mehr halten und rief: »Das Alles ist absurd, pervers und absolut unglaubwürdig.«
»Warte noch, bis wir die letzten fünfzig Meter hinter uns gebracht haben, dann solltest du erst urteilen. Hier, diese Treppe.« widersprach der Alte.

Obermaier war inzwischen von einem Streifenwagen einge-sammelt worden und treibt den Fahrer sinnlos durch die sonntagmorgendlichen leeren Strassen.
Die Zentrale fragt an: »Wer ist in der Nähe der Baustelle Commerzbank?«
»Wir.«
»Dort wurden Bewegungen beobachtet, obwohl die Baustelle heute stilliegt. Könnt ihr das mal checken?«
»Schon unterwegs.« bestätigt der Beifahrer und dann, ohne Funk: »Diese Rumfahrerei ist eh sinnlos. Verdienen wir mal zur Abwechslung unsere Kohle.«
Der Fahrer schaltet Blaulicht und Martinshorn ein, Obermaiers Antwort geht darin unter.
Der Streifenwagen rast los.

»Bisher kamen zwar eine ganze Menge Leichen in Ihrer Geschichte vor, aber für diesen ideologischen Massenbetrieb sind die Historiker zuständig, wir von der Polizei haben uns mehr auf individuelle Gewalt spezialisiert.« Lutz hat, und da befindet er sich in bester Gesellschaft, nicht verstanden, wie die Geschichte des Alten mit seinen Morden zusammenhängt.
Der Alte schafft sich Stufe um Stufe die Behelfstreppe an der Aussenseiten der höchsten Spitze hoch und wartet dabei immer wieder auf Lutz, dem seine Empörung den Atem genommen hat. Der jugendliche Begleiter ist schon weit voraus.
»Keine dummen Gedanken, Lutz. Ich bin nicht so wehrlos, wie es den Anschein hat.« warnt der Alte und lässt die Grundlage hinter dieser Drohung offen und damit umso bedrohlicher. »Also weiter. Weishaupt, dieser vergessene Gründer der Jakobiten hatte neben seinen vielen genialen Facetten auch eine kleine, unwesentliche Macke. Er glaubte, dass die Welt eine Scheibe im Mittelpunkt des Universums sei. Das passte sowohl zum Selbstverständnis der Illuminaten als auch der Jakobiten. Beide Orden sahen schließlich ebenfalls im Mittelpunkt, der eine allgemein, der andere eher individuell.
Die Jakobiten übernahmen diese Ansicht in ihr Statut, wo sie eine ganze Zeit lang als verbale Leiche vor sich hin dämmerte. Im Zusammenhang mit der 48er Revolte allerdings erwarben sie Erkenntnisse, die das Statut zum Leben erweckten.
Die Jakobiten lieferten sich plötzlich einen erbitterten Glaubenskrieg mit den Kugelgläubigen. Es ging um sowas wie Qualität gegen Quantität, Konservativismus gegen Progressivität, Individualität gegen Massenbetrieb, eben Scheibe gegen Kugel.
Beide Seiten bedienten sich hierfür zahlreicher Stellvertreter und erfanden neue Organisationen oder infiltrierten bestehende.
Dazu gehören die äquatorialen Gesellschaften genauso wie der Verein zur Verbreitung von Ronden, aber auch die Hohlweltfreunde, die Freimaurer, die Rosenkreuzer, die späteren Illuminaten, der Verband für Ballspiele, die Freunde des Frisbee, zahlreiche, aber nicht alle Bowlingclubs, die Gewerkschaft der Pizzabäcker, die Freunde des Tortenwerfens in alten Schwarz-Weiss-Filmen, der Verband der Fliegenden-Untertassen-Beobachter, die Ballonfahrer, der BND und der CIA, die NASA und DASA sowie die Betreibergesellschaft der Kantinen des deutschen Bundestages einschließlich Abgeordnetenhochhaus.«
»Ich vermisse immer noch das Motiv.« regt sich Lutz auf, aber wohl mehr deswegen, weil es ihm die Chance zu einer Pause gab. Der Ausblick ist wirklich atemberaubend: erst ein grosses, leeres Nichts, dann etwas Hausdach und im Hintergrund die inzwischen aufgegangene Sonne. »Was stimmt eigentlich mit dem Sonnenaufgang nicht?« hinterfrägt Lutz eine Bemerkung aus dem letzten Kapitel.
»Er ist zu früh. Und damit das keiner merkt, wurde die Sommerzeit eingeführt.«
»Und warum ist er zu früh?«
»Langsam, Lutz. Wir gehen nach meiner Methode vor.
Also zurück zu den plötzlich aufgeflammten Streitigkeiten.
Die Kugelleute waren im Vorteil, sie hatten ihre Sicht der Dinge in die Schulbücher gebracht und damit vererbte sie sich. Dadurch wurden auch die Wissenschaftler bereits frühzeitig indoktriniert und entdecken später auf Basis der falschen Prämissen.
Die Jakobiten hatten dem, auch durch ihre viel geringere Anzahl und eine schlechte Werbekampagne wenig entgegen-zusetzen. Aber, und das war ihr bestgehütestes Geheimnis, sie schafften es, in jeder Generation einige Gläubige anzuwerben und so den vollständigen Sieg der Kugelleute zu verhindern.
Und dieser Zustand hat fast bis heute angehalten, trotz der schwierigen Verhältnisse nach den Raumflügen der Amerikanern und der Russen und diesen vielen Bildern, die anscheinend alle eine makellose Kugel zeigten.
Niemand ist aufgefallen, das diese Bilder der Lehrmeinung widersprachen, die von einer Überhöhung des Äquators und Abplattungen der Pole ausging. Oh nein, die Öffentlichkeit berauschte sich an der scheinbar vollkommenen Gestalt unserer Welt und verfiel in sentimentale Gefühlsduselei nach dem Motto: Raumschiff Erde.
Niemand fiel auf, dass weder Russen noch Amis in der Anfangszeit Satelliten auf Umlaufbahnen über die Pole hochschossen, sondern sich immer schön über dem Äquator hielten. Später gab es polare Umlaufbahnen, aber da waren die kugelgedankenbeinflussten Erkenntnisse auch weiter fortgeschritten.
Noch nicht einmal die sonst so kritische Presse fiel über den offensichtlichen Betrug her, der aus diesen aus einzelnen Schnipseln zusammengeklebten Bilder einer Kugel sprach. Dabei wurde das gleiche Prinzip der Projektion angewandt, das man in jedem Atlas in der Weltkarte wiederfindet. Und sind Atlanten etwa kugelförmig?« Der Alte sieht Lutz fragend an.
»Aber die Kugelleute haben schließlich doch gewonnen? Nicht wahr.«
»Leider.« Plötzlich ist der Alte wirklich alt, er fällt sichtbar in sich zusammen.
»Und da haben Sie sich an Einigen von denen gerächt?« Lutz hat das forschende Verhörgesicht auf.
»Du hast nichts begriffen. Gar nichts.« faucht der Alte und ist, genau so schnell, wie er verfallen war, auch wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. »Es war Notwehr.« Und der Alte hetzt die letzten Stufen nach oben.
Lutz schaut hinterher, bleibt dann doch still und nutzt den Atem zum Treppensteigen.

Genau 248 Meter tiefer hält in diesem Moment der Streifenwagen.
»Siehst du was?«
»Nee. War sicher wieder falscher Alarm.«
Obermaier steigt aus, legt den Kopf in den Nacken und folgt den aufstrebenden Linien. »Wie hoch ist das Ding eigentlich.«
»259 Meter.« antwortet der Fahrer durch´s geöffnete Seitenfenster. »Und jeder Meter erinnert mich an die Zinsen, die die von mir nehmen.«
»Kommt mal her!« ruft Obermaier: »Da oben ist was, direkt unter der höchsten Stelle.«
Die beiden Uniformierten steigen aus und blicken hoch.
»Also ich seh´ nix.« »Ich auch nicht.« stimmt der Fahrer zu.
»Aber da war jemand.« beharrt Obermaier auf seine Beobachtung.
»Warten wir halt ´ne Weile.« »Okay.«
 
46


Lutz brach mit allem, was er gelernt hatte.
So fühlt er, als er vom obersten Absatz dieser wahnwitzigen Freitreppe das Panorama genoss. Die Morgensonne ist inzwischen ganz aufgegangen und strahlt die wie Zeigefinger ragenden Türme der Stadt an. An jedem Turm sichtbar, das Zeichen der besitzenden Bank, wie die Wappenschilde über dem Tor mittelalterlicher Burgen.
»Seltsam.« denkt Lutz: »Unsere Religion verbietet das Zinsnehmen, aber die Häuser der grösstes Zinsnehmer zeigen trotzig stolz zum Himmel auf, als ob sie nichts zu fürchten hätten.« Und Lutz denkt an die deprimierende Botschaft der Kontoauszüge in seinem Schreibtisch, die übrigens gerade zu glimmen beginnen.
Dann tritt er ein und findet sich einem sehr leeren Raum wieder, der Inhalt ist schnell aufgezählt, von links nach rechts: der jüngere Mann, der ältere Mann, ein provisorischer Operationstisch, bestehend aus: zwei Holzböcken, einer darübergelegten Diele mit einem in Komikmanier mittels sehr viel Seil festgebundenen, sehr blassen und wächsern wirkenden Toten, daneben eine zum Tisch auf die Seite gelegte Kabeltrommel, auf der elf Halbliterflaschen stehen, die mit einer roten Flüssigkeit, mit hoher Wahrscheinlichkeit Blut, gefüllt sind, weiterhin ein ordentlicher Abfallhaufen aus Staub, Styroporbröseln und Holzstücken und ein gegen die Wand gelehnten Reisigbesen.
»Das ist also der sechste Tote.« stellt Lutz Offensichtliches überflüssigerweise fest. »Wer ist, war das?«
Der Alte antwortet, wie überhaupt der Jüngere ausser bestätigenden Laute sehr wenig geäussert hat, aber um keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen, er ist nicht stumm, er hat einfach wenig zu sagen, ein Sachverhalt, den Kritiker ihrem geschätzten Autor auch unterstellen. Da Sie schon so weit gelesen haben, müssten Sie anderer Meinung sein, also gehen Sie los und organisieren eine Demo, oder ein Wohltätigkeitsessen, oder eine Unterschriftenaktion, oder eine Schulbesetzung, oder was auch sonst immer auch zu ihrem sozialen Status und Herkommen passt. Aus Sympathie zu ihrem Autor, und er wird es ihnen danken, zum Beispiel wird er aus seiner Villa im Tessin eine schwülstige Grussadresse schicken, in der er sich für die Treue seines Publikums bedankt und auf sein neuestes Werk hinweist. Nun mal ehrlich, kann jemand, der so an Sie denkt, wirklich schlecht sein?
Wir kehren nach diesem kurzzeitigen Bildausfall wieder zum Geschehen zurück, der Alte antwortet: »Franz Beimer, Steuerfahnder, 43 Jahre, verheiratet, 2 Kinder, lebt getrennt und wohnt trotzdem nicht in der Lindenstrasse.«
»Und warum liegt er hier? Und warum haben Sie jeden auf eine andere Art und genau auf diese eine Art umgebracht?« Lutz ahnt, dass er jetzt die Antworten bekommen wird, die er zum Anfertigen seines Abschlussberichtes benötigt.
Und der Alte scheint auch dafür bereit zu sein, allerdings auf seine Art: »Lass´ mich der Reihe nach vorgehen. Den Anfang machte Roth, der Politiker. Er wurde von der anderen Seite bezahlt und gestützt, dafür behinderte er uns, wo es ging. Er kannte die gefährlichen Auswirkungen seines Handelns und war sich der vollständigen Konsequenz bewusst. Trotzdem versuchte er mit Verordnungen und Gesetzen, zum Beispiel der Abschaffung des Schulgebets oder der Einführung der Arbeitslehre an den Schulen, uns zu unterdrücken.
Wie gesagt, er handelte wider besseres Wissen und deshalb haben wir nachgeschaut, was für ein Gehirn auf so eine groteske Weise arbeitet. Die Operation war eine Enttäuschung, den das Hirn war zwar klein, aber sonst der reine Durchschnitt.
Dann war da Lütze - Bärmann. Sie arbeitete eng mit Roth zusammen und hebelte so die in der Verfassung festgeschriebene Gewaltenteilung wieder aus. Sie nahm uns das Gesicht, wir nahmen ihr das Gesicht, so einfach geht das.«
Lutz wollte Details, konnte das nicht so einfach betrachten: »Das verstehe ich nicht.«
»Dann will ich es dir erklären, du warst noch nie der Schnellste, nur einmal, als du deine Beförderung erschlichst. Aber weiter. Die Richterin gab über alle unsere Unternehmungen falsche Auskünfte und trug böswillig die Löschung in die Register, sei es Handels- oder Vereinsregister, ein. Sie ging sogar soweit, uns persönlich in das Schuldenregister aufzunehmen, nur eine Seite hinter dem Immobilien-Schneider. Damit behinderte sie unsere Aktivitäten, keine Bank will mit einem zu tun haben, der dort aufgeführt ist, man erhält kein Konto mehr und nichts. Damit hat man in unserer Welt der immateriellen Geldflüsse keine Adresse mehr, man existiert nicht, wirtschaftlich hat man das Gesicht verloren, und das für alle Zeit.
Und deshalb haben wir ihr das Gesicht genommen, ehrlich gesagt, es war auch kein grosser Verlust, sie wirkte schon im Leben ziemlich fade und ohne markante Kennzeichen.
Friedrich, der Vollstrecker führte fort, was die Richterin begonnen hatte, er beschlagnahmte alles, was er finden konnte und verbreitete mit seinen Pfändungsverfügungen Angst und Schrecken bei unseren Geschäftsfreunden. Hatte sie uns das Gesicht, die Anschrift genommen, so schlug er uns sichtbar an´s Kreuz. Wir haben es ihm wiedergegeben.«
»Ja, ich weiss.« stimmte Lutz zu. »Es soll sogar, laut Arzt, sehr fachgerecht gewesen sein.«
»Alles was es wert ist, dass man es tut, ist es wert, dass man es richtig tut, sagt der Volksmund.
Kommen wir zum Vierten. Zahn, dem Anwalt.
Seine Part in diesem infamen Komplott war die planmässige Vernichtung von Sachwerten. Eine seiner Aktivitäten ist die Verwaltung von Konkursen. Nachdem uns die Richterin und der Vollstrecker mit dem Rücken zur Wand gestellt hatten, fuhr er uns dann mit Genuss dagegen. Er übernahm die Abwicklung unserer Firmen und verscherbelte unsere Immobilien zu Spottpreisen, die er dann als seine wohlverdienten Honorare einsteckte.
Die Richterin bescheinigte in jedem Fall die ordnungsgemässe Abwicklung.«
»Und warum haben Sie nicht die Gerichte bemüht?« fragte Lutz, den irgendwie glaubte er noch an Recht und Ordnung und der normalerweise daraus entstehenden Gerechtigkeit.
»Wir hätten bestenfalls nach drei Instanzen und fünf Jahren Urteile zu unseren Gunsten bekommen, so viel Zeit aber war nicht. Ausserdem entzogen uns unsere Gegner geschickt die wirtschaftliche Basis und ohne gerissene, hochbezahlte Anwälte gibt es kein Recht. Es rächte sich jetzt, dass die Jakobiten qua Statut Juristen ausschlossen, aber Weishaupt war selbst Jurist gewesen und wusste eigentlich immer, was er tat.
Dann noch Sand, der Banker. Er trat als unser Freund auf und bot uns Schutz, Unterkommen und Konten. Wir transferierten unsere Reserven auf seine Bank. Er versprach uns, auf dem internationalen Markt mehr Geld aufzutreiben, verlangte dafür aber vorab Bearbeitungs-, Bestechungs- und Stempel-gebühren. In unserer Verzweiflung zahlten wir, nur um endlich feststellen zu müssen, dass unsere Verzweiflung und die aus ihr entstehenden Hoffnungen trügerisch und falsch ausgenutzt worden waren.
Sand hatte uns finanziell ausgetrocknet, wir haben ihm das persönlich vergolten.« Der Alte schien über befriedigt dem Tod in der Grube nachzuschmecken.
Lutz wollte ihm die Befriedigung nicht gönnen und wies auf den Mann auf der Diele: »Und er? Hat er sie auch bekämpft?«
»Aber ja. Eigentlich steht er in der Reihenfolge noch vor Friedrich, aber aus Gründen, die ich dir später erläutern werde, haben wir ihn als letzten drangenommen.
Beimer hat seine Position ausgenutzt und uns verfolgt. Er hat dafür gesorgt, dass unsere Projekte und ihre kalkulierten Verluste steuerlich nicht anerkannt wurden und setzte damit gigantische Nachzahlungen gegen uns in Gang.
Anfangs zahlten wir, im Glauben, dass wir ihn ruhigstellen könnten, wir zahlten sogar direkt an ihn.
Aber er wollte immer mehr und mehr, er saugte uns aus, holte sich den letzten fließenden Tropfen, der Vergleich mit einem Vampir ergab sich von selbst.
Aber er wird noch einen letzten guten Zweck erfüllen.« Der Alte macht den Eindruck, als ob er nichts mehr hinzufügen hätte.
»Also doch Rache. Wie ich vermutet habe.« stellt Lutz fest.
»Du urteilst, wie alle beschränkten Menschen, vorschnell und ohne sich um alle Fakten zu bemühen. Das nennt man Vorurteil.«

Im Tunnel spielt DJ Accel drei CDs in rasendem und sich überdeckendem Wechsel. Der Beat addiert sich und schaukelt sich auf. Würde es jemand messen, es sind jetzt 240 beats per minute.
Die Lightshow zuckt ununterbrochen und auf der Netzhaut der Tänzer entsteht ein fortlaufender Lichtfilm, der durch die reichliche Tablettengabe bis knapp unter die Schwelle zur Realität aufgestiegen ist.
»Gelungene Nacht.« denken die Raver, sofern sie noch bewusst denken.

Obermaier massiert sich den Nacken. Oben auf dem Tower ist alles ruhig. Nur seltsam, dass der Aufzug oben steht. Wie kam der Mann runter, der ihn dorthin gefahren hat?
Fragen über Fragen und immer noch ein Kapitel.
 
47


Lutz ging also hin.
Und fragt den Alten: »Ich? Und Vorurteile? Niemals! Und ich habe aus Ihren sicherlich ehrenwerten Ausführungen noch nichts entnehmen können, was selbst den weichherzigsten Richter zur Annahme mildender Umstände bringen würde.«
»Du weisst noch längst nicht alles.« versetzte der Alte und fuhr, die Leiche als Rednerpult benutzend, dozierend fort: »Frankfurt ist der Nabel der Welt. Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz real.
Genau unter uns, an diesem Punkt ist das nördliche Ende der Erdachse und die Welt müsste sich um uns herumdrehen.«
»Blödsinn. Sie rotiert um die Pole.« widersprach Lutz.
»Du hast es immer noch nicht begriffen. Die Welt ist, was der Mensch denkt.
Jahrhundertelang kämpften die zwei Systeme Kugel und Scheibe gegeneinander. Beide Anschauungen hatten ihre Gläubigen, die mit ihrem Denken einen Kompromiss schufen.
Eine Mischform entstand. Eine Art rotierender Scheibe. Die wirkliche Gestalt der Welt passte sich an und der Nordpol ist nun eben oben. Aber das klappt nur, weil beide Systeme um die Vorherrschaft kämpfen und keines gewinnen konnte.
Und dann trat, kürzlich, mit der Erfindung des Fernsehens, das ein, was Keiner erwartet hatte.
Für viele Menschen verlor das Thema plötzlich die Dringlichkeit. Man stand nicht nur interesselos der Diskussion gegenüber, sondern die Diskussion fand einfach nicht mehr statt.
Damit erhielten wir eine Verschiebung und Dreiteilung der Macht: Die wirkliche, echte, physikalische Fraktion, gewählt von den Nichtwählern und die beiden anthropologischen Bilder Kugel und Scheibe.
Wir von der Scheibe verloren durch die infamen Angriffe der Kugelleute an Anhängern. Und damit nahm die Verschiebung ihren Anfang.
Während der 48er Revolte hatte sich kurze Zeit auch alles im Denken der Menschen um Frankfurt gedreht und es erwies sich nebenbei, dass der wahre und nicht vom Menschen beeinflusste Nordpol genau hier unter diesem Gebäude liegt.
Wir hatten das begriffen und schützten diesen Punkt, wir kauften das Gelände und legten einen Park an.
Dann kamen die wirtschaftlichen Übergriffe der Kugelleute, denn sie hatten durch einen Renegaten von der besonderen Lage dieses Grundstücks erfahren. Ihnen war klar, dass ein sehr hohes Gebäude an dieser Stelle die Drehachse verlagern würde. Schließlich weiss jedes Kind, das ein Kreisel um so besser funktioniert, wenn seine Achse weit herausragt und die Drehung unterstützt. Und was für sie wichtiger war, den Scheibenglauben für alle Zeit beseitigen würde, denn nach der Verlagerung würde es noch mehr so aussehen, als sei die Erde eine Kugel, da die tatsächliche Form einige Ähnlichkeit hat.
Denen war auch klar, dass die Gegend hier unter einem tausende Meter dicken Eispanzer versinken und für alle Zeiten unbewohnbar werden würde.
Die wichtigen und eingeweihten Kugelleute zogen sich auf die Inseln im Mittelmeer zurück, wie Mallorca oder so, dort werden sich wieder etwa mitteleuropäische Verhältnisse einstellen, nach dem Kippen der Erdachse.
Nur der innerste Kern blieb hier, du kennst Sie alle, es sind die sechs Toten. Jetzt gibt es nur noch drei Menschen, die die ganze Wahrheit kennen.«
»Der Tower steht doch schon einige Wochen, warum ist die Achse nicht gekippt? Oder ist diese Theorie doch nicht richtig und Sie haben sich geirrt?«
»Die Erde hat eine gewisse Trägheit. Genauso wie die Gläubigkeit. Aber die Verzögerung nähert sich dem Ende. Es ist höchste Zeit, dass wir die Dinge wieder in´s richtige Lot bringen.« beschwört der Alte mit leiser, fast glaubhafter Stimme.
Aber Lutz ist Realist durch und durch und das lässt er sich auch nicht so einfach nehmen. Er bezweifelt weiter: »Aber es gibt doch zahllose Beweise, dass die Welt so ist, wie sie ist.«
»Alles falsch interpretiert. Ich will dir ein Beispiel geben, obwohl ich nicht glaube, dass du es verstehst.
In allen grossen technischen Museen kann man den Beweis für die Drehung der Erde sehen, das foucaultsche Pendel.
Das ist ein Pendel, das von der Decke hängt, also sehr lang und mit einer grossen Metallkugel am unteren Ende. Stösst man dieses Pendel an, und hat vorher einen Kreis aus Kegeln oder Ähnlichem um seinen Mittelpunkt auf dem Boden aufgebaut, dann wird dieses Pendel die Kegel umstossen. Alle Kegel auf dem Kreis.
Die schulmässige Erklärung ist sehr einfach, die Erde dreht sich unter dem Pendel, das sich wiederum durch seine Schwingungsebene der Drehung widersetzt.
Der Aufhängepunkt des Pendels liegt also in einer Verlängerung der Drehachse der Erde.
Und das funktioniert überall. Egal, wo man das Pendel aufhängt.
Na. Dämmerts endlich?«
Lutz denkt nach, stellt sich Gewölbe, Pendel und Kegel vor. Dann stellt er sich das Ganze wo anders vor. Und immer werden alle Kegel umgestossen. »Sie meinen, das dürfte nicht so sein. Es gibt doch sicher eine Erklärung.«
»Aber sicher gibt es eine Erklärung. Es gibt sogar zwei Erklärungen. Die erste, wissenschaftliche, ist lang, mathematisch und unübersichtlich. Die meisten Wissenschaftler erklären, ganz entgegen ihrer üblichen Gewohnheit seltsam verwaschen und unbestimmt, so als ob sie selbst nicht richtig davon überzeugt wären. Dabei ist der Beweis ordentlich, zumindest im Rahmen der Mathematik.
Die zweite Erklärung ist die logische, die, die einem sofort einleuchtet.
Da sich noch keine Vorstellung endgültig durchgesetzt hat, ist bisher jeder Punkt auf der Erdoberfläche ein potentieller Drehpunkt.
Und die Pole sind der kleinste gemeinsame Nenner der Gleichung aus drei Ideologien oder Anschauungen, wenn du zu den Leuten gehörst, die an wertfreie Begriffe glauben.«
»Wahnsinn!« entfährt es Lutz.
»Ich kann auch noch steigern. Um die letzte Jahrtausendwende, berichten die badischen Chroniken, blühten die Obstbäume in Januar und die Leute konnten abends nach der Arbeit im Freien zusammensitzen. Inzwischen ist das auch durch die Analyse der Jahresringe von Bauholz aus dieser Zeit bestätigt worden.
Die Wissenschaft sucht immer noch nach einer einleuchteden Erklärung. Von Sonnenflecken über verminderte vulkanische Aktivitäten bis zum Meteoreinschlag im Atlantik und der daraus resultierenden Aufheizung.
Jede dieser Theorien wurde bisher von den Vertreter der anderen zerpflückt und entwertet.
Zu dieser Zeit, am Ausgang des sogenannten dunklen Zeitalters, schrieb die Kirche den Glauben an die Scheibe, den anthropozentrischen Standpunkt zwingend vor. Die damals verbreitete Gläubigkeit, deswegen nennt man dieses Zeitalter dunkel, sorgte dafür, dass sich die Drehachse zur Scheibenposition hin verschob, dadurch kam unsere Gegend mehr in den Süden und es wurde wärmer. Der Effekt korrigierte sich wieder mit dem zunehmenden islamischen Einfluss und das Klima war wieder wie gewohnt.«
»Und das soll alles abgelaufen sein, ohne dass jemand davon erfuhr?« fragt Lutz, immer noch ungläubig, aber nicht mehr so ganz.
»Dem steht entgegen...« antwortet der Alte: »...dass wir an göttliche oder universelle Gesetzmässigkeiten glauben wollen, und die Natur richtet sich danach.
Wir glauben an Formeln und die Natur ahmt die Ergebnisse nach. Wir glauben an die Berechenbarkeit und die Natur fügt sich.
Denn so wie wir die Gestalt der Erde mit unseren Vorstellungen und unserem Glauben formen, so bauen wir auch den Rest des Universums nach unseren Vorstellungen.
UND DIE ERDE SEI DEM MENSCHEN UNTERTAN.
Aber nicht wie vermutet, dass er sie be- und ausnutzt, sondern, dass er sie nach seiner Vorstellung, dem einzigen wahren und ursprünglichen Naturgesetz, gestaltet.
Und wenn du mir jetzt noch nicht glaubst, kann ich´s nicht ändern. Ich habe noch zu tun.« der Alte wendet sich brüsk ab.

Obermaier spürte die Vibrationen des Bodens und fragt seine beiden uniformierten Begleiter.
Der Jüngere der Beiden antwortet: »Das sind sicher die Kids im Theatertunnel. Da geht die Post ab. 36 Stunden lang. Nach der Schicht geh´ auch hin.«
»Ob ich mir das auch mal anschaue.« überlegt Obermaier.

Die Kids, wie sie gerade ohne ihr Wissen genannt wurden, empfangen jetzt schon die dritte Ration. Die Dealer verteilen tiefblaue Dragees, ähnlich wie Liebesperlen, nur grösser und farbiger, das Metallblau schmerzt beinahe.
Die Dealer halten Schilder hoch: Jeder nur eine Kapsel, aber sofort und alle gehorchen.
Das Lichtgewitter gewinnt mit jeder Kapsel an Substanz, die Bewegungen der Raver werden zäh, aber kraftvoll.
 
48


Einige Zeit danach sagt Lutz: »Das ist krank und alles Zufall.«
»Du bist erwachsen, du kannst selbst bestimmen, was du glauben willst.« stimmt der Alte zu und sprengt weiter den Boden mit dem Blut aus den Flaschen von der Kabeltrommel ein. Die rote Flüssigkeit verteilt sich unregelmässig auf dem staubigen Beton und hinterlässt ein Muster, das an billiges Linoleum aus den Fünfzigern erinnert.
Lutz schaut, immer noch in seinen Grundfesten erschüttert, zu und frägt dann: »Was wird das?«
»Das ist sowas wie eine Markierung.« Der Alte befragt seine Uhr: »Damit wird in wenigen Minuten die Energie auf die Fundamente zurückgespiegelt und kann so die maximale Zerstörung anrichten.«
»Zerstörung?«
»Aber sicher. Der Turm muss weg. Und ausserdem wird dieses Ereignis so viel Energie freisetzen, dass sich der wahre Pol an einen unbekannten Ort und damit ausserhalb des Zugriffs der Kugelleute verlagern wird.
Meine Mission, mein Leben und mein Punktekonto in Flensburg sind damit erfüllt.«
»Letzte Frage: Was verstehen Sie unter wenigen Minuten?«
Der Alte liest seine Armbanduhr umständlich genau ab: »Acht Minuten und dreiundvierzig Sekunden.«

Unten an den Ansaugstutzen des Tunnels macht es leise »klick«. Aus den Öffnungen der Flaschen dringt es dicht schwermetallblau. Die Kristalle fallen in den Luftstrom und werden durch die Gebläse gleichmässig im Tunnel verbreitet, die berechnenden Ingenieure haben beim Bau gute Arbeit geleistet.
Der blaugrüne Lichtstrom über den Köpfen scheint einen Tick mehr blau sowie dicht und weniger grün sowie Licht.

Unten in den Fundamenten hat die Ratte jetzt eine komplette Umgehung des archaisch fremden Geruchs hinter sich und fühlt nur das übermächtige Bedürfnis, schnell aus dieser Gegend zu verschwinden, schließlich gehen Ratten bei ihrer Ausbreitung zwar aggressiv, aber keinesfalls blöd vor. Sonst wären sie nicht so erfolgreich darin, die Menschen für sich arbeiten zu lassen. Aber wir wollen diesen sicherlich interessanten Aspekt eines Rattenlebens nicht weiterverfolgen, sondern beschränken uns auf einen schnellen Hinweis: »Zehn Prozent der weltweiten Getreideernte wird von Ratten aufgefressen.«
Unsere Ratte aber hat inzwischen genug anderes zu tun, denn der schlechte Geruch breitet sich aus und sie muss mit aller Kraft davonlaufen. Nach einem anfänglich erschreckten Quiecken rast sie lautlos durch die jetzt unheimlichen Kavernen des Towers.
Dann hat sie die Grenze des Geruchs passiert und atmet wieder den vertrauten Gestank der Kanalisation. Aber der Schreck sitzt so tief, oder Ratten sind so intelligent, sie läuft weiter bis Offenbach.

Lutz nutzt in dieser prekären Situation das in uns allen schlummernde Talent, zwei Dinge gleichzeitig einigermassen richtig zu tun: Er rennt auf den Ausgang zu (und ähnelt damit der Ratte tief unter ihm) und sagt: »Dann sollte ich wohl gehen.«
Der Alte befiehlt seinem jüngeren Begleiter: »Halt ihn auf.« und der rennt ebenfalls los.

Obermaier, mit immer noch nach oben starrendem Blick, sieht eine Bewegung am höchsten Ende der Treppe. Ein schwarzes Komma scheint, heftig schleudernd, den Weg abwärts zu suchen und schließlich auch zu finden.
Ein zweites Komma erscheint und verfolgt das erste.
Das wird kurz zum Semikolon, irgendwelche Teile lösen sich und fliegen die Treppe hinauf, dem zweiten Komma entgegen.
Das gerät anscheinend in Verwirrung und kann sich nicht entscheiden, was es sein will, wird kurz zum gebückten Punkt, streckt sich über das Geländer zum Ausrufezeichen, hält einen Moment als weit vorgebeugte Klammer inne, stürzt dann als wild ruderndes Fragezeichen ab, wird schließlich zum jüngeren Begleiter und schlägt keine fünfzig Meter von Obermaier entfernt auf.
Die beiden Uniformierten laufen zur Aufschlagstelle, aber Obermaier bleibt standhaft und verfolgt das verbliebene Komma. Dieses hüpft über die Stufen nach unten, es hat sich nur kurz über das Geländer gekrümmt, sprang aber dann sofort weiter. Dann erreicht es das Ende der Treppe und läuft zum Aufzug. Lutz springt in das Gerät und nach einem schrecklichen Moment der Verwirrung begreift er die Bedienelemente und der Korb geht abwärts.

DJ Accel spielt jetzt sein Lieblingsstück, eine Eigenproduktion mit achtundzwanzig Minuten Länge und dem sich ständig wiederholenden Text: »raver to the power, power to the raver.« Die Tonhöhe dieses Texts steigt in Laufe des Stücks an und erreicht kurz vor dem Ende den Bereich des Ultraschalls. Auf der anderen Seite des Spektrums arbeitet der Rhythmus. Mit 300 beats per minute reicht der pulsende beat in den Infraschallbereich. Dazwischen weist das Stück nichts auf, aber Niemand merkt das, denn dieses Stück wird nicht mehr gehört, sondern es vibriert auf Zellbasis in den Ravern.

Der Aufzug hat das erste Viertel seines Weges nach unten hinter sich. Lutz schaut verbissen abwärts, versucht mit Blicken zu beschleunigen.

Der Text ist nun für alle Raver unhörbar im Ultraschall, und doch hallt es in jedem Einzelnen, verstärkt durch die freigiebige Drogenmischung der Nacht: »raver to the power, power to the raver.« Die Skelette fließen im Gleichtakt des tiefen Infraschalls, alle Tänzer werden synchron.
Der Lichtstrom färbt sich schwermetall- und kobaltblau und flirrt im Ultraschall.

Der Aufzug hat jetzt die Hälfte der von der Rettung trennenden Distanz überbrückt.
Obermaier ist sich jetzt sicher, dass dort sein Kollege herunterkommt.
Lutz schaut auf die Uhr, will wissen, wieviel Zeit ihm noch bleibt, kann es aber nicht feststellen, da er nicht weiss, wie lange es her ist, dass der Alte die Endzeit verkündet hat.

Das blaue Flirren wandelt sich in kompakte Helle um und jagt von einem Tunnelende zu anderen. Mit jeder Durchquerung wird sie stärker und konzentrierter.
Und dann bricht die blaue Scheibe aus reiner Energie los, wie ein Korken aus der Flasche.
Der Tunnel bleibt novembermorgengrau und still zurück. Die Raver pendeln langsam aus, sie haben ihren Zweck erfüllt und dürfen wieder ihrer Existenz nachgehen.

Der Aufzug ist dreiviertel unten, oder noch ein Viertel oben, auf jeden Fall zum Springen zu hoch und zum ruhig Abwarten zu niedrig. Lutz klettert absprungbereit auf die Gittertür.
 
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Darauf rief Lutz zu seinen Kollegen: »Wartet auf mich, nehmt mich mit.«
Obermaier konnte mit dieser Äusserung sehr wenig anfangen, denn bisher hatte er nur den Absturz des einen und den kontrollierte Niederkunft des anderen mitgekriegt.
»Was ist los?« schreit er deshalb nach oben.
Anstatt diese wirklich einfach zu verstehende Frage zu beantworten, zeigt Lutz hysterisch auf die Strasse hinter Obermaier.
Der dreht sich um und wird auch schon von einer gigantischen, blauen Scheibe umflossen, die sich bereitwillig für ihn geteilt hat, so, als ob die Scheibe ihre Kräfte für wesentlichere Aufgaben aufspart.
Lutz, noch ungefähr zwanzig Meter hoch und mit dem Überblick ausgestattet, sieht, wie die Scheibe vor dem Tower gleich einem Kiesel auf Wasser spielerisch auf dem Boden aufprallt und dann elegant und immer schneller in der Turmstruktur nach oben steigt.
Dann ist die Scheibe an ihm vorbei und Lutz sieht nur noch gelbe Flecke, komplementäre Nachbilder des überirdisch strahlenden Blaus.
Die Scheibe jagt den Turm hoch und passt sich dem asymmetrisch verjüngenden Querschnitt an.
Der Aufzug ruckt nach unten und wird jetzt auch noch langsamer.
Gerade als Lutz springen will, stoppt der Korb endgültig, der unterste Level ist erreicht.
Obermaier kommt atemlos angerannt: »Was ... ist ... los?«
»Der Tower kommt gleich runter! Weg hier!«
Die Beiden flüchten vor dem der Vernichtung anheimgefallenen Bauwerk, bleiben aber doch nach fünfzig Metern stehen, die verfluchte Neugier und ihre Macht.
Die Scheibe hat den obersten Stock erreicht und prallt gegen die Barriere aus Blut. Sie vibriert ein wenig, sogar über diese Entfernung wird sichtbar, dass sie enttäuscht und gekränkt reagiert, dann strafft sie sich scheinbar und praktiziert das Motto: »Macht kaputt, was euch kaputt macht.«
Die Scheibe fällt in der Struktur des Gebäudes.
Die in der Nacht von den Ravern abgeschöpfte und gesammelte blaue Energie macht sich daran, in die Verbindungen zwischen den Atomen zu investieren und teilt die gemeinsam benutzten Elektronen wieder dem ursprünglichen Besitzer zu.
Der Tower löst sich auf.
Wo gerade noch konkreter Beton und Stahl ragten, schweben jetzt die einzelnen Atome der beim Bau verwendeten Elemente reglos in der Luft, das in der Morgensonne glitzernde Glas ist in stumpfen Staub verwandelt, selbst der Aufzug treibt in seinen kleinsten Einzelteilen an seinem alten Platz, der Turm wirkt oberhalb der Scheibe seltsam verschwommen und unscharf.
Dieser Vorgang läuft bemerkenswert und erschreckend lautlos ab, nur das vielfache bläuliche Blitzen an der Aussenseite des Towers knistert leise, während sich die Scheibe langsam nach unten frisst und dabei die Kontur des Turms nicht zerstört, sondern stehenlässt, vielleicht ein bisschen aufgeblasen und fülliger als vorher, aber nicht so auffällig, dass es in das Auge des Betrachters einschlägt, vielmehr braucht es einen zweiten Blick. Und selbst dann könnte man meinen, dass Scherzbolde des Turm in der Nacht mit Schlagsahne bespüht und verziert haben.
Dann prallt die Scheibe gegen den Boden und die Grenze ihrer Lebensdauer und gewittert ihre Reste unter Blitz und Donner in dem gelösten Turm nach oben, der mehrheitlich weisse Staub färbt sich bläulich, die Kontur gewinnt noch etwas an Fülle, aber ist immer noch der Tower.
Eine gewaltige Stille übernimmt den verfügbaren Raum.
Die vier Beamten stehen mit offenem Mund schweigend vor dieser Skulptur aus schwebenden Partikeln, als eine leichte, zarte Morgenbrise aus dem Osten in die Form greift, sich über das grosse Spielzeug freut und es ordentlich vor sich hertreibt. Die Kontur zerfließt sanft und fast unmerklich, aber in Schüben wahrnehmbar zu einer Wolke, die auf die Stadtteile Schwanheim und Hoechst zutreibt. Aber dort hat man mit solch plötzlich auftretenden Wolken hinreichend Erfahrung.
Das Panorama klärt sich vor den Vieren und die Stadt wird sichtbar.
Lutz ist der erste, der sich bis zur Sprache erholt: »Das war knapp.« bemerkt er nicht gerade geistvoll, aber zutreffend, besonders wenn an sein verzweifeltes Manöver mit den Tausendern am oberen Ende der Freitreppe denkt, auf das der Verfolger hereinfiel und in einem letzten und tödlichen, aber sehr tiefeingeprägten und nicht beherrschbaren Reflex die flatternden Scheine einfangen wollte und dabei zu weit vorbeugte.
 
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