Mitgefühl

Believe und ich haben oft eine ganz eigenwillige Art der Kommunikation. Könntest du verstehen- musst du aber nicht. :lachen:
Nein, muss ich nicht. Und da das hier je kein Austausch von PMs ist, erlaube ich mir, auf das zu reagieren, was alle lesen können und was mein beschränktes Verständnis erreicht.
 
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Nein, muss ich nicht. Und da das hier je kein Austausch von PMs ist, erlaube ich mir, auf das zu reagieren, was alle lesen können und was mein beschränktes Verständnis erreicht.

Ja, ist doch auch richtig so.
Mach mal aufmerksam. :banane:

Und sage das nicht nochmal mit dem beschränkten Verständnis... war ja dann eher meine Achtlosigkeit, die dich auf den Plan rief. :)
 
Liebe Believe!

Ich halte Mitgefühl sogar im Gegenteil für eine Facette weit entwickelten Bewusstseins. Dein Hinweis auf die Primärgefühle macht das vielleicht deutlich: Primärgefühle sind zunächst einmal vorsprachliche Empfindungen, die erst im Nachhinein in der Betrachtung ein sprachliches Mäntelchen bekommen (das wenig darüber aussagt, wie sie sich wirklich anfühlen). Und ich kann immer nur meine eigenen Primärgefühle empfinden.

Zum Mitgefühl schreibt der buddhistische Lehrer Jack Kornfield: "Der nahe Feind des Mitgefühls ist Mitleid, und auch dieses trennt uns. Mitleid fühlt Bedauern für jenen armen Menschen da drüben, als wäre er etwas von uns Verschiedenes..."

Mitgefühl sehe ich als eine Form von Beziehung, die ich mit jemand aufnehme; ich nehme etwas Gemeinsames in mir und einem anderen wahr und weiß (!) zugleich, dass dieses Gemeinsame doch etwas völlig Verschiedenes ist, sehe meine Anteile an dieser Beziehung und seine Anteile, und daraus kann Mitgefühl erwachsen. Dabei ist mir die Funktion der Wahrnehmung eines anderen sehr wichtig - je nach Art und Weise dieser Wahrnehmung wird sich auch mein Mitgefühl anders zeigen. Wahrnehmung wiederum ist nun schon eine Sache, die ganz erheblich trainierbar ist, die lässt sich von Bewusstsein wohl schwer abkoppeln. Wenn Wahrnehmungspotenzial und Bewusstseinsentwicklung Hand in Hand gehen, dann wäre auch Mitgefühl in gewissem Rahmen erlernbar bzw. modifizierbar!? Und ich wäre froh, wenn solche Lernziele etwas mehr Gewicht bekämen gegenüber jenen, die in Pisa-Tests quantifiziert werden. Und wenn Mitgefühl nicht quasi als "Naturereignis" betrachtet würde, das ich eh nicht herbeiführen kann, sondern als humanes Kulturverhalten, das ich erarbeiten und ausbauen kann.

Alles Liebe,
Jake

Das finde ich sehr gut ausgedrückt und erklärt. Auch den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl.
Mitgefühl ist m.E. nicht ein sehr lautes Gefühl, also nicht so wie Haß oder Wut, Trauer , Schmerz, Freude - es ist ein ganz ruhiges, klares Gefühl. Wenn ich selbst schon durch tiefe Täler gewandert bin, weiß ich, wie jemand sich fühlt, der auch gerade ein tiefes Tal durchwandert.
Vielleicht kann man Mitgefühl lernen. Denn jeder weiß ja, wie das Leben ist, selbst Kinder wissen ja oft schon, wie sich Schmerz anfühlt. Und vielleicht ist es nur nötig, zu sagen, schau, du hast dich selbst auch schon so gefühlt, du weißt, wie das ist.
Ich könnte nicht sagen, daß Mitleid trennend ist - jedoch ist es oft nicht hilfreich, weil es jemanden, der gerade leidet, bestätigt in seiner leidenden Rolle. Mitgefühl kann den anderen aus dem Leid bringen oder auch nur stärken. Mitgefühl hat mit der Liebe zu dem, was ist, zu tun. Denke ich zumindest.

Liebe Grüsse, Alana
 
@Eva: was mir heute im Wald dann noch eingefallen ist: wenn ich zulasse, als erwachsener Mensch, daß ich mißbraucht werde, dann bin ich doch auch gleichzeitig Täterin. Also in dem Augenblick, wo ich erkenne, ich werde auf die eine oder andere Art mißbraucht, und ich es geschehen lasse, dann mißbrauche ich den Täter und mache ihn zum Opfer meiner eigenen Mißbrauchsgeschichte. Solange ich es nicht bemerke, trage ich dafür keine Verantwortung, aber in dem Moment, wo ich es weiß, eben schon.
Klingt wahrscheinlich gewagt (und ich denke da auch nicht an gewalttätige Aktionen, in denen es evtl. um ein Menschenleben geht).

Liebe Grüsse, Alana
 
Bei dem Thema erinnere ich mich an eine Dokumentation, die ich vor sehr vielen Jahren mal im TV gesehen habe:

Da ging es um einen Mann, der im Affekt jemanden getötet und dafür 15 Jahre bekommen hatte (wenn ich mich richtig erinnere, was die „Tatbestände“ betraf).

Im Gefängnis hatte er begonnen Ikonen zu malen, es gab zahlreiche Eingaben, ihn aufgrund guter Führung etc. vorzeitig freizulassen.

Er wollte nicht – wollte partout nicht ! Er hatte das „Urteil“ für seine Tat in jeder Hinsicht angenommen und damit auch seinen Weg zu sich gefunden.

Ich weiß, es wird viel erzählt im TV und geschauspielert….

Woran ich mich aber genau erinnere: dieser Mensch strahlte eine so große Ruhe, Zufriedenheit und auch tiefe Zuversicht aus, wie man sie ganz einfach nicht spielen kann.

Er hat mich unglaublich berührt in seiner Akzeptanz von dem, was IST !

Sowas ist sicherlich nicht die Regel, aber u.a. deshalb denke ich, dass es DEN Weg mit „Täterschaft“, „Schuld“ oder „Opfersein“ umzugehen nicht gibt..

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Zum Thema Mitgefühl, von mir aus sogar auch „Mitleid“ mit anderen, fällt mir noch ein:
Um dieses empfinden zu können, bedarf es wohl doch noch einer gewissen Portion an Reflektion, ein wenig bewusstes Selbst-Empfinden, jenseits von „nur“ Selbstmitleid.

Der Punkt ist:
dazu sind einfach nicht alle Menschen fähig, weil sie selbst so sehr gebrochen sind/wurden, dass da einfach nichts mehr wachsen oder sein kann außer einer zutiefst kranken „Selbst-Entäußerung“.

Davor die Augen zu verschließen, kann sehr fatale Auswirkungen haben !
 
Liebe Eva,

Moral an sich ist doch für jeden was anderes bzw. veränderlich, vom Zeitgeist abhängig und auch von der jeweiligen Kultur. Genauso die Ethik und, die Bedeutung von Folgen von Verstößen und Verletzungen (zumindest rechtlicher Art). Und dann gibt es noch diese eine Ethik, die , so denke ich, in jedem Menschen steckt, bei jedem gleich ist und manchmal tief vergraben ist. Und weil das so ist , spürt man wohl auch sein Gewissen, auch wenn man "moralisch" einwandfrei gehandelt hat.

Liebe Alana,
ich merke, wir meinen dasselbe, ungeachtet der unterschiedlichen Bedeutungen, die wir, jede aus ihren persönlichen Erfahrungen heraus, bestimmten Begriffen zuordnen.
Den Satz, den ich fett hervorgehoben habe, finde ich dabei entscheidend:
Mit Schuld bezeichne ich die Empfindung, zu der jeder Mensch kommt, der gegen diese, ich möchte es mal "Grundethik" nennen, oder auch Gebot der Menschlichkeit, verstößt.
Das ist die tiefste Schicht. Darüber liegen die von dir angesprochenen, je nach Kultur und Gruppenzugehörigkeit, variablen Einflüsse.
Interessant in dem Zusammenhang ist, dass jeder Verstoß gegen die Menschlichkeit in der Tiefe als solcher wahrgenommen wird. Darum müssen die, denen aus einer Gruppentreue heraus etwas angetan wird, zuerst zu Nicht-Menschen, bzw. Nicht-Berechtigten um-definiert werden. (z.B. als Ungläubige, Menschen minderen Wertes, Feinde jeder Art, die vermeintlich zum Selbstschutz "präventiv" getötet oder vernichtet werden sollen, Angehörige eines minderwertigen Geschlechtes (Frauen!) oder auch, ganz beliebt, Menschen, denen vorsorglich die Schuld an der eigenen Handlung zugeschrieben wird.
Wäre das ( die Ent-Schuldigung/Recht-fertigung und die Schuldverschiebung) denn nötig, würde das eigene Handeln nicht tatsächlich schon als schuldhaft wahrgenommen, wenigstens irgendwo ganz tief im Herzen?
Ich sehe das Grund-Mitgefühl als natürliche Verbundenheit jedes Menschen mit allen Mit-Menschen an, das zwar gründlich verlegt oder überlagert sein kann, aber darunter weiterhin vorhanden.

Verstöße und Verletzungen möchte ich nicht mehr mit "Schuld" betiteln. Einfach deshalb, weil , wie wir wissen, auch Täter Opfer sind und Opfer zu Tätern werden können. Es sind einfach Handlungsweisen , die wir nicht verstehen können, die uns wehtun , und oft warten wir (lange und umsonst) darauf, daß der Täter/die Täterin das irgendwann doch erkennen müßte, wie verletzt wir wurden, weil sie es doch waren und weil sie "Schuld daran" sind. Wenn ich aber davon ausgehe, daß der Täter so gehandelt hat, weil er eben so IST - wie kann ich ihm dann irgendeine Schuld geben? Ich kann dann sehen, daß ich verletzt wurde, daß es niemals mehr ungeschehen gemacht werden kann, gleich ob der Täter erkennt was er getan hat oder nicht, daß es auch keine Wiedergutmachung dafür geben wird von ihm - und dann? Dann kann ich weitergehen. Ohne Schuldzuweisung für irgendjemanden.

Die Schuld, und ich bleibe mal bei dem Begriff und verwende ihn im Sinne meiner Erläuterungen weiter oben, ist Sache des Täters.
Wenn du als Opfer gedanklich die Schuld des Täters händelst, bist du weg von dir und deinem Job. Du kannst sie ihm nicht nehmen, und wenn du ihn noch so gut verstehen kannst. Und du kannst sie nicht steigern oder ihn zur Erkenntnis zwingen, indem du dich über den erlittenen Schaden hinaus leiden lässt, z.B. mit dem Wiederholzwang. Mitfühlen hieße dann, dass du seine Gewissensnot, ob er sie nun selbst spürt, oder (und das bedeutet immer einen Aufwand!) verdrängt, bzw. umdeutet, kennst und sie ihm lässt. Denn so, wie die Folgen der Tat zu deinem Schicksal als Opfer gehören, gehören sie zu seinem Schicksal als Täter.
In Aufstellungen zeigt sich dann eine heilsame Wirkung, wenn solche Zuständigkeiten entwirrt sind.

Den Umgang mit Schuld bringen ja nicht die Aufsteller als Konzept hinein, sondern sie folgern eben aus dem, was sich zeigt.
Schuld entsteht aus der Tat. Und sie misst sich an den Geboten der Menschlickeit, nicht an subjektiven, eben von Gruppenregeln oder kulturell beeinflussten, Urteilen.
Der Missbrauch von Schuldzuweisungen funktioniert übrigens genauso: Eine Handlung wird zur Tat erklärt und es werden Urteile gefällt, auf deren Basis dann Forderungen gestellt oder eben eigene Handlungen gerechtfertigt werden.
Im Kleinen als zwischenmenschliche Manipulationen, im Großen als Pseudorechtfertigung von z.B. Völkermord.

Das konnte ich lange nicht, ich habe immer gehofft, daß einer der "Täter" in meinem Leben das auch sehen würde und dieses Erlösungswort sprechen würde: "ich habe dir sehr wehgetan". Doch das ist nie passiert. Und das hat mir gezeigt, daß da kein Bewußtsein war von Schuld im anderen, höchstens in mir, weil ich mich so fühlte - denn ohne Schuld, wie hätte mich jemand so verletzen wollen? Doch auch ich hatte keine Schuld, als Kind ohnehin nicht und später war ich eben so, wie ich halt bin .
Und wenn ich das für jeden gelten lassen kann, dann gibt es auf der inneren Ebene keine Schuldzuweisung mehr.

Ja, es wäre schon etwas leichter für die Opfer, würden Täter zu ihrer Schuld stehen. Es wäre auch wünschenswert, denn gerade Kinder übernehmen die Schuld für das, was ihnen zugefügt wird. Darum ist auch das Verhalten der Zeugen so wichtig, bzw. später die Haltung des Therapeuten und des Umfeldes. Es ist einfach wichtig, dass Schuld festgestellt und benannt wird, damit das Opfer sie leichter beim Täter lassen kann.
Aus einer solchen Verwirrung heraus halten manchmal ehemalige Opfer dann die Schuld, die sie ihrerseits auf sich laden, für ausgeglichen angesichts dessen, was sie selbst erlitten haben.
Klarheit bringt jedoch nur, und damit auch die Möglichkeit zu ethischem Handeln und ehrenhaftem Umgang mit eigenen Taten, sich auf das eigene menschliche Gewissen einzulassen und die Gewissensarbeit der anderen loszulassen. Das bedeutet auch, sich nicht länger um die Schuld eines anderen zu sorgen und sie bei ihm zu lassen, ganz gleich, ob er sie nimmt oder nicht. (Symbolhafter Vollzug in der Aufstellungsarbeit!)
Und es bedeutet, die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen, ganz gleich was man erlitten hat.

Ich denke ohnehin daß auf der seelischen Ebene Verletzungen und Verstöße gegen die innere Ethik sehr wohl bemerkt werden und auch ein Ausgleich dafür gesucht wird.

Genau davon spreche ich :umarmen:
Und wieder sind wir bei der Aufstellungsarbeit, die wie keine andere Methode Klarheit in und Umgang mit solchen, sich überlagernden ethischen Regeln bringen kann.
Und die, dank Hellinger, mit missbräuchlichen, oft religiös bestimmten, Vorstellungen aufgeräumt hat. Zum Beispiel mit der Idee, Autoaggression und Verzicht auf Lebensglück gleiche eine Schuld aus. Oder Schuldige seien Freiwild für Empörte.
Statt dessen kam die Übernahme der eigenen Verantwortung, auch rückwirkend durch die Generationen, die Versöhnbarkeit und der Ausgleichsgedanke mit Schwerpunkt "Ausgleich im Guten", (auch gegenüber Dritten, wo man dem Opfer nichts geben kann) bzw. auf Deeskalation hinwirkendem "Ausgleich im Schlechten" (nur zwischen Opfer und Täter!) der stets etwas geringer ausfallen sollte.
Mir geht es da nicht um Worte, sondern um Haltungen.

Und um Mitgefühl als Wirkung auf die, die (noch) nicht in Kontakt mit ihrem Mensch-Sein gekommen sind. Spüren sie sich, spüren sie auch, was sie getan haben.
Und dann kann ein guter Weg entstehen.


Lieber Gruß,
Eva
 
@Eva: was mir heute im Wald dann noch eingefallen ist: wenn ich zulasse, als erwachsener Mensch, daß ich mißbraucht werde, dann bin ich doch auch gleichzeitig Täterin. Also in dem Augenblick, wo ich erkenne, ich werde auf die eine oder andere Art mißbraucht, und ich es geschehen lasse, dann mißbrauche ich den Täter und mache ihn zum Opfer meiner eigenen Mißbrauchsgeschichte. Solange ich es nicht bemerke, trage ich dafür keine Verantwortung, aber in dem Moment, wo ich es weiß, eben schon.
Klingt wahrscheinlich gewagt (und ich denke da auch nicht an gewalttätige Aktionen, in denen es evtl. um ein Menschenleben geht).

Liebe Grüsse, Alana


Liebe Alana,

mir fällt da spontan der Wiederholzwang ein. Natürlich ist es möglich, Autoaggression zu delegieren. Das ist dann meiner Ansicht nach schon ein Missbrauch und vor allem wirst du an dir selbst schuldig.
Das schmälert aber nicht die Schuld des Täters, der ja für seine Handlungen dennoch voll verantwortlich bleibt, weil er sich entschieden hat, so zu handeln.
Selbst wenn beide aus ihrem subjektiven Erleben heraus nicht anders handeln können, ist es m.E. ein Anfang, sich der eigenen Schuld bewusst zu werden.
Und wieder sind wir bei den Konsequenzen der Schuld!
Hättest du es, wenn du es zulässt, dass man dir weh tut, verdient, so behandelt zu werden, gäbe es ja keinen Anlass, irgendetwas an der Situatuion zu ändern. Siehst du dagegen klar, was du da tust, bzw. zulässt, findest du vielleicht auch die Kraft, aufzubrechen.
Anders aber, wenn ein Machtgefälle besteht, gar ein so extremes wie zwischen Eltern und Kindern!

Zu deinem Beispiel mit dem Wald:
Nutzt jemand seine Übermacht oder einen Überraschungs-/Überrumpelungsvorteil und die Tatsache, dass keine Zeugen vorhanden sind aus, um dich z.B. zu vergewaltigen, ist das ein gravierender Verstoß gegen die Menschlichkeit. Schuld entsteht.
Hattest du einen (zu) kurzen Rock an, mag das der Selbstbeschwichigung des Täters entgegen gekommen sein, aber selbst wenn du nackt allein im Wald stehst, bist du nicht schuld, wenn dir jemand gewalt antut. Du wirst dich allerdings fragen müssen, wie so ganz allgemein und grundsätzlich dein Mitgefühl mit dir selbst und deinen elementaren Bedürfnissen beschaffen ist ;)

Halten wir noch fest: Missbrauch und Vergewaltigung sind nicht etwa sexuelle Spielarten, die zufällig verboten sind, sondern sexualisierte Gewalt. Diese Form der Gewalt zielt mehr als jede Andere auf die Seele des Opfers und zieht Gewinn aus einer extremen Diskrepanz zwischen Macht und Ohnmacht.
Das eigentliche Motiv ist nicht Geilheit, sondern Zerstörung. Darum geht es auch nicht als Mitschuld durch, wenn jemand einen kurzen Rock oder ein bauchfreies Top trägt oder allein im Wald spazieren geht.

Lieber Gruß,
Eva
 
Sowas ist sicherlich nicht die Regel, aber u.a. deshalb denke ich, dass es DEN Weg mit „Täterschaft“, „Schuld“ oder „Opfersein“ umzugehen nicht gibt..


Liebe nizuz,

da sagst Du etwas sehr Wichtiges und Richtiges.

Dieses Thema von "Schuld", "Täter" und "Opferdasein" ist offensichtlich mein Lebensthema und ich habe mich damit sehr auseinander gesetzt.

Wie einige von Euch wissen, wurde mein Mann ermordet. Es gab mehrere Prozesse, das ganze zog sich über Jahre und ging wirklich an die Substanz.

Mit dem Täter hatte ich weder Mitleid noch Mitgefühl, das gestehe ich gerne zu. Aber ich fühlte auch keinen Hass (ganz im Gegensatz zu meinen Söhnen...).
Wohl aber hatte ich Mitgefühl mit seiner Lebensgefährtin. Obwohl sie alles versuchte, ihm ein (falsches) Alibi zu geben, war diese Frau genau so ein Häufchen Elend wie ich und genau so Opfer.
Sie konnte es einfach nicht glauben, dass dieser Mensch, mit dem sie viele Jahre ihres Lebens teilte, so eine Tat begangen haben soll.

Heute, viele Jahre später, denke ich noch oft an sie und irgendwie möchte ich nicht mir ihr tauschen.
Ich kann zwar nur mehr das Grab besuchen, aber ich habe abgeschlossen.
Sie wird es wohl nie können, denn er sitzt noch viele Jahre im Gefängnis.

lg
Sunny
 
Liebe Eva,

Verstöße und Verletzungen möchte ich nicht mehr mit "Schuld" betiteln. Einfach deshalb, weil , wie wir wissen, auch Täter Opfer sind und Opfer zu Tätern werden können. Es sind einfach Handlungsweisen , die wir nicht verstehen können, die uns wehtun , und oft warten wir (lange und umsonst) darauf, daß der Täter/die Täterin das irgendwann doch erkennen müßte, wie verletzt wir wurden, weil sie es doch waren und weil sie "Schuld daran" sind. Wenn ich aber davon ausgehe, daß der Täter so gehandelt hat, weil er eben so IST - wie kann ich ihm dann irgendeine Schuld geben? Ich kann dann sehen, daß ich verletzt wurde, daß es niemals mehr ungeschehen gemacht werden kann, gleich ob der Täter erkennt was er getan hat oder nicht, daß es auch keine Wiedergutmachung dafür geben wird von ihm - und dann? Dann kann ich weitergehen. Ohne Schuldzuweisung für irgendjemanden.
Das konnte ich lange nicht, ich habe immer gehofft, daß einer der "Täter" in meinem Leben das auch sehen würde und dieses Erlösungswort sprechen würde: "ich habe dir sehr wehgetan". Doch das ist nie passiert. Und das hat mir gezeigt, daß da kein Bewußtsein war von Schuld im anderen, höchstens in mir, weil ich mich so fühlte - denn ohne Schuld, wie hätte mich jemand so verletzen wollen? Doch auch ich hatte keine Schuld, als Kind ohnehin nicht und später war ich eben so, wie ich halt bin .
Und wenn ich das für jeden gelten lassen kann, dann gibt es auf der inneren Ebene keine Schuldzuweisung mehr.

Liebe Alana!

Ich sehe das genauso und interpretiere Deinen Absatz anders als Melodie.

Jeder Mensch handelt so, wie er aus der Summe seiner bis zu diesem Zeitpunkt gemachten Erfahrungen handeln muss.

Schuld per se ist eine Definition, die meistens von außen bzw. vom Gegenüber vergeben wird, eine Bewertung der Handlung aus der Sicht des ANDEREN, der völlig andere Erfahrungen gemacht hatte und dementsprechend anders gehandelt HÄTTE. Es ist aber ein großer Irrtum zu glauben, man könnte nun aus SEINER Position heraus die Handlung des anderen be-ur-teilen. Denn man ist nicht in seinen Schuhen gelaufen, keinen Meter weit.

Wenn ich z.B. in den Slums aufgewachsen wäre und als Kind schon in der Straße gelernt hätte, wie man durch geschicktes Stehlen überleben kann - bin ich dann schuldig, wenn ich stehle? Hätte es denn - wirklich realistisch betrachtet - einen anderen Weg FÜR MICH gegeben?

Anders ausgedrückt: Hätte ich tatsächlich dieselben Wahlmöglichkeiten gehabt, wie ein anderer, der mich "schuldig" nennt? Ist dieser andere, der mich ver-ur-teilt, in meinen Schuhen gelaufen? An meiner Stelle geboren worden, hatte er meine Erfahrungen gemacht und damit meine Wahlmöglichkeiten gehabt?...

Jeder, der moralisiert, "Schuld benennen möchte", glaubt, die Erfahrungen des anderen und damit dessen Lebensweg ignorieren zu und seinen eigenen Lebensweg und Pott an Erfahrungen darüberstülpen zu können.

Das wäre ähnlich, wie wenn zwei Menschen in zwei verschiedenen Orten spazieren gingen und der eine meint, der andere müsste doch dieselben Häuser gesehen haben wie er.:rolleyes:

Das funktioniert nicht.

Man kann immer nur durch seine eigenen Augen sehen, aus seinen eigenen Erfahrungen heraus die Konsequenzen ziehen.

Im Grunde genommen ist eine verbale Verletzung, die Dir jemand anderer zufügt nichts anderes als ein Missverständnis (ich bleibe nun bewusst bei einem Beispiel, wo es um verbale Verletzungen geht, um das Thema nicht durch Beispiele wie Missbrauch oder ähnliches zu polemisieren).

Ein Missverständnis deshalb, weil Information nicht fließen konnte. Der eine hatte den anderen nicht verstanden, weil jeder aus seinen eigenen Erfahrungen heraus handelte. Und erst dann, wenn Information fließen kann, kann jeder der beiden erklären, wie er es gesehen hatte - und die Verletzung löst sich auf, weil sie *eigentlich* nie da war.

Nie da im Sinne von nicht beabsichtigt, aber so empfunden. Zwei Menschen, zwei Lebensläufe, zwei verschiedene Erfahrungspools, zwei Paar Schuhe, in denen gelaufen wird.

Liebe Grüße
Suena

P.S. Sunny, ich ziehe meinen Hut vor Dir - ich denke, Du verstehst meine Gedanken zu dem Thema sicher - denn bei Dir spürt man, dass Du es schaffst, Dir den Weg von anderen anzusehen und NICHT zu verurteilen.
 
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Im Grunde genommen ist eine verbale Verletzung, die Dir jemand anderer zufügt nichts anderes als ein Missverständnis (ich bleibe nun bewusst bei einem Beispiel, wo es um verbale Verletzungen geht, um das Thema nicht durch Beispiele wie Missbrauch oder ähnliches zu polemisieren). .

Liebe Suena,

die Missverständnis-These funktioniert bei schweren Verstößen gegen die Menschlichkeit nicht mehr. Vielleicht musst du die deswegen ausklammern?
Wenn es sich tatsächlich um ein Missverständnis handelt, entstehen zwar Verletzungen aber die fügt sich in dem Fall jeder selber zu.
Da sehe ich keine Schuld.

Lieber Gruß,
Eva
 
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