Engel auf brücken weinen nicht / 2

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ricochet

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Ein Jahr später. Hubert befand sich auf der Brücke. Unschlüssig ging er auf und ab. Julia trat von der anderen Seite heran und fragte: „Was ist denn heute los mit dir, Hubert? Du schaust so nachdenklich. Stimmt was nicht?“
Verlegen sagte Hubert: „Nein nein, es ist nicht wegen mir. Bei mir ist alles in Ordnung. Es ist eher wegen Claudia.“
„Oho, es hat dich erwischt,“ meinte Julia. Offenbar freute sie dieser Umstand. „Eine Freundin! Na, dann schieß mal los.“
„Ich habe sie beim Tanzen kennengelernt. Sie war echt die tollste Frau auf der Party. Alle beneiden mich um sie. Jetzt sind wir sind gerade drei Monate zusammen und dann das ... Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber.“
Julia sagte: „Das kann ich gut verstehen. Ich sehe schon, du brauchst Zeit, dir klar zu werden. Verschieben wir es doch um ein Jahr. Die Brücke wird dann immer noch da sein. Wie du schon vorletztes Jahr gesagt hast, läuft ja nichts davon.“
„Wie du meinst.“


Ein Jahr später. Hubert tauchte auf der einen Seite der Brücke auf. Eine Frau mittleren Alters mit burschikosem Pagenschnitt war an seiner Seite. Als sei ihr nicht recht wohl zumute, hielt sie Huberts rechte Hand.
„Aha“, sagte die Frau als sie ungefähr in der Mitte der Brücke hielten. „Hier also treibst du dich alljährlich herum! Und wo ist diese ominöse Julia?“
Julia näherte sich gerade vom anderen Ende der Brücke. Hubert sagte: „Julia, das ist Claudia, Claudia, das ist Julia.“
Verblüfft fragte Claudia: „Mit wem redest du denn da eigentlich? Da ist niemand.“
„Aber da steht sie doch!“, protestierte Hubert indem er auf die Stelle zeigte, an der Julia stand. Claudia sah ihren Freund entgeistert an. Da kam Hubert ein Verdacht. Konnte Claudia Julia vielleicht gar nicht sehen? Ja, das musste es wohl sein. Damit hätte er allerdings nicht gerechnet.
Und schon hörte er Claudia weiter: „Ich weiß nicht, was das soll, mein Lieber, aber die Gruselshow kannst du ohne mich abziehen. Ich gehe wieder nach Hause. Und du solltest dir überlegen, was du mir alles zuzumuten gedenkst.“
Und schon eilte sie in die Richtung, aus der sie mit Hubert gekommen war. Betreten blieb dieser zurück. Da meldete sich Julia: „Deine Freundin einzuweihen war keine gute Idee und sie hierher zu bringen schon ganz und gar nicht.“
„Und was meinst du, soll ich nun machen?“, fragte Hubert. Er war in der Tat ratlos. „Ach ja, ich bin doch immer wieder aus einem bestimmten Grund hier. Augenblicklich bin ich grade in bester Stimmung dazu.“
„Keine Frage“, entgegnete Julia, „allerdings könntest du dich genauso wieder einmal nützlich machen. Ist Claudia mit der Gegend vertraut? Wird sie im stockfinsteren Wald nach Hause finden? Wahrscheinlich wird es in Kürze zu regnen anfangen. Solltest du ihr nicht helfen?“
Klar, da war etwas dran! Schnell drehte sich Hubert um und rief: „Claudia, warte!“


Ein Jahr später. Erleichtert stellte Julia fest, dass Hubert diesmal ohne Claudia gekommen war.
Hubert schien etwas zu bedrücken. Er sagte: „Also das mit Claudia habe ich letztes Jahr mit Mühe und Not wieder hingekriegt. Ich muss dir allerdings sagen, Julia, dass es einfach nicht mehr so ist wie früher.“
„Was meinst du?“
„Ich finde den Anlass, warum ich mich hier mit schöner Regelmäßigkeit einfinde ... ja, lass mich sagen überholt, fast schon lächerlich. Wenn ich daran denke, dass meine Claudia heute ausnahmsweise alleine in ihrem Bett liegt und besser nicht wissen sollte, wo ich mich aufhalte ...
Und die Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken habe ich sowieso nicht mehr. Ich bin seit zwei Monaten verheiratet und Vater von Zwillingen. Außerdem habe ich mir in der Zwischenzeit sehr oft die Frage gestellt, wer du eigentlich bist. Immerhin hat Claudia dich offenbar nicht gesehen.“
„Also wenn ich jetzt einen Hang zur Philosophie hätte, würde ich dir antworten, dass die einzig für dich wichtige Frage die ist, wer du selbst bist, nicht wer jemand anders ist. Ich kenne niemanden, der imstande wäre, auf diese Frage eine vernünftige Antwort zu geben. Du etwa?“
Hubert schüttelte den Kopf. Julia fuhr fort: „Warum sollte das bei mir anders sein?“
„Und wenn du nur eine Halluzination bist?“
„Dasselbe könnte ich von dir behaupten. Für mich ist das recht einfach. Jedes Jahr einmal kommst du von der einen Seite der Brücke, ich von der anderen. In der Mitte treffen wir uns für wenige Minuten. Wenn wir Glück haben, machen wir das bei schönem Wetter. Wer immer wir beide sind, so verschieden können wir nicht sein. Sonst wäre das nicht möglich. Genügt dir das nicht?“
Nein, das tat es nicht. Aber Hubert wurde klar, wie wenig Sinn es hatte, das Gespräch in diese Richtung fortzuführen. Lau war die Nacht, ein sanfter Wind wehte sein Haar in das Gesicht.
Hubert atmete tief aus. Dann fragte er: „Julia, was ratest du mir?“
„Du hast von der Freiheit geredet, dich von dieser Brücke zu stürzen. Du hast vollkommen recht, aber Freiheit bedeutet auch, es nicht tun zu müssen. Triff deine Entscheidung.“
„Ich werde nicht mehr kommen“, flüsterte Hubert. Zu seiner Überraschung fühlte er so etwas wie Wehmut in sich.

Dreißig Jahre später. Hubert lag infolge eines Herzinfarktes im Krankenhaus. Über Drähte und Sensoren war er an einen Apparat angeschlossen, der penibel seine Lebensfunktionen überwachte. Auf einem Display waren die wichtigsten medizinischen Werte abzulesen: Atem, Puls, Gehirntätigkeit.
Spät am Abend lag das Zimmer im Halbdunkel. Die Nachtschwester war am anderen Ende des Ganges mit dem Ordnen diverser Unterlagen beschäftigt. Schwer atmend öffnete Hubert die Augen und sah Julia auf der Bettkante sitzen. Sie sah noch genauso aus wie damals. Wie erfreulich!
Während Julia liebevoll seine Hände in die ihren legte, sagte sie lächelnd: „Früher kamst du zu mir, heute ist es umgekehrt. So ändern sich die Zeiten.“
Mühsam flüsterte Hubert: „Danke, dass du hier bist. Heute, nach so vielen Jahren, kann ich es dir sagen: Ich wollte damals gar nicht sterben.“
„Ich habe es immer gewusst“, entgegnete Julia. „Leute, die es wirklich nach dem Freitod verlangt, verhalten sich anders. Es war so eine Art metaphysischer Katzenjammer, der dich auf die Brücke geführt hat.
Aber das spielt alles keine Rolle mehr. Du bist jetzt in Pension. Seit über drei Jahrzehnten hast du alte, kranke Leute gepflegt. Jetzt bist du selbst alt und krank. Claudia ist gestorben und deine Kinder leben ihr eigenes Leben. Du hast deinen Teil zum großen Ganzen geleistet. Nun ist es an der Zeit. Das ist der natürliche Weg der Dinge.“
„Du meinst, ich kann mich ohnedies nicht mehr nützlich machen?“ Hubert versuchte zu grinsen.
„So ist es.“
Hubert war völlig klar, wie recht seine Besucherin hatte. Da fühlte er auch schon ein tiefes Fallen. Die Anzeigen des Apparates schlugen jäh in den roten Bereich um. Notfall!!! Julia legte ihre linke Hand auf den Apparat. Nein, kein Alarm, sie sollten Hubert nicht mit allen Tricks zurückholen. Er sollte seine Entscheidung treffen dürfen, so, wie er es immer beabsichtigt hatte. Die Anzeigen pendelten sich wieder im grünen Bereich ein, doch das Fallen in Hubert nahm seinen Lauf.
Mit der rechten Hand schloss Julia die Augen des Patienten. Hubert fand sich auf der Brücke wieder. So ähnlich wie früher war sein Körper wieder jung und kräftig. Selbst geistig fühlte er sich wieder auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit. Es war wie an einem späten Abend im Mai. Wie immer spannte sich die Brücke in weitem Bogen über die Schlucht. Dunkelheit verschluckte den Boden tief unter der Brücke, wo verhalten der Bach gluckste. Lauer Wind wehte aus Süden und trug aus den angrenzenden Wäldern den Duft blühender Bäume und Sträucher herbei. Und Julia war auch zugegen. Wie atemberaubend und zugleich anmutig war sie, überschüttet mit Mondlicht!
Hubert deutete von der Brücke in die Schlucht hinunter und sagte: „Du meinst, jetzt ...?“
„Ja, aber nicht da. Das war nie der Weg. Solange jemand springen will, ist es der gewaltsame, nicht der natürliche Gang der Dinge. Das ist er erst dann, wenn jemand gehen will. In Wirklichkeit musst du nur auf die andere Seite hinüber. Doch triff deine Entscheidung. Du weißt schon, als logische Konsequenz rationaler Überlegungen, kraft deines freien Willens als souveräne Handlung im vollen Besitz deiner physischen und psychischen Kräfte.“
Hubert fühlte in sich hinein. Es war ihm, als fiele er immer noch. Und schon fand er sich auf dem Weg zur anderen Seite der Brücke. Er hielt ein.
„Was ist los? Du zauderst?“, hörte er Julia hinter sich. „Es wird nicht weh tun. Das verspreche ich dir.“
Julia blieb zurück. Lange sah sie Hubert nach ... Hätte dieser sich jetzt umgedreht, hätte er zwei mächtige Schwingen an Julias Rücken gesehen, die im Mondlicht silbern schimmerten.
Julia hatte mit Hubert philosophiert, mit ihm getrunken, ihm das Leben gerettet. Und er hatte ihr seine Frau vorgestellt und nun war er gegangen. Langsam löste sich der Umriss seines Körpers in der Dunkelheit drüben auf. Am Ende einer kleinen Ewigkeit war Hubert verschwunden. Ja, ihm hatte es nicht weh getan, da hinüber zu gehen, aber Julia. Trotzdem sah sie ihm lächelnd nach, denn Engel auf Brücken weinen nicht.
 
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oh mein gott war das schön....

ich danke dir vielmals, dass du diese wundervolle geschichte mit uns teilst.

dies zu lesen entlockte mir ein seufzen und löste ein kopfkribbeln aus...

alles liebe für dich von noney:danke:
 
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