Der Tod . . .

Midian

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8. Juni 2005
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Graz
Der Tod

Viele Namen habe ich. Ich geleite Menschen zur Brücke. Ich selbst bin noch nie über sie gegangen. Denn die Brücke führt nur in eine Richtung und niemand kommt jemals zurück.

Der Himmel ist schwarz. Regen fällt wie Pech und schlägt auf den Waldboden ein. Schwere Äste biegen sich im Wind und graue Blätter wirbeln über die Lichtung. Aber es ist warm. Sie liegt vor mir im Dreck. Das einmal weiße Kleid klebt schmutzig an ihrem Körper. Rote Blasen platzen um ihren leicht geöffneten Mund und verwandeln sich in einen kleinen schaumigen Rinnsal, der an ihrer linken Wange entlang kriecht, um vom Ohr in das Gras zu tropft. Ihre Finger streichen unentwegt rhythmisch über die Stirn. Die Augen starren weit aufgerissen in die Dunkelheit, reagieren nicht mehr auf die dicken Tropfen. Unmerklich hebt und senkt sich der Brustkorb, rasend schnell wie der eines getretenen Tieres.

Sie muss sehr schön gewesen sein. Der Regen wischt den Schlamm langsam aus dem weißen Gesicht. Die schwarzen Haare scheinen wie Wurzeln mit dem Erdboden verwachsen zu sein. Dicke Augenbraun rahmen die dunklen Augen und die zitternden langen Wimpern. Ich streichle mit meinen Blicken ihren Körper - streife entlang bis zu den schlanken nackten Füßen. Seltsam verdreht und teilweise von Zweigen verdeckt, liegen die langen Beine. Sie lebt noch und ich töte niemanden. So habe ich Zeit sie zu betrachten. Ich werde nur zu Vollendetem gerufen und niemals interessiert mich der Hintergrund. Aber warum kam ich heute zu früh?

Es scheint als würde sie mich anstarren. Nein, unmöglich! Man kann mich nicht sehen. Ich bin nicht wahrnehmbar! Ihre Pupillen sind geweitet und bilden eine Öffnung zu ihrer Seele. Wie ein Stich ins Herz trifft mich ihre plötzliche Berührung. Warme Schauer durchlaufen meinen Körper. Ich fühle. Unmöglich, denn niemals fühlte ich zuvor. Ihre Hand klammert sich um mein Bein. Sie ist heiß. Noch nie spürte ich einen Menschen. Panisch befreie ich mich durch einen Schritt zurück. Sie zittert und dreht ihren Kopf in meine Richtung. Ein Blitz erhellt die Welt um uns und im Bruchteil einer Sekunde schließt sie ihre Augen.

"Nein!" will ich schreien. Ich springe vorwärts und knie mich neben ihren Körper, umklammere ihren Hals, lege meine Lippen auf die ihren und versuche so den herannahenden Tod zu stoppen. Meine Tränen mischen sich mit denen des Himmels und ihrem Blut. Ihr Mund ist weich und warm. Ein süßer Duft vermengt sich mit dem würzigen Aroma des nassen Waldes. Wie verzaubert glätte ich ihr Haar. Ein wuchtiger Donnerschlag stört das Rauschen des Sturms in dem Moment ihres Todes. Verzweifelt umarme ich ihren Köper. Ziehe sie nach oben. Das Haupt fällt leblos nach hinten.

Ich hebe sie auf, trage sie zur Brücke und gehe über sie. In hellem Licht tauchen wir in eine andere Dimension.

Viele Namen hatte ich. Ich geleitete Menschen zur Brücke. Nun ging ich selbst über sie. Denn die Brücke führt nur in eine Richtung und niemand kommt jemals zurück.

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Diese Geschichte hab ich mal irgendwo gefunden und sie hat mir total gut gefallen ;-)

lG, Midian
 
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