Blick vom Tellerrand Satiren für jede Gelegenheit


Kleinste Geschäfte

24. Mai
Ist jetzt der leichtfertige Umgang mit menschlichen Bedürfnissen schon unmenschlich oder einfach nur unappetitlich.


Heute, die dürre Nachrichtenlage hatte mir mächtigen Durst gemacht, begab es sich, dass ich mich in das örtliche Bistro zu Alfred, unserem mehrfach nutzbaren Gastgeber, begab.
Dort angekommen, erfahre ich, dass die örtliche Gerüchtelage noch weniger zu bieten hat und geselle mich folgerichtig zu den Hardcore-Trinkern im linken Mittelgrund des Lokals. Wir vertreiben Alfred mit seinem sterilen Wischtuch und spielen weiter mit den bunten Überresten diverser, verschütteter Drinks auf den umgebenden Tischplatten.
»Udo macht daraus Kunst.«, stellen wir im Chor fest und ordern bei Alfred neues Material.
Schließlich habe ich mich austrittsreif getrunken und suche die dafür vorgesehene Örtlichkeit auf. Leider verwechsle ich die dekorative Henne auf der falsche Türe mit dem für mich zuständigen Hahn, und trete, den vorderen Reißverschluss meiner Jeans vorbereitend öffnend, mitten in eine Gruppe weiblicher Wesen. Sie unterbrechen sofort ihre, sich mir nicht erschließenden Aktivitäten und mustern mich von oben bis unten, wobei meine derangierte Mitte die meiste Aufmerksamkeit erhält.
Ich friere, die abdeckenden Hände an der Reißverschlussnaht, zur Schamstudie ein. Meine Erziehung schreit: »Flucht« und Udos Art der flüssigen Kunstausübung flüstert heiser: »Zeig dich ihnen!«
Dann gewinnt natürlich die Erziehung, ich zerre und klemme gleichzeitig ein, werde rot und heiß, werfe verlegen entschuldigend ein »Huuuch« hin, pralle im Umdrehen fullspeed gegen die inzwischen geschlossene Tür und bin endlich wieder draußen auf dem Gang.
Hinter der richtigen Tür dann befreie ich den eingeklemmten Slip aus den scharfkantigen Metallzähnen und stelle mich an. Die Schlange vor der Rinne dürfte zu den ausgewachsenen Exemplaren dieser Spezies zählen. »Wo kommt ihr denn alle her?« treibt es mir der urologische Druck über die Lippen: »Könnt ihr das nicht zu Hause?«
»Nein!« antwortet es vielstimmig gequält.
»Und warum nicht?«, versuche ich mich von der Dringlichkeit meines Bedürfnisses abzulenken.
Der ältere Herr vor mir dreht sich um, ich erkenne Dieter, unseren vorzeitlich eingestellten Unternehmer. Er erläutert: »Unsere Company hat die Toiletten outgesourcet.«
»Was soll das heißen?«
»Naja, wir haben einen Vertrag mit Alfred gemacht. Alfred stellt, gegen einen Pauschalbetrag, der Firma seine sanitären Einrichtungen zur Verfügung.«
»Und wozu soll das gut sein?«, frage ich, während ich durch schnelle Lastwechsel von Stand- zu Spielbein und zurück meiner Blase baldige Erleichterung fälschlich in Aussicht stelle.
»Da wäre der Wegfall des Kostenrisikos. Denk mal an mögliche Lebensmittelvergiftungen und ihre dramatischen Folgen für die üblichen Verbrauchsmaterialien. Dann hätten wir eine nicht zu vernachlässigende Platzersparnis, im ehemaligen Buchhalterklo residiert demnächst unsere Forschung & Entwicklung rund um ihren IT-Inder. Endlich Raum für Innovation. Schließlich ist da noch der Umweltaspekt.«
»Der was?«, und die Beibehaltung meiner üblichen, trockenen Aussprache fordert die letzten Konzentrationsreserven.
»Umweltaspekt. Mit zunehmender Entfernung nimmt die Anzahl der vorgeblich dringenden Geschäfte signifikant ab. Somit fällt weniger an. Und die Umwelt wird nachhaltig entlastet. Durch diese Beschränkung auf wirkliche Notdurft erhalten wir übrigens, trotz längerer Wegezeiten im Einzelfall, mehr Arbeitsleistung, kurz, der Deal mit Alfred rechnet sich.«
Ich halte es nicht mehr aus und schlage mich energisch zur Rinne durch. Die folgende Erleichterung setzt mein Denken wieder in Gang und ich frage über die Schulter: »Und deine Mitarbeiter? Was halten die davon?«
»Was sollen die schon davon halten. Die müssen ja schließlich.«

;)

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Hauptsache dass...!

27. Mai
Es gibt viele Wege berühmt zu werden. Welchen man wählt, bleibt sich gleich, alle sind sie aber bei uns lang und verlangen Ausdauer.


Heute, ich hatte beschlossen, nach den aus den Satiren verschwundenen Parteien zu suchen, treffe ich auf der Hauptstrasse einen für unsere bescheidenen Verhältnisse unmäßigen Stau.
Neugierig erkunde ich die Fortsetzung der Autoschlange, während mir der alte Unterschied zum Tierreich einfällt, der in der Anordnung des wesentlichen Ausscheidungsorgans bestehen soll, was im Klartext bedeutet, dass bei der Schlange das ********* hinten sitzt.
Im weiteren Verlauf stelle ich Berechnungen über den volkswirtschaftlichen Schaden durch die im Stand nutzlos laufenden Motoren an und errechne Beträge, die selbst für den kleinen Hans, unseren treuen Kassenwart, keine Peanuts mehr sein dürften, aber der Hans verdient natürlich auch so mit und richtig, er sitzt vor dem Bistro mit einem Taschenrechner und addiert erfreut seine unerwarteten Einnahmen.
Die Schlange folgt der für die mittelalterliche Dorfverteidigung unverzichtbare und deshalb heute geschützte, scharfen Biegung am Markt und beginnt unvermittelt am Zebrastreifen vor dem Rathaus.
Hinter einem umfangreichen Auflauf erahne ich Besonders, wozu das nachlässige Transparent vor dem Bürofenster des Bürgermeisters beiträgt. Rekordversuch!!! steht da in, die Farbe nicht halten könnenden, abtropfenden Buchstaben, der weitere Text bliebt mir mangels Blickkontakt unerschlossen.
Ich tue also das, was seit der letzten geistig-moralischen Wende jeder tut und dränge mich vor. Unterwegs begegne ich Helmut, unserem infolge medialer Fehlinterpretationen weithin bekannten, örtlichen Gendefekt. Der murmelt vor sich hin: »Hab‘ ich das gewollt? Das hab‘ ich nicht gewollt. Hab‘ ich das wirklich nicht gewollt? Das weiß ich nicht. Hab‘ ich das... « Aber wen interessiert schon, was Helmut so denkt.
Schließlich stoße ich zum Fußgängerüberweg durch und auf Jürgen, der infolge einer erfolgreichen, politischen Achterbahnkarriere an den zuständigen Stammtischen einmal jährlich erwähnt werden muss.
»Das ist mir einfach zu wenig!«, ruft er und fordert, wild winkend meinen Beitritt.
Ich folge seiner hektischen Aufforderung und stelle mich neben ihn auf einen der aufgemalten, weißen Streifen. »Hi, Jürgen. Bist du der Anlass...«,mein ausgestreckter Arm schlägt einen umfassenden Kreisbogen: »... für das alles?«
»Na, wer denn sonst?«
»Und was wird das, wenn es fertig werden sollte?«
Jürgen schaut, offen seine Einschätzung meines Verstandes nach unten korrigierend, zu mir auf: »Mein endgültiger Durchbruch. Mein Eintritt in die Geschichte. Mein Ticket in die Ewigkeit.«
»Indem du auf einem Zebrastreifen rumstehst und Bürger behinderst?«
»Was heißt hier stehen?« Jürgen zeigt auf die rundliche Spitze seines linken, vorbildlich polierten Sportschuhs. »Ich bewege mich permanent.«
Ich fixiere den angewiesenen Punkt, kneife unterstützend ein Auge, natürlich das linke, zu und stelle überrascht fest, dass Jürgen vollinhaltlich recht hat, sein Schuh mit seinem Fuß drin und dem zugehörigen Bein dran schieben sich, in gekonnter Nachahmung einer Superzeitlupe, in Zehntels-Millimeter-Rucken über den frisch gereinigten Asphalt. »Ist aber ziemlich langsam.«
»Was mich als eigentlich flinke Person auch ziemlich nervt. Aber große Vorhaben erfordern ungewöhnliche Anstrengungen.«
Ich falle mit Jürgen in einen langsamen, aber immerhin gleichen Schritt: »Du willst den kleinen Hans sanieren?«
»Blödsinn!«, faucht mich Jürgen von unten herauf an. »Ich arbeite an meiner Unsterblichkeit.«
»Indem du auf der Stelle trittst?«
Jürgen belehrt mich mit großer Lautstärke und vollständig: »Mit einem Rekord für die langsamste Straßenüberquerung. Und dass du es nur weißt: In diesem Land ist es egal, welchen Scheiß du machst. Du musst ihn nur lange genug und öffentlich machen, dann wirst du auch wer.«

;)

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Camouflage

31. Mai
Es muss auch hier eine Story über die Bananenrepublik sein.
Schließlich spielen Bananen in unserer jüngsten Geschichte eine tragende? Rolle.


Heute, ich kehre von einem geschäftlichen Kurztrip aus den östlichen Embargoländern zurück, ein gelungenes Kompensationsgeschäft von verbotenem Silizium in Chipform gegen dankbare Parteispenden im Gepäck, begrüße ich jäh den Beton des Vorfelds auf den Knien rutschend, weniger päpstlich als unfreiwillig, ich hatte die fahrlässig herumliegenden Überreste einer Schalenfrucht erst übersehen und dann betreten.
Die nässenden Aufschürfungen beeinträchtigen den Erhaltungszustand meiner akkuraten Bügelfalten und so suche ich einen Herrenausstatter der Oberklasse und eine Sanitätsstation auf, die Sanitäter zuerst.
Nach schriftlicher Anerkennung des Verzichts auf eventuelle Regressforderungen schneiden sie die reine Schurwolle meiner Hosenbeine oberhalb der Kniegelenke ab und ersetzen sie durch eine großzügige Umhüllung aus steriler Baumwolle. »Es ist eine Schande..«, beginne ich, werde aber durch mehrere auf verschlossene Lippen gepresste Zeigefinger nachhaltig des Redens verwiesen. Wir wickeln mich schweigend fertig ein und damit die Hilfeleistung ab und ich richte mich dankbar auf das Geschäft mit den Anzügen aus.
Meinem textilen Verlangen kommt die Ladenbesatzung schnell und professionell nach und so stehe ich, wenige Minuten später, bereits wieder in der Eingangstür. »Passen Sie auf die Schalen auf!«, ruft mir der Inhaber nach.
Der neue Anzug fällt ungewohnt glatt und faltenfrei, die bandagierten Unterschenkel verhaken sich mit den Schläuchen der Hosenbeine, und so abgelenkt übersehe ich wieder eine Bananenschale, falle aber diesmal nach hinten, was zwar schmerzt, mir aber nicht noch einen Kleiderwechsel aufnötigt.
Ich rapple mich mühsam hoch, wobei mein schwarzer Aktenkoffer äußerst nützlich ist, und fluche: »Verdammte Drecksäue. Schmeißen ihr Zeug einfach überall hin!«
Und richtig, überall liegen sie, in den unterschiedlichsten Erhaltungszuständen, von frisch Hellgelb bis schimmlig Dörrschwarz, von ordentlich zusammengefaltet über flüchtig hingeworfen bis gewaltsam flächig verschmiert, überall Bananenschalen. Mindestens jede dritte Bodenplatte scheint mir mit einem dieser Überreste besetzt zu sein, die Halle weist eine Verschmutzung auf, wie man sie sonst nur von öffentlichen Parks im Zusammenhang mit Hundekot kennt.
Ich berechne die Wahrscheinlichkeit einer unfallfreien Durchquerung des Terminals, komme zu dem Schluss, dass sich meine Chancen durch einen Ballastabwurf wesentlich verbessern und pfeife mir einen der Wander-Ossies bei, die in dieser Woche bei uns die Gepäckträger geben. »Hier.«, drücke ich ihm Koffer und Reisetasche in die Hände: »Zum Taxistand.«, und lasse ihn, den Träger, nach bester Generalsmanier voraus durch dieses Schalenfeld gehen. »Immer in die Fußstapfen des Vorgängers treten.« weise ich mich an und so gelangen wir ohne weitere, destabilisierende Vorkommnisse vor die Tür.
Dort setzt sich die Verunreinigung fort. »Ich war kurz ein paar Tage weg. Was ist denn hier passiert?«, frage ich meinen Kofferträger.
»Das weiß keiner so recht. Man munkelt, dass das unsere Strafe sei. Dafür, dass wir uns unsere Revolution für eine paar Hände voll von diesem Zeug...«, er kickt eine Schale vor ein eh schon rutschendes Taxi: »... haben abkaufen lassen. Aber sicher ist nichts.«
»Hört sich plausibel an. Wenn auch ein wenig spät und umständlich.« Ich steige in das Taxi und lasse mich zu meinen Auftraggebern fahren.
Dort klopfen wir uns ausdauernd gegenseitig auf die Schultern, dann zählen wir den Inhalt meines Aktenkoffers und gehen zu Champagner über.
Nach den ersten, schnell getrunkenen Gläsern frage ich: »Was ist das eigentlich für eine Scheiße mit den ganzen Schalen da draußen? Hat mich einen gut eingetragenen Anzug und eine Menge eigener Haut gekostet.«
Die Gruppe meiner honorigen Auftraggeber bricht in ein unangebrachtes Lachen aus. Nachdem sie sich beruhigt haben, erklärt mir der Boss: »Entschuldigung. Aber das ist einfach die reinste Ironie. Deine Reise hat hier ziemlich Staub aufgewirbelt und das Wort von der Bananenrepublik ging mal wieder zügig in der Öffentlichkeit um. Also haben wir dafür gesorgt, dass der Wortsinn für Jedermann sichtbar erfüllt wurde und überall Bananenschalen verteilt. Und ausgerechnet du rutscht auf einer unserer Tarnschalen aus.«
»Womit klar wäre, dass ein sauberes Staatswesen durch nichts zu ersetzen ist.« Wir lachen herzlich über diesen, meinen, gelungenen Scherz.

;)

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Klassengemeinschaft

3. Juni
Die moderne Gesellschaft verlangt die unentwegte Bereitschaft zur Fortbildung von uns.
Selbstverständlich unter kundiger Führung.


Heute, ich komme am späten Abend meinem für das Überleben notwendigen Sechst–Job als unqualifizierte Ladehilfskraft eines internationalen Logistikunternehmens mit zweifelhafter Vergangenheit nach, werden wir von unserem Tourboss zum Schweigen vereidigt: »Dieser Job, den wir jetzt gleich anfangen, hat nie stattgefunden. Und wer immer auch anderes behaupten mag, der lügt. Klar?« Wir nicken bestätigend. »Gut.«, raunzt unser Boss: »Also immer schön die Schnauze halten.«
Über die nachtdunkle Laderampe, die sonst dem verdeckten Versand anonymer Päckchen aus dem Bereich Lustspielzeuge dient, werden uns mühsam unhandliche Kisten gereicht, die wir sorgfältig an den Wänden unseres Lieferwagens stapeln. Es ist schwülwarm und unsere nackte Haut außerhalb unserer armlosen Feinripp-Unterhemden glitzert bald intim feucht, die ins riesenhaft verzerrten Schatten der schwärmenden Insekten auf der Umlaufbahn um die einzige Laterne in der Umgebung wischen über uns hinweg, bringen aber auch keine irgendwie immer geartete Erfrischung, im Kofferaufbau unseres Wagens steigt frischer Schweißnebel und legt sich auf die Schroffen der türmenden Kartons.
Unser Boss feuert uns an: »Macht hin, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit. Und immer dran denken, das hier hat nie stattgefunden.« Hoffentlich weiß das auch der wachsende Schmerz unserer ausgedörrten Muskeln und vergisst.
Dann endlich dehnt sich die plötzliche Pause im Nachschub zur Gewissheit der Vollständigkeit der Ladung, wir schlagen erst die überhohen Hecktüren des Aufbaus und dann die Seitentüren der vorlichen Doppelkabine zu. In der Kabine herrscht peinliches Gedränge, unserer schlanker Team-Youngster sitzt auf meinem Schoß, und wir stellen in der schweiß-dampfenden Atmosphäre zweiseitiges Interesse fest. Bevor wir aber diese überraschenden Regungen forschend vertiefen können, trennt uns die Ankunft.
Ich erkenne im ungewissen Licht einer gedimmten Straßenbeleuchtung das Haus von Gerhard, unserem mediengerechten Kreisvorsitzenden. Eine Frau öffnet unserem Boss die Tür, es könnte Doris sein, aber ihr Blond erlischt für rechte Gewissheit zu schnell im Dunkel des unbeleuchteten Hausflurs. Unser Boss geht zur naheliegenden Doppelgarage und startet das Öffnen des großzügig geschnittenen Tors. »Hier hinein.«, ordnet er an und zeigt auf die leere Seite neben dem einzelnen Golf.
Während die Kollegen den Aufbau öffnen, versuche ich durch Handauflegen beim Kollegen die Regungen vom Rücksitz in der Kabine zurückzuholen, aber der Moment ist vorbei und wir schultern, verlegen ablenkend, energisch die zugereichten Kartons.
Wieder näßt uns schnell der Schweiß. Mein Griff wird rutschig unsicher und so kommt, was Hetze gewöhnlich mit sich bringt, der aktuelle Karton reißt erst um meine Hand herum ein und dann aus, überschlägt sich und landet mit der Oberseite nach unten auf dem ökologisch korrekten, durchlässigen und -wachsenen Verbundplaster.
Als ich mich bücke, fällt ein nasser Tropfenvorhang von meiner Stirn und nimmt der Pappe die letzte Formstabilität. Der Karton öffnet sich wie eine überreife Nachtlilie und gibt sein verborgenes Innerstes, grellbunte Videokassetten, frei.
Überreden ohne zu Überzeugen lese ich da und Unterschwellig ist mehr als vordergründig, dann erkenne ich noch Wie sie alles verkaufen, wirklich alles!
»Hör auf zu lesen und pack‘s wieder ein.«, weist Gerhards sonore Stimme mich von oben an, er muss uns die ganze Zeit aus dem Schattenriss zwischen Haus und Garage beobachtet haben.
»Schon gut.«, beeile ich mich: »Ich weiß schon, ich habe nichts gesehen. Ist das so in Ordnung?«
»Guter Mann.«, bestätigt Gerhard.
Dadurch ermutigt frage ich, während ich die Kassetten in die Kartonreste zusammenscharre: »Nicht dass es mich was angeht, aber wofür brauchst du diese ganzen Reklameweisheiten? Planst du einen Jobwechsel?«
»Wie du richtig vermutet hast, geht dich das gar nichts an. Aber da du es eh nicht begreifen wirst, kann ich‘s ja ruhig sagen: Das brauche ich für eure unterschwellige Zukunftsertüchtigung. Wenn ich euch in meinem Sinne fit mache für das 21. Jahrhundert.«
Ich werfe die letzte Kassette oben auf den Karton, ziehe ihn transportbereit vor meinen Bauch, salutiere andeutungsweise und verabschiede mich in die undemokratische Dunkelheit: »Jawohl, Herr Lehrer.«

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Hundstage

7. Juni
Das Jahr des Hundes?

Heute, ich beobachte gerade Biggie, unsere politische Zugehfrau fürs steuerfinanzierte Grobe, wie sie am Kassenhäuschen unserer Dorfausstellung vergeblich auf eventuell zahlende Besucher wartet, da stürzt unser Landrat Joe unziemlich zerzaust aus der Auffahrt seiner Dienstvilla.
Sein obligatorischer Bauchladen schlenkert leer um seine Altherrenhüften, nicht die dünnste, papierene Spur eines seiner feilen Traktate, keine Erbauung, keine tätige Lebenshilfe, nur Entsetzen und Panik: »Der Hund ist weg!«
Joe rennt tränenblind mitten in mich hinein: »Der Hund ist weg.«
Ich fange ihn auf, er dauert mich, so menschlich, wie er weint, mag er sonst Ämter beschädigen, jetzt ist er Kreatur, sogar in ihrem Innersten verwundete Kreatur, was bei uns als die edle Steigerung von äußerer Verletzung gilt. »Welcher Hund?«
»Mein Hund.«, schluchzt er. »Der Hund, der mir in diesem Herbst meines Lebens widerspruchslos hätte gehorchen sollen und sich dann als disziplinarische Katastrophe erwiesen hat.«
»Und...«, frage ich vorsichtig: »... ist sein Verschwinden vielleicht politisch motiviert?«
»Gewalt geschrien!!«, bestürzt sich Landrat Joe altmodisch, wobei er den verfügbaren akustischen Raum um uns vollständig und weinerlich ausfüllt. »Politisch? Da habe ich noch gar nicht dran gedacht. Aber sicher, Terror kommt in den besten Staaten vor.« Und er hebt die Stimme zum Himmel und zum doppelt gestrichenen Fis: »Mein armer Hund!«
Was Biggie, gelangweilt von ihrer unausfüllenden Tätigkeit, zu uns auf unsere Straßenseite bringt: »Dein Hund ist weg?«, fragt sie und rückt Landrat Joe den leeren Bauchladen korrekt vors Geschlecht.
Der erkennt Biggie, die ihren Ursprung in seinen Kreisen hat und: »Der Hund ist weg.«
Biggie rückt weiter an ihm herum, Landrat Joes Fassung zeigt sich randläufig.
»Kommt doch mit, drüben haben wir ausreichend Platz zum Beruhigen. Und vielleicht ist der Hund ja in der Ausstellung.«, schlägt uns Biggie schließlich vor.
Landrat Joe heult bei seiner Erwähnung erneut auf: »Den Hund haben doch die Terroristen!«
»Vielleicht auch nicht.«, versuche ich mich in Hoffnung und Biggie assistiert: »Ist doch nur eine dumme Vermutung.«
Wir haken Landrat Joe beidseitig unter und bugsieren ihn zum Eingang der Ausstellung, Biggie kassiert uns professionell im Vorbeigehen ab, ich wehre mich nur deshalb nicht, weil Landrat Joes offenes Leid dieser Moment so selten wertvoll füllt, ärgere mich aber dann über den zusätzlich erhobenen Tageskassenzuschlag: »Sag mal, Biggie, musste dass jetzt denn wirklich sein? In dieser Situation?«
»Aber hör mal, ich habe schließlich Prinzipien. Wie, glaubst du, kam ich zu dieser Ausstellung?«
»Weil die Idee schon 20 Jahre tot ist und sie sonst keiner mehr haben wollte?«
Biggie ist schon viel zu lange im politischen Geschäft, als dass ich sie so einfach provozieren könnte, sie wechselt das Thema und den Gesprächspartner: »Wie, Landrat Joe, sieht dein Hund denn aus?«
Der deutet mit stotterndem Finger Richtung Eingang, und ruft ebenso unterbrochen: »Wie der da. Genau wie der da.«
Wir drehen uns um und sehen eine wilde, Transparente schwingende, Trillerpfeifen blasende Horde, die sich erst auf einen zweiten, nachhaltigen Blick als eine Versammlung unserer öffentlichen und organisierten Bediensteten outet, welche sich zum Zwecke der einseitigen, eigenen Begünstigung im Amt als im Streik befindlich erklärt haben. Sie umringen uns als einziges verfügbares Publikum und fahren ihren gerechten Protest gegen die ungerechten, uneinsichtigen Arbeitgeber ab, wobei sie mir als einfachem Bürger ebenfalls die Ehre einiger Beschimpfungen erweisen, was ich als äußerst demokratisch gehandelt empfinde und deshalb milde gestimmt ihren Forderungen nachhöre. Vermutlich aber ist unsere Gegend von unnützen Nebengeräuschen überlaufen, ich verstehe immer nur: »Mehr!« oder auch: »Will haben!«
Dieses ganze, lautstarke Chaos wird noch durch einen kurzgeleinten Hund verstärkt, der gewaltsam, aber vergeblich, zu Landrat Joe entkommen will.
»Das ist mein Hund.« brüllt Landrat Joe und zeigt damit mehr Energie als in seiner ganzen, bisherigen Amtszeit zusammengenommen.
Die Meute verstummt.
»Das ist mein Hund.«, wiederholt Landrat Joe, diesmal eher traurig.
»Na und?« brüllt ihn die Horde nieder.
»Das ist mein Hund!«, beharrt Landrat Joe.
»Und das soll er auch bleiben.« fährt da vom Eingang her Gerhard, unser mediengerechter Kreisvorsitzender, dazwischen. »Kommt mit, Leute, wir werden uns schon einig.«
Eine anonyme Hand lässt den Hund los und der wirft sich in seiner Wiedersehensfreude auf Landrat Joe und den auf das überteuerte Verbundpflaster.
Gerhard zieht mit der Horde im Gefolge ab.
Und ich frage mich leise: »War das jetzt ‘ne echte Geiselnahme? Oder etwa doch nicht? Oder was?«

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Habt recht!

10. Juni
Wenn wir schon mal anfangen, unsere Irrtümer öffentlich einzugestehen, können wir uns gleich begraben lassen.

Oder ginge das auch anders?

Heute, wir halten uns in den dem Sonnenstand ausweichenden Baumschatten auf der überfüllten Freibadwiese und liegen die oberen Sommertemperaturen aus, entwickelt sich, für alle Beteiligten überraschend und vollkommen unnütz, aus der trägen Konversation auf Luftmatrazenniveau ein spontaner Glaubensstreit über den Einfluss der Willensstärke auf die Sauerstoffaufnahme eines beliebigen, menschlichen Individuums.
Eine mir namentlich unbekannte Frau mittleren Alters und ohne sichtbare Besonderen Kennzeichen eskaliert sich in einen zunehmend halt–, aber auch ausweglosen Standpunkt.
Es kommt, wie es kommen muss, der Dialog zwischen der Frau und unserer Gruppe fällt auf die monotone Sprachnutzung von Ist es nicht! gegen Ist es doch! zurück und es bleibt nur noch die Durchführung eines auflösenden Praxistests.
Wir schreiten also zur Tat, d.h. wir gruppieren uns am Beckenrand und die Frau lässt sich vorsichtig, über den Rücken und unter Einsatz all ihrer Trizepskraft, ins gechlorte Wasser gleiten. Von dort schaut sie zweifelnd zu uns hoch.
»Auf!«, johlt es vom Rand und: »Na!?«
Die verlassene Frau klemmt sich entschlossen die Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, löst den Griff der Linken von der Überlaufrinne, stößt sich beidbeinig in die Höhe und taucht, senkrecht, die Beine voran, ab.
Wir zählen anfangs laut und zu schnell die Sekunden mit, nur der kleine Hans verfolgt den entsprechenden Zeiger seines überaus korrekten Armbandchronometers und ruft die jeweils ganzen Abschnitte aus: »10 ... 20 ... 30 ... 40 ...«
Der Letzte aus unserer Gruppe entlässt hier pfeifend den aus Sympathie angehaltenen Atem.
»50 ...«
»Ist ganz schön viel!« kommentiert wer.
»60 ...«
Unten, am Beckengrund, zuckt es, will es vielleicht nach oben, aber die Frau krallt sich mit der freien Hand, mit der rechten hält sie immer noch die Nasenflügel verschlossen, in den dürftigen Halt der Fliesenfugen.
»70 ...«
»Ist das jetzt mehr als eine Minute?«, fragt Verona und Hera ist sich nicht sicher: »Glaube ich eigentlich nicht.«
»80 ...«
Und das ist sicherlich mehr als eine Minute, vielleicht sogar mehr als zwei?
»90 ...«
Wir starren in die Tiefe.
»100 ...«
Die Frau in der Tiefe hat sich beruhigt, sie liegt flach und reglos am Beckenboden.
»110 ...«
»Jetzt hat sie‘s überwunden«
»120 ...«
Ich halte es nicht mehr länger aus, erinnere mich in die späte Jugend und einen Rettungslehrgang zurück, hechte vor und pfeile gestreckt nach unten und zu ihr.
Sie liegt ruhig und regt sich auch nicht, als ich sie mit einem verunglückten Rettungsgriff unter den Armen durch und auf der weichen Brust packe. Ich stoße uns kraftvoll vom Grund ab und schon durchbrechen wir den beunruhigten Wasserspiegel.
»130.«, höre ich den kleinen Hans und: »Das sind nur zwei Minuten und zehn Sekunden. In Japan schaffen die Perlentaucherinnen über vier Minuten.«
»Ja, in Japan.«
Ich reiche die schlaffe Frau den hilfreichen Händen und ziehe mich hinter ihr aus dem Wasser.
Sie haben sie flach auf den Rücken gelegt und starren untätig, vieläugig auf sie hinab.
Ich falle neben der Frau auf die Knie und setze zur fälligen Mund-zu-Mund-Beatmung auf ihren blauen Lippen an. In genau diesem Moment seufzt sie auf und ihr Körper streckt sich.
»Sie lebt!», ruft es von oben.
Und ein Anonymer kommentiert: »Schade. Jetzt werden wir nie erfahren, ob man sich mittels Willenskraft ertränken kann. Und ob sie wirklich recht hat.«

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Die Verwandlung

17. Juni
Früher stand im Kalender hier ein Feiertag.
Heute feiern wir woanders.


Heute, ich erwache mit dem vagen Gefühl eines unbestimmten Verlustes, kreist eine aufdringliche Fliege die Bestandteile meines spröden Frühstücks, erst einzeln und dann in Summe, ein.
Ich wische diesen Störenfried meines morgendlichen Trübsinns mit dem rechten Handrücken durch die noch nächtlich frische Luft.
Die Fliege kehrt wieder.
Sie zirkelt eine perfekte Acht, was Zufall gewesen sein sollte.
Ich rühre abwesend in meinen wässrigen (vergaß rechtzeitig Milch zu beschaffen) Cerealien.
Die Fliege fertigt wieder eine Acht und wiederholt dabei, soweit ich es beurteilen kann, exakt die Flugbahn der vorherigen.
Ich schiebe die Schüssel mit den Corn Flakes zur Seite.
Die Fliege, sie folgte erst der Schüssel, dann meiner leeren Hand auf dem Rückweg zum hiesigen Tischrand, setzt noch eine exakte Acht und entwertet damit alle meine Wahrscheinlichkeitsmutmaßungen, ich ordne das auffällige Verhalten dieser Fliege als Unwahrscheinlichkeit ein.
»Was geht hier ab?«, frage ich in den Raum, wer will denn schon mit Fliegen reden.
Das Flügelsirren, ein ziemlich reines, zweigestrichenes A, die Zimmertemperatur beträgt demnach genau 23 °C, konkretisiert sich in einen zunehmend verständlichen Rhythmus. Ich glaube, an der untersten Schwelle meiner akustischen Wahrnehmung, Worte wie: »Ich bin der Geist dieses besonderen Tages.« zu verstehen.
»Blödsinn!«, knurre ich und denke darüber nach, ob unsachgemäß gelagerte, trockene Corn Flakes durch einen bisher unentdeckten Prozeß eventuell derartig berauschende Substanzen freisetzen können.
Die Fliege umkreist meinen Kopf in einer besonders niederen Umlaufbahn und morst dabei deutlich und mehrfach: »SOS.«
Ich ergebe mich den unverhofften Umständen: »Also los. Was willst du mir sagen.«
Die Fliege landet auf einem übriggebliebenen Flakes des gestrigen Tages, faltet die beiden Vorderbeine, reckt das mittlere Beinpaar, federt hinten ein, fixiert mich netzäugig und trägt surrend vor: »Was du hier siehst, ist der verbliebene Rest eines ehemals großen Geistes. Für mich haben Menschen ihr Leben gewagt und gegeben, haben andere Nachteile erlitten oder in ihrem Leben das Oberste zu Unterst gekehrt.«
»Ziemlich viel Pathos für so einen kleinen Geist.«, denke ich und komme grade noch zu: »Massen haben mich begangen.« wieder zu der Fliege zurück.
»Wer hat dich begangen? Und tut das nicht weh?«
»Spitzfindiger Ignorant!«, sirren die Flügel eine Tonlage höher und aufgeregt. »Ich war ein Tag des edlen Gedenkens, des Einhalts und Erinnerns. Ein Tag der stillen Mahnung und des offiziellen Protests.«
»Also politisch motiviert.«, schnappe ich.
»Naja,...», gibt die Fliege zögernd zu und: »... aber für einen guten Zweck.«
»Und der heiligt die Mittel?«
»Nicht unbedingt. Aber schließlich gab mir der Erfolg doch Recht. Meine Helden haben den Grundstein gelegt. Oder besser, das Fundament untergraben. Das Regime wankte zwar noch ziemlich lange, aber heute ist es nur noch schlechte Geschichte.« Die Fliege wischt sich beidbeinig über den schwarzen Kopf.
»Und du fingst dir die Schwindsucht öffentlichen Vergessens ein?«
»Leider.«
»Und weshalb suchst du ausgerechnet mich heim?«
»Weil, du musst das doch gefühlt haben, also, weil du einen Verlust empfunden hast, ohne etwas anderes als mich eingebüßt zu haben.«
»Möglich.«, entgegne ich brüsk, denn ich muss diese Unterhaltung beenden. Helmut, unser überschätzter, örtlicher Gendefekt, kommt gleich und will mit mir über die Ausführung seiner bereits mehrfach verkauften, aber ungeschriebenen Biographie verhandeln.
»Fliegengesumm in meinen Ohren.«, zitiere ich antik und dann stirbt der vorgebliche Fliegengeist dieses besonderen Tages unter den satt auf dem Tisch aufschlagenden Hochglanzseiten einer Denkschrift zum kommenden 3. Oktober, die mir Helmut als Vorbereitung auf sein Leben vorbeugend zukommen ließ.
»Was in diesem Land in letzter Zeit so alles an Schwachsinn abgeht.«, stelle ich abschließend fest und bereite mich auf Helmuts Klingeln vor.

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Nachwuchs

21. Juni
Unsere Nationalmannschaften sind Ausdruck der Überlegenheit unsers Systems!

Heute, inzwischen hatte der gesamte Vorstand die Dringlichkeit eines sofortigen Neuanfangs begriffen, starten Egidius (»Früher, als die Jungs noch mit einer Butterstulle ...«), Berti (»Was heißt hier Spiel. Das ist Arbeit.«) und Loddar (»Heute sind die Spiele mit 90 Minuten einfach zu lang.«) eine innovative Talentoffensive.
Draußen vor dem Ort, an den sanften Hängen unseres Bahndamms, zieht Berti mittels wiederholt gekonnt angewandter Hackentricks schnurgerade Pflanzfurchen ins verdorrte Gras. Bertis tätige Stollen legen eine Staubwand, die langsam in der schwachen Thermik über den Flachhang aufsteigt und auf der anderen Seite der Gleise die Erdbeersammler tarnend einfärbt.
Egidius mustert währenddessen den mitgeführten, geflochtenen Picknickkoffer, breitet das karierte Tischtuch, von Loddar unterstützt, sorgfältig aus. Dann ordnet er die Tütchen mit den Pflanzmischungen in eine Reihe. »Welche würdest du denn nehmen?«, fragt er Loddar.
Der fährt mit einem angefeuchteten Zeigefinger die Auswahlreihe entlang und wieder zurück: »Ach, Herr Egidius, ich weiß wo mein Platz ist, also entscheide du.«
Egidius nickt hinfällig langsam: »Eine gute Einstellung, mein lieber Loddar. Jeder an seinem Platz und Welt wäre in Ordnung.« Er wählt schließlich ein Tütchen, dessen Aufdruck Gleichmäßigkeit in Wuchs und Anlage verspricht. »Eine Sorte, ein Geist, ein Team.«, kommentiert Egidius seine Wahl, stützt sich schwer und auffordernd auf Loddar, der drückt sie beide mit der Macht seiner kraftraumgestählten Oberschenkel hoch und sie schreiten zu Bertis inzwischen staubfreier Pflanzfurche.
Egidius drückt Berti die Sämlinge einzeln in die Hand und weist, zeigefingernd, den jeweiligen, korrekten Pflanzort an. Berti bückt sich geübt, lässt den Sämling sorgfältig von der Handfläche in die Mitte der Furche gleiten, streicht von rechts und links sanft den verbliebenen Staub darüber und klopft ihn mit Zeige– und Mittelfinger vorsichtig fest. Danach kommt Loddar und presst, er benutzt dazu die spitze Präzision seiner italienischen Designerschuhe: »Man muss sie frühzeitig an Druck gewöhnen, besonders den von oben.«
Egidius nickt wieder sein bedächtiges Kopfwackeln: »Richtig, Loddar, Ordnung muss sein.«
Sie wandern pflanzend den Bahndamm entlang, Berti flachst: »Straßenfußballer sind out, wir glauben ökologisch korrekt an die Bahn.«
Endlich ist das Tütchen leer und sie kehren zu der rot-weiß-karierten Tischdecke im gelben Gras zurück. Loddar und Berti senken Egidius vorsichtig vom Stand in den Sitz ab, dann serviert Loddar die mitgebrachten Butterstullen, was Egidius zu seiner sattsam bekannten Bemerkung veranlasst: »Früher, zu meiner Zeit, waren wir froh, wenn wir überhaupt Butter hatten. Und heute? Lauter übersättigte Millionäre. Bist du eigentlich auch Millionär, Loddar?«
»Vielleicht ein bisschen, Herr Egidius, aber wirklich nur ein ganz kleines bisschen.«
»Das ist auch gut so, Loddar. Der deutsche Fußball, das bedeutet Fleiß, Disziplin, Unterordnung und Ehre. Wozu also braucht es da Geld?« Egidius beißt vorsichtig in das aufgeweichte Brot. »Und nun...«, er schluckt stoßweise: »... brauchen unsere Talente Zuwendung und Pflege. Du, Loddar, wässerst. Reichlich Und du Berti, du jätest. Ohne Rücksicht, alles was aus der Norm fällt, muss weg. Klar?«
»Jawohl, Herr Egidius.«, schlagen die beiden ihre Hacken lautstark zusammen.
Loddar joggt zur nahen Tankstelle, leiht sich die Gießkanne, Berti rutscht auf den Knien die schon nach kurzer Zeit feucht werdende Furche entlang.
Egidius betrachtet die Aktivitäten seiner Zöglinge mit Wohlwollen, bevor er sich einem weitgehend unbemerkten Nickerchen hingibt.
Die Samen folgen, dank der erwiesenen Aufmerksamkeit, der steigenden Sonne und stoßen rundtriebig durch den inzwischen nassen Schlamm. Berti nimmt sich jedes einzelnen Triebs an, sondiert sorgfältig Wuchs und Farbe, bevor er die unbrauchbare Mehrzahl ausreißt.
Die Reihen der Sprösslinge lichten sich deshalb überschaubar rasch, wenige verbleiben, aber die sind einer wie der andere.
Dann kommt, pfeifend und eine Golftasche lässig über der Schulter, Franz (»Schau mer mal...«) über die Wiese. »Was macht ihr denn hier?«
»Wir ziehen Talente.«, antwortet Loddar.
»Wo denn?«
»Na hier.«, zeigt Berti auf die spärlichen Triebe.
»Also...«, zuckt Franz die ratlos die Schultern: »...also, ich sehe keine Talente. Nur Durchschnitt.«

;)

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Darwin sei Dank!

24. Juni
Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass die Entwicklung des modernen Menschen schon abgeschlossen sei.

Heute, wir versuchen uns wie jedes Jahr am ersten Samstag nach Mittsommer in Bürgerbeteiligung, starten wir in einem entmutigend nassen Morgengrauen zu den finalen Ausscheidungsläufen.
Ich habe mich monatelang schweißtreibend in zackigen Lauftreffs und muffigen Krafträumen für diesen Tag in der nötigen Ausdauer trainiert. Jetzt trage ich die komplette, schwere Rüstung eines Football-Offence, habe die Wangenknochen unter den Augen erschreckend schwarz getuscht, in der Rückentasche meines Trikots führe ich wichtige Papiere wie Ausweise, Abstammungsnachweise, Rabatt–, Stamm-, Impf– und Sparbücher, Aufenthaltsgenehmigungen sowie ausreichend Scheine für die allfällige Motivation der beamteten Schiedsrichter mit. In der Hand halte ich das entscheidende, amtliche Dokument, das es unbeschädigt ins ferne Ziel zu bringen gilt.
Wir treten nervös auf der Stelle, dann endlich gibt Gerhard, unser mediengerechter Kreisvorsitzender, den Startschuss. Wir rennen zur ersten Aufgabe, zehn unregelmäßig besetzten Amtsstuben, in denen es den ersten Stempel zu erringen gilt.
Die Narren unter uns stellen sich, wie sie es in ihrer Jugend gelernt haben, in ordentlichen Reihen auf. Andere, wie ich, die wir gelernt haben, was hier abgeht, drängen uns vor, wobei wir die ärmlichen Beschimpfungen der Schlangenbildner gekonnt ignorieren.
Ich stoße die erkämpfte Tür (Vor dem Eintreten anklopfen!) vorbehaltlos auf, röhre den Kampfschrei der Bürgerveteranen: »Volksbegehren!« und werde des Raumes verwiesen: »Ziehen Sie draußen eine Nummer.« Aber so leicht lasse ich mich nicht verjagen. »Hab‘ ich!«, rufe ich und fummle aus meiner vorbereiteten Rückentasche ein pinkes Stück Papier in plausibler Größe. Man kontert: »Diese Nummer ist noch nicht dran!« Ich lege einen größeren Schein auf die Abschrankung: »Und wie ist es mit der Nummer?« »Na gut.«, antwortet es und ein runder Stempel sticht in mein bereitgehaltenes Formular. »Aber jetzt ist Frühstück.«, tönt es von hinten, während ich zur nächsten Aufgabe haste.
Und dann liegt er vor mir, der Weiher unfähiger Juristerei, den es trockenen Fußes und unbefleckt zu überwinden gilt. Flächendeckend durchbrechen betretbare Gesetzestexte die Oberfläche einer undurchsichtigen und –appetitlichen Paragraphensuppe. Nicht alle diese Gesetze gründen sich fest auf Moral und Sitte, manche schwimmen dünn auf einem wenig tragfähigen Polster aus Zeitgeist und/oder Ideologie, wer sie erwischt, ist rettungslos aus dem Rennen und für den Rest seines Lebens nicht abwaschbar gekennzeichnet.
Wir, die Probanden, werden nur einzeln zur Überquerung zugelassen, keiner soll aus dem Beispiel eines anderen Vorteile ziehen können, vor dem Gesetz und dem Teufel steht jeder für sich allein.
Ich wende eine Kombination aus Textinterpretation und Schmutzanalyse an und meide nasse, befleckte, unleserliche Gesetze, die ihre verderbliche Wirkung offensichtlich bereits an einem meiner Vorgänger entwickelt haben.
Derzeit stehe ich auf: »Du sollst nicht töten!« und genieße die Festigkeit seiner tiefgehenden Gründung. Aber alle für mein weiteres Fortkommen möglichen Texte schwimmen wenig vertrauenswürdig und flappig untergetaucht oder stammen aus der Steuergesetzgebung. Auch mein Rückweg ist inzwischen abgeschnitten, hinter mir hat der Rentenkompromiss das Bürgerliche Gesetzbuch verdrängt.
Da zeigt sich, zögerlich und am Rande meines Sehfeldes, ein Stück aus dem HGB und ich springe schnell entschlossen zu und hin, mit Schwung weiter auf ein Blatt aus dem Erbrecht, meine Massenträgheit reißt mich unwiderstehlich fort, schneller und schneller, ich renne spitzentanzend, eine Spur aus Untergang und Paragraphenwüste hinter mir lassend, die, wenn sie mich erreicht, schon wieder hinter mir zurückbleibt, die, meinen Vorsprung zwar stetig, aber nicht nachhaltig, verkürzt, kurz, ich beweise erfolgreich das moderne Primat: »Lerne handeln ohne zu Denken.«
Dann wirft mich eine letzte Pirouette ans jenseitige Ufer, das damit zum diesseitigen und rettenden wird.
Fröstelnd umarme ich mich, die Vorhöfe der Macht können nicht mehr weit sein.

Wird fortgesetzt....

;)

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Darwin sei Dank! (2)

28. Juni
Ist Beihilfe zur Demokratie ein Straftatbestand?


Heute, ich stecke vermutlich schon mein bisheriges und damit ganzes Leben in diesem maroden Versuch einer Bürgerbeteiligung fest, verlasse ich das Ufer des juristisch fragwürdigen Weihers und gehe, den Helm meiner Football-Rüstung an seinem Kinnriemen energisch pendelnd in der Linken, der wolkenbedeckten, hoch stehenden Sonne und meiner nächsten Prüfung entgegen.
Wenige sind wir geworden, die Menge der Teilnehmer vom frühen Morgen schrumpfte zu zählbar einzelnen Gängern, die schwarz und schwankend den nahen, engen und grauen Horizont in einsame Sektoren teilen. Wir sparen unsere Kräfte für die kommenden Hindernisse, enthalten uns der Kommunikation und zersplittern, vorsätzlich oder ungeplant?, unsere Macht bis zur Unwirksamkeit.
Die Silhouetten vor mir tauchen nacheinander in eine schmale Bodenmulde ab und geraten, zuerst partiell, dann vollständig, außer Sicht. Schließlich liegt der weitere Weg leer und unbegangen vor mir und ich setze meinen Helm, mit losem Kinnriemen, auf.
Vor mir, in dem zunehmend einsehbaren Einschnitt, entfaltet sich ein weißes gestrichenes Gebilde, das mich mit seinem sichtbaren, unbedachten und chaotischen Inneren an ein Labyrinth denken lässt. Mein Eindruck bestätigt sich wenige Meter weiter, neben einer schloßlosen Pendeltür hängt eine handgemalte Tafel: »Irrgarten der verlorenen Daten«, lese ich mir laut vor und: »Ausweg und Weiterkommen nur auf der anderen Seite. Nun denn, hurtig, hurtig voran!«
»Scheint aus wesentlich früheren Zeiten auf uns überkommen zu sein.«, schließe ich, ziehe den Kinnriemen fest und trete ein. Drei weitere Türen stehen mir zur Auswahl, ich entscheide mich, eingedenk einer alten Hausregel, für links, habe wieder drei Türen um mich, wende nach links, drei neue Türen, links und ich stehe am Anfang, verfluche ungenaue oder gedankenlose Hausregeln, entschließe mich zu geradeaus und immer geradeaus.
Es dürfte wohl die sechste oder siebente passierte Tür gewesen sein, als ich unversehens und unvorbereitet gegen einen menschlichen Hünen der Extraklasse erst an- und dann von ihm abpralle. Mein halbherziger Fluchtschritt nach rückwärts endet an einer weiteren Masse, schenkelstarke Arme arretieren mich abschnürend von hinten.
Der Hüne vor mir trägt einen schweren Werkzeuggürtel um die Hüften, ich erkenne einen massiven Hufeisenmagnet mit der Aufschrift: Nicht in die Nähe von Datenträgern jeglicher Art bringen! sowie einen batteriebetriebenen Reißwolf und verstehe die wahre Bedeutung des Irrgartens.
Mein unersetzliches Dokument wird mir sorgsam aus der blutleeren Hand gezogen, es wird begutachtet und nähert sich dann dem bereiten Schlitz des Reißwolfs. Die Umklammerung verurteilt mich zu überwiegender Teilnahmslosigkeit, einzig zwei dürftige Tränen pressen sich aus meinen Augenwinkeln und beweinen mein absehbares Ausscheiden.
»Der Wievielte ist das eigentlich?«, fragt es unvermittelt von hinten.
»Der Zehnte, glaub‘ ich zumindest.«, antwortet es von vorn.
»Dann sollten wir ihn laufen lassen. Denk dran, was der Chef gesagt hat. Von wegen Image und so.«
»Stimmt auch wieder.« Der Kerl drückt mir mein Dokument in die Hand, die Armklammer löst sich, mein Blutstau wird freundlich in Gang geklopft, dann dreht mich Hüne 1 in Richtung einer Tür und ich werde zweihändig gewaltig angestoßen. »Immer grade aus!«, ruft es und: »Und immer schön den Mund halten!«
Ich öffne die verbliebenen Türen kopfvoraus, danke schnell der bewiesenen Qualität meines Hightechhelms, vermisse die nächste Tür und investiere den ungenutzten Schwung in einer morastsprühenden Bauchlandung.
Mein Dokument ist da, ich bin noch da, und wie wir bis hierher kamen, wird in einer späteren Betrachtung der trägen Geschichte hinter der Tatsache an sich in der üblichen Masse unberücksichtigter Details untergehen. Also raffe ich mich auf, streiche den Schlamm nachlässig von meinem Trikot und suche die nächste Prüfung, wobei ich mit: »Wer will mich schon aufhalten?« schon mal anfange, eventuelle Überlieferungen zu fälschen.

Wird fortgesetzt....


;)

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