Blick vom Tellerrand Satiren für jede Gelegenheit


Überwindung

15. April
Da wäre dann einmal die Welt und da wäre noch das Medium. Und wer kommt zuerst ohne den anderen aus?


Heute, angeregt durch die sich derzeit schnell vermehrenden, selbstbezüglichen Fernsehsendungen, die andere Sendungen recyclen, denke ich über das gespannte Verhältnis zwischen realer Welt und Medium nach, und komme zu keinem plausiblen Ergebnis.
Also erinnere ich mich an die praktischen und deshalb geschmähten Gepflogenheiten der Naturwissenschaften und entschließe mich zu einem Experiment. Ich stelle einen Fernsehapparat auf, davor einen Stuhl und noch weiter davor eine Kamera. Die Kamera nimmt Stuhl und Apparat auf, überträgt diese Zusammenstellung auf den Bildschirm, filmt sie von dort wieder ab und gibt sie an den Fernseher weiter und weiter und so zeigt der Fernseher schließlich einen Fernseher, der einen Fernseher zeigt, welcher einen Fernseher zeigt, auf dem ein Fernseher zu sehen ist und das wiederholt sich theoretisch bis in alle Unendlichkeit, was man sehen könnte, wenn dem Betrachter die nötige Weitsicht gegeben wäre, was aber selten der Fall ist und somit in der Praxis vernachlässigt werden darf.
Ich setze mich auf den Stuhl und werde in den Korridor unendlicher Wiedergabe vervielfältigt eingepasst.
»Nicht schlecht.«, denke ich zuerst, folgere aber dann weiter: »Das geht sicher noch besser.« und rufe Stefan, unseren jugendlichen Medienstar an. Der ist begeistert und wenig später bauen wir sein Equipment auf. Wir stellen die Apparate gegenüber, ebenso Kameras, Stühle und uns. Stefans Kamera filmt Stefan und dessen Apparat, gibt die Bilder aber auf meinen Fernseher. Der wiederum wird von meiner Kamera aufgenommen. So entsteht ein Korridor aus Wechselbildern – Stefan, ich, Stefan, ich.
Wir spielen damit, schneiden vielfältig Grimassen und rufen dann Hera, unsere Kultöse sowie Verona, die unerklärliche Berühmtheit an. Auch sie sind begeistert, schließlich verdanken sie diesem Medium ihre Existenz, und bald fügen wir ihre mitgebrachten Gerätschaften in unser Experiment ein.
Wir lassen die Übertragungskabel und damit die Bilder im Kreis laufen. Heras Darstellung macht den Anfang, Verona schließt sich an, dann kommt Stefan und am Ende ich, was aber nicht so wichtig ist, denn hinter mir reihen sich Hera, Verona und Stefan ein, aber Verona ist vor Stefan und mir, während Hera die rote Laterne hat, aber nur solange wie Stefan nicht an erster Stelle steht, gefolgt von mir, Hera und Verona, unsere technische Anordnung verwischt soziale Reihenfolgen und beseitigt anscheinend Hierarchien.
Wir schalten den Ton ein, aber der sich schließlich in unhörbare Höhen schwingende, grelle Lärm belehrt uns, dass in selbstbezüglichen Systemen neue Ideen keine Chance haben. Also drehen wir die Lautstärke herunter und produzieren uns stumm.
Da müssen die beiden Damen mal und gehen gemeinsam ab. Ich öffne das Fenster, wir, Stefan und ich suchen die frische Luft von draußen. »Recht interessant.«, weise ich auf den Versuchsaufbau hinter uns: »Wie wir uns immer noch auf den Bildschirmen halten.« Stefan und ich drehen uns um, wirklich, wir jagen uns immer noch auf den Apparaten im Kreis – Hera, Verona, Stefan und auch ich.
»Wir haben es geschafft.« flüstert Stefan. Dann schleichen wir uns leise aus dem Zimmer, sammeln Verona und Hera auf dem Flur ein, gehen in unser örtliches Bistro und trinken einen oder auch mehr, während irgendwo in einem Zimmer über der Stadt das Medium die Notwendigkeit einer realen Welt überwunden hat.

;)

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Eigenleistung

19. April
Da die alten Gleichungen sich wechselweise als falsch erweisen, liegt die Zukunft in der Innovation.
Auch wenn es um die Zukunft der Alten geht. Oder geht es um die der Jungen?

Heute sitzen wir in der dunkelsten Ecke unseres Bistros und kungeln am Rentenkompromiss. Wir, das sind – Waldäh, unser örtlicher, zwanghafter Rabattmarkensammler (»Da hat man was im Alter.«) - Nobbi, der es im Showbusiness beinahe zu etwas gebracht hätte (»Das soll ich gesagt haben?«) und – ich, ein eingeschmuggelter Vertreter der Pay-Generation.
Nobbi, als Dienstältester, erklärt uns die Spielregeln: »Die Renten sind sicher!«
Waldäh stimmt zu: »Zumindest, bis ich nicht mehr für sie verantwortlich bin.«
Was Nobbi mit: »Dann besteht akuter Anlass zu tiefster Besorgnis!« kontert.
»Nicht mehr, als zu deiner besten Zeit.« stichelt Waldäh und beendet damit vorerst den konstruktiven Teil der Zusammenkunft.
Weil ich aber fürs finanzielle Überleben auf einen baldigen Kompromiss angewiesen bin, bestelle ich eine neue Runde und verkürze uns die Wartezeit mit humorigen Verhältnisrechnungen wie: »Wenn heute ein Rentner von zwei Beitragszahlern finanziert wird, in 10 Jahren ein Beitragszahler einen Rentner übernimmt, wieviel Rentner müssen dann per Greencard ins Land geholt werden, dass in 15 Jahren ein Verhältnis von drei Rentnern auf einen Beitragszahler regierungsamtlich sichergestellt wird?«
Waldäh und Nobbi füllen einige Bierfilze mit schwer verständlichen Berechnungen, allein, ihre Ergebnisse differieren um mehrere Größenordnungen, erfüllen also den politischen Toleranzanspruch erfolgreich.
Die Runde wurde inzwischen serviert, wir prosten gutmütig, schließlich haben wir alle dasselbe Ziel, oder müsste das etwa das gleiche Ziel heißen? Egal, die Zeit drängt, draußen wächst bereits die nächste Generation und wir sind noch nicht mal mit meiner klar.
»Und wenn man eine allgemeine, steuerbasierte Grundversorg...«, versuche ich einen neuen Ball ins Spiel zu bringen, werde aber sofort von den Beiden mit: »Kommt gar nicht Frage. Sozial unausgewogen. Ideologischer Irrweg.« unterbrochen.
»Oh je, die Beiden sind sich ja schon einig.«, denke ich und sage dann: »Aber wir, also meine Generation, können nicht mehr. Steigende Beiträge und die Aussicht auf eine abgesenkte Rente, die durch private Vorsorge wieder aufgebessert werden müsste, wobei das Netto jetzt schon nicht mehr langt. Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?«
»So haben wir das noch nicht gesehen.« grübelt Nobbi und Waldäh ergänzt: »Wir haben dieses Problem so nicht.« Und Nobbi: »Also muss was geschehen.« Worauf Waldäh: »Was Einschneidendes.« »Das aber nicht weh tun darf.« »Zumindest nicht den Rentnern.« »Denn wir brauchen deren Stimmen.« Und im Chor: »Schließlich sind ja immer und überall diese Wahlen. Die einen beim ordentlichen Regieren behindern. Aber das ist der Preis, den die Demokratie fordert.«
»Und wenn wir was Innovatives finden?«, versuche ich es.
»Innovativ ist immer gut.« »Aber es muss einleuchten.« »Vor allem uns.«
»Also,..« beginne ich: »..es braucht mehr Geld. Aber höhere Beiträge sind nicht machbar. Also muss die Bemessungsbasis breiter werden, was heißen will, niemand darf vor Forderungen sicher sein. Außer uns vielleicht.«, vermeide ich den absehbaren Protest.
Nobbi, mit der ganzen Kraft seiner Erfahrung wirft uns den Begriff: »Die Autofahrer« auf den Tisch: »Die haben wir immer benutzt, wenn‘s in der Kasse eng wurde.«
Waldäh schränkt ein: »«Haben wir doch alles schon gemacht. Ökosteuer und so. Da geht NIX mehr.«
»Man müsste den Leuten ein Schlupfloch bieten.«
»Irgendeine Zufallskomponente.«
»Oder einen Wohlverhaltensbonus.«
»Das ist es!« ruft Nobbi.
»Aber ja!«, stimmt Waldäh zu.
»Leistung muss sich wieder lohnen!«, höre ich mich und detailliere sofort: »Jeder Rentner erhält ein Revier und dazu eine Radarpistole und die offizielle Berechtigung des Bareinzugs der festgestellten Übertretungen der jeweiligen, amtlich verordneten Geschwindigkeit. Damit ist die Rente sicher und bezahlbar. Und wer zahlt, ist auch noch selber schuld.«
»Und zu Weihnachten darf jeder ein Tempo30-Schild an unverständlichen Stellen aufstellen, das bringt mindestens 50% mehr.«
»Und für ehemalige Beamte gibt‘s unleserliche Schilder, wir haben da eine besondere Fürsorgepflicht.«
Wir stehen auf und schütteln uns befriedigt die Hände, das große Werk ist vollbracht, und gehen auseinander.
»Hoffentlich bekehren sich die Autofahrer jetzt nicht doch noch zu angepassten Geschwindigkeiten.«, fällt mir auf dem Heimweg ein, und ich ahne, dass ich die nächsten Jahre immer noch schlecht schlafen werde.

;)

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Buchprüfung

22. April
Das ganze Land wurde zum Reisebüro und überall flogen die Gerüchte.
Es war einfach nicht mehr zum aushalten, da muss man doch was tun.


Heute, die Gerüchte um Landrat Joe und seine innovativen Reisekostenabrechnungen wollen einfach nicht verstummen, beschließe ich, mir selbst Klarheit zu verschaffen und gehe zum Amt.
Unterwegs treffe ich Harvey, unseren, infolge Überdüngung ins Riesenhafte mutierten, weißen Feldhasen, der einen Heimaturlaub vom seinem Theaterstück genommen hat und Ostern zu Hause verbringt. Er schließt sich mir an.
Der amtliche Pförtner verweigert uns den Einlass, selbst dann noch, als ich seitenweise aus dem Grundgesetz zitiere. Erst die Proklamation der Menschenrechte überzeugt ihn, wenn er sich auch nicht recht vorstellen kann, dass sein Chef dieses subversive Zeug voll inhaltlich anerkannt haben soll: »Das ist doch ein feiner Mensch. Der macht so was einfach nicht.« Dann lässt er uns durch, wählt aber bereits am Telefon, bevor wir seine Loge vollständig passiert haben.
Wir brechen die undemokratisch dem Bürger verschlossene Buchhaltung auf und gehen ans prüfende Werk, ich sichte die Belege und Harvey, mit einem behördlichen Kugelschreiber zwischen seinen sensiblen Pfoten, bedient den Tischrechner.
Wir finden die üblichen »Versehen«: Hotelrechnungen, von denen das pauschale Frühstück nicht abgezogen wurde; die Berechnung voller Tagessätze an Tagen, an denen eine Heimfahrt erfolgte; halt die Verfehlungen, mittels derer in der freien Wirtschaft missliebige Vorstände erfolgreich abgeschossen werden.
Dann macht mich Harvey auf das Fehlen jeglicher Belege für Fahrtkosten aufmerksam: »Mit was ist Joe eigentlich unterwegs? Per Anhalter?«
»Sicher nicht.«, grinse ich und wir suchen weiter.
Bei den Unterlagen der örtlichen Sparkasse finden wir stapelweise Flugtickets, alle ausgestellt für Landrat Joe. Und einen Sponsoringvertrag aus Anlass seines zigsten Geburtstages. Alle Belege tragen den gut lesbar gestempelten Aufdruck: »Geldwerten Vorteil versteuert, daher strafrechtlich nicht relevant.« und Harvey, der sich in solchen Dingen infolge eines gegen ihn gerichteten Steuerermittlungsverfahren auskennt, nickt bestätigend mit dem plüschigen Kopf: »Wo er recht hat, hat er Recht.«
Er, das ist der eilends herbei telefonierte Landrat Joe. In seiner Eile ist ihm sein Bauchladen mit den erbauenden Traktätchen verrutscht, die Broschürchen flattern unordentlich aufblätternd und zeigen so, schwer lesbar, spärliche Hinweise auf ihren aktuellen Inhalt, Ruhe ist des Bürgers Pflicht! lese ich da, und Vom unzerstörbaren Amt und seiner gußeisernen Würde, oder Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch .., wobei sich der interessante Rest des Titels hinter Irgendwann kriegst auch du deine Chance, du musst nur alt genug werden verbirgt.
»Was treibt ihr, verbotenerweise, hier?« herrscht uns Landrat Joe an, und: »Und wie das hier aussieht. Dafür werdet ihr bezahlen. Besonders dieser überdimensionale Osterhase.«
»Langsam, langsam.«, greife ich ein. »Wir kommen nur den uns zustehenden, demokratischen Kontrollrechten nach. Wenn sich hier wer strafbar gemacht hat, dann der, der, verbotenerweise, die Tür vor uns verschloss.«
»Und was ist mit meinem persönlichen Datenschutz?«
»Ja, was soll damit sein?«, fragt Harvey.
»Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Ihr beschädigt mein Amt.« schnaubt Landrat Joe und kippt dabei wütend die Traktate auf den Boden. »Ich werde euch schon beibringen, wer hier wen kontrollieren darf.« Er schlägt mit dem billigen, schlecht lackierten Sperrholz des Bauchladens nach uns.
Wir flüchten vor diesem nachdrücklich vorgetragenen Geheimhaltungsanspruch des Staates gegenüber seinen Bürgern bis zum Fuße der amtlichen Freitreppe.
Landrat Joe ruft uns von oben nach: »Und an Osterhasen glaube ich schon lange nicht.«
»Aber an die unbeeinflussende Empfängnis, ja?«, brülle ich wütend zurück, schließlich ziehe ich in meinen Satiren selten, ja eigentlich nie, den Kürzeren.
Harvey wandert übrigens in Kürze nach Amerika aus.

:)

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Nullzeit

26. April
Würde man über alle Information des Universums verfügen, wäre man Gott.
Mit weniger Information sollte es dann wenigstens zum globalen Spekulanten reichen.
Der Unterschied ist eh nur rein technisch.


Heute beschließe ich beim Aufstehen unter Nutzung neuester Kommunikations– und Informationstechnologien bis zum Abend reich oder mindestens sehr wohlhabend zu sein.
Große Ambitionen dulden keine Verzagheiten und so nehme ich statt Frühstück die Börsenkurse der Nacht. Microsoft steckt in staatlichen Schwulitäten, stürzte gestern und erholt heute, ich gehe online und kaufe, des zeitlichen Vorteils wegen direkt bei Wall Street in N.Y., liegt auch nur einen Mausklick weit weg.
Kaum ist die E-Mail mit der Kaufbestätigung eingetroffen, bewegt sich der Kurs, aber nach unten, ich habe zu teuer gekauft, grade erst begonnen und schon Verlust. Ich brauche Information, mehr Information, wesentlich mehr Information.
Auch wenn es noch 15 Minuten bis Sonnenaufgang sind, ich muss wissen, was da vorgeht, der Kurs zackt immer noch nach unten, und der Videotext zeigt veraltete Werte, Werte von vor einer Viertelstunde, ich könnte bereits ruiniert sein und würde ahnungslos meinem Schicksal entgegen gehen, schrecklich, dieser Gedanke.
Ich rufe Bodo, unseren geschäftstüchtigen Winkeladvokaten an. Der meldet sich nach dem ersten Klingeln, ist also auch schon am Business. »Was ist mit Microsoft?«, brülle ich, und: »Morgen. Warum geht das so seltsam nach unten?« Bodo ruft zurück: »Geh nach..« und buchstabiert mir eine Internetadresse, die ich live hacke und dann abdrücke. Mein Telefon knackt am Ohr, Bodo hat wohl aufgelegt. Die ganze, verdammte Datenautobahn scheint mit Sextouristen verstopft, die Site baut sich quälend langsam auf und was ich erwartend suche, steht wie immer ganz unten und kommt zuletzt: Neue Sicherheitslücke entdeckt. Gericht ordnet Schließung an. Microsoft dementiert. Der folgende Artikel beschäftigt sich mit der Razzia bei einem industriellen Raubkopierer, der den gängigen, längst veralteten Kopierschutz zu siebenundvierzigsten Mal geknackt hat. Und MS beging die Dummheit und hat dementiert, kein Wunder, dass deren Aktien fallen.
Ich pushe einen Verkaufsauftrag ohne Limit nach Wall Street und habe innerhalb zweier, kurzer Minuten meinen heutigen Verlust verdoppelt.
Aber, alles kein Problem, ich rufe per Handy bei meiner Bank einen bereits mehrfach angebotenen Dispokredit, verpfände bei einer anderen Bank und per Festnetz mein restliches Portefeuille, führe die Gelder online auf meinem Spielgeldkonto zusammen, während ich die ostasiatischen Märkte mittels Videotext im Auge behalte.
»Neues Spiel, neues Glück.«
Microsoft erholt sich, die Frühnachrichten im Radio melden übereinstimmend, dass die Kartellrichter gnädig sein werden und ich ergattere in Hongkong dann doch noch ein günstiges Paket, das Spielgeld ist damit weg und die Hälfte meines Existenzminimums des kommenden Monats auch, aber solch einmaligen Chancen gilt es in einer Welt, in der harte Information als einzige Währung der wirklich Erfolgreichen zählt, ohne Zögern zu ergreifen, zaudern ist out, Nachdenken auch: »Der Schnellere wird überleben.«, sage ich mir und dieser verdammte Kurs fängt wieder an zu zacken, aber diesmal lasse ich mich nicht hinreißen, ich falle nicht wieder auf einen Bluff rein und gebe den Anderen die Chance, nein, ich packe noch drauf, setzte das übrige Minimum meiner Existenz, jetzt gibt’s Drahtseil und Akt gleichzeitig, alles oder nichts, der Kurs fällt immer noch, habe zu früh gekauft, finde aber, zu wahnwitzigen Zinsen, neues Geld, verpfände dafür mein fallendes MS-Package, jage durch die einschlägigen Seiten im Web, die Analysten sind sich einig, das wird noch was, also packe ich weiter drauf, bin jetzt mit allem MS, der Videotext meldet weiter fallende Kurse, rufe den Ansagedienst an, auch dessen Kurse fallen, drei gleichzeitig geöffnete Sites mit Kursen malen rot, wähle auf dem Handy Bodo an, der ist belegt, was denkt der sich eigentlich, ich sitze hier in der Scheiße und der flirtet vermutlich mit seiner Sekretärin, ich brülle in die freundliche Stimme, die mir seine Mailbox anbietet: »Geh aus der Leitung, du Nutte, hier geht’s um Geld, richtiges Geld.«, die Verbindung bricht ab, die Kurse fallen immer noch, und ich weiß immer noch nicht warum, ich falle mit den Kursen, ich habe überzogen und überreizt, alles gesetzt und einen Werteverfall gewonnen, ich kann und will nicht mehr, mit dem Reichtum wird es heute nichts, ich schalte die gesamte Elektronik aus.
»Aber Morgen!«, schließe ich diesen Tag: »Morgen bin ich der Allerschnellste.«

;)

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Auftrieb

29. April
Da war dann noch der Euro und der ließ sich einfach nicht gesundbeten.
Was vermutlich an seiner kranken Herkunft lag.


Heute landet, nach kurzem, taumelnden Sinkflug, beängstigend unsanft, ein Werbeluftschiff für ein unbekanntes Zahlungsmittel auf unserem Marktplatz.
Alle rennen hin.
Als wir auf dem Markt anlangen, erwarten uns bereits die Chefvolkswirte der örtlichen Banken mit Bergen kostenloser Handzettel. Ich nehme ein Blatt, schließlich verzichten die Banken nur höchst selten auf Bezahlung, und lese:
Not-Verkauf!!!!
Währung preisgünstig abzugeben!!!
Wenig gebraucht, Zustand neuwertig.
International
hoffentlich noch vor
dem Durchbruch.
National noch nicht eingeführt,
weswegen ein Haufen unbenutzter Münzen
und Scheine dazugehören.
Interessenten bitte im
Kommandostand melden.
Preis: VH​

Ich entere das Schiff über die rollstuhlgerecht ausgebaute Rampe und treffe im stickigen Salon den kleinen Hans, den treuen Kassenwart. »Endlich!«, springt der aus dem aufblasbaren Sessel: »Ein Interessent.« Der kleine Hans schüttelt mir mit ausdauernder Freundlichkeit so überschwänglich die Hand, dass das Luftschiff aus Sympathie zu wippen beginnt und wir kurze Zeit später voller Übelkeit in die Sessel fallen.
Als ich wieder ohne die Gefahr peinlicher Nebeneffekte sprechen kann, versuche ich den offensichtlich falschen Eindruck zu korrigieren, den der kleinen Hans von mir zu haben scheint: »Ich bin nicht interessiert. Mich hat nur meine Neugier, die mich schon öfter in Schwierigkeiten gebracht hat, in dieses Gefährt getrieben.«
»Klar. Ich verstehe.« und ich glaube, dass er wirklich verstanden hat, bis der kleinen Hans vorfährt: »Wir sind also schon beim Preispoker.«
»Nein. Ich will diese Kohle, die keiner will, auch nicht. Um keinen Preis.«
»Du bist ganz schön ausgebufft. Aber wir auch. Ich kann dir ein Angebot machen, an dem du, falls du noch einen Funken Verstand besitzt, nicht ohne Zugreifen vorbeigehen kannst.«
»Willst du mich mit Waffengewalt zu meinem Glück zwingen?«
»Das könnte ich.«, seufzt der kleine Hans, beugt sich vor, schlägt die Hände vors Gesicht und: »Aber vermutlich würde es auch nichts nützen. Keiner will das Zeug haben.« Seine Stimme unter den Händen klingt weinerlich nass: »Warum trifft es nur immer mich. Was habe ich mit dem Zeug zu tun?« Er lehnt sich wieder zurück, wischt sich die Augen mit den Jackenärmel: »Haushaltsdefizit, verschleppte Steuerreform und dann noch dieses Geld. All dies haben mir andere scharfkantig eingebrockt. Und ich soll‘s jetzt mit wundem Hals runterwürgen.« Er stampft mit beiden Füßen auf, was das Luftschiff wieder magenreizend ins Wippen bringt.
»Hör auf damit. Das hilft dir auch nicht weiter.«, brülle ich ihn beruhige an. »Wer hat dir denn diese kochendheiße Suppe eingebrockt?«
»Unser Helmut, dieser staatsmännische Bekanntheitsgrad mit dem örtlichen Gendefekt.«
»Der?«
»Wer denn sonst! Natürlich sind es immer die Anderen.« Der kleine Hans schaut mich hoffnungsvoll an. »Willst du wenigstens dieses Luftschiff haben? Ich nehm‘ auch die Banker und die Währung mit.«
»Also, weißt du, ...«, beginne ich mich vorsichtig der jetzt nicht mehr zu umgehenden Peinlichkeit zu nähern: »... weißt du, Hans, ....«, taste ich nach meinem Vorrat an gutem Benehmen in schwierigen Situationen: »Also, weißt du, Hans, es riecht mir hier zu seltsam. Muss wohl an dem Schnupfen liegen, den ich seit Kindheit mit mir trage. Ich habe hier drin wirkliche Probleme.«
»Verstehe.«, versteht der kleine Hans und versteinert sein Gesicht: »Verstehe.« Er blickt nach oben zur Decke. Dann schließt er schnell dieses für seine Zwecke nutzloses Gespräch: »Das kommt daher, dass Helmut statt dem üblichen Helium stinkendes Faulgas getankt hat.«

;)

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New Economy

3. Mai
Das Hervorbringen eigener Gedanken fördert nicht unbedingt den persönlichen Erfolg, schlimmer noch, es erweist sich als ausgesprochen hinderlich.

Heute, ich hatte die Realität erfolgreich per Web getunnelt, will ich den Tag bis zum Rand füllen und gehe zur Eröffnung von Wigalds Trittbrettfabrik.
Wigald hatte sich mit fremden Texten ordentlich in der lokalen Humorszene Ruhm erworben, jedenfalls bis er anfing daran zu glauben, dass sein Witz in der Wolle gefärbt wäre, was ihn schließlich mit einem fremden Moorhuhn kollidieren und in der Folge zu einer Art Comedy-Militaristen mutieren ließ. Und da es sich auf einem Bein und einem Karabiner schlecht steht, besonders, wenn das Sichtfeld durch einen tiefgezogenen Stahlhelm nicht unerheblich eingeschränkt wird, erhob Wigald das Nachahmungs– zum Geschäftsprinzip und eröffnete eine Fertigungsstätte für kostenlose, künstlerische Mitfahrgelegenheiten.
Er hatte in ganzseitigen Anzeigen freigiebig ein kaltes Buffet im Range eines öffentlich-rechtlichen Berufsjubiläums-Essens ausgelobt, deshalb drängt sich die halbe Bevölkerung unseres seltsamen Ortes in die Räume des aufgelassenen Baumarkts.
Drinnen ist von einem Buffet nichts zu sehen, dafür läuft mir die Troika unserer lokalen Berühmtheiten über den Weg, Hera dementiert nach links, Verona nach rechts und Stefan in Reimen:
»Ist‘s in meinem Geist mal Stille,
knüppelt schnell mein eisenharter Wille.
Deshalb zuvorderst und ergreifend schlicht,
Trittbrettfahren brauch‘ ich nicht.«
Diesen schönen Moment wählt Wigald in seiner Uniform, und ruft: »Stefaaannnn! Du hast deine Quittung hier liegen lassen.«
»Ach, wie ich höre...«, grinse ich Stefan an: »... schon im Geschäft. War wohl nötig?«
»Nee. Weißte, der armen Sau muss jemand unter die Arme greifen. Bevor er unter die Räder kommt.« Stefan belacht ausgiebig seinen zweifelhaften Gag, Hera perlt von rechts, Verona giekst von links, ich huste humorvoll in die Mitte.
Wir verstummen schnell, als Wigald mit Stefans Quittung bei uns eintrifft. Schließlich wage ich einen Vorstoß und frage Stefan: »Und welche Ausstattung wird dein Trittbrett haben?«
Wigald hallt unter seinem Helm hervor: »Vom Feinsten. Voll gummiert, wegen des Ausrutschens auf dünnflüssigem Zeitgeist. Handsigniert und nummeriert, wegen des Merchandisings. Mit ziseliertem, kombinierten Halte– und Tragegriff, wegen der von außen zugemuteten Flexibilität und dem bösen Futterneid der lieben Kollegen. Dazu unsere einmalige, weltweit patentierte Halterung, die ein schnelles, zuverlässiges, auch nicht mit Rechtsmitteln lösbares, unbemerktes Andocken am geistigen Eigentum anderer sicherstellt. Du bist ein Glückspilz, Stefan.« Der schiebt peinlich konzentriert unsichtbare Krümel mit der rechten Fußspitze zusammen. »Und den Damen geben wir eine praktische Umhängetasche kostenlos und werbefrei dazu.«
Verona und Hera zerren Stefan flüchtend hinter sich her, hoffe, sie würden noch rechtzeitig vor der Damentoilette voneinander lassen können, wegen des sonst sicherlich entstehenden, sprunghaften Anstieg des Bedarfs an Dementis, natürlich.
Ich bleibe mit Wigald überrascht zurück.
»Also du, ...«, startet der seine Vertriebsaktivitäten: »...du, als Satiriker, du müssest doch besonders an meinen hilfreichen Produkten interessiert sein. Ihr lebt noch doch nur von uns, den wirklichen Stars.«
»Ach Wigald.«, stoppe ich ihn: »Wir Satiriker surfen selten auf anderer Leute Trittbretter. Wir steigen denen lieber aufs Dach.«

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Unterschiede

6. Mai
Irgendwann, in den frühen 80ern, wurde eine geistig-moralische Wende in die Welt gesetzt.

Jetzt hat sie uns eingeholt.

Heute zelebrieren die egomanen, kleinkriminellen Vorteilsnehmer ihren 16. Jahrestag. Aus diesem, einem gegebenen, Anlass findet auf unserem Marktplatz eine akademische Feierstunde statt. Wir treffen, äußerst interessiert, dort vollständig ein.
Bodo, unser anerkannter, örtlicher Winkeladvokat, hält die Festrede:
»Liebe Freunde, Schwestern und Brüder im Geiste, meine Damen und Herren, die Sie uns noch nicht beigetreten sind, ich freue mich.
Ich freue mich, weil wir so viele geworden sind.
Und ich freue mich, dass wir inzwischen so offen auftreten können.
Weiter ist erfreulich, dass unsere Art zu denken, sich als anerkannter Standard unfairer, alltäglicher Vorteilsnahme in diesem unserem Lande durchgesetzt hat. ...«
Aus dem Hintergrund unterbricht fettiges Händeplatschen. Wir drehen uns um und sehen Helmut, unseren anerkannt bekannten, örtlichen Gendefekt.
Bodo lächelt auf Helmuts Bemühungen freundlich herab: »Danke Helmut. Und wir wissen deinen Beitrag zu unserem Werk durchaus zu schätzen. Ohne deine geistig-moralische Wende wären wir nicht hier.»
Helmut verbeugt sich vor uns, lässt auch den absolutistischen Kratzfuß nicht aus, selbst das Anheben der nicht existenten Rockschöße bildet er durch ein lächerlich anmutendes Lüften des Sakkosaums nach und wir werden wieder daran erinnert, wessen geistiger Enkel er zu sein glaubt.
»Aber,...«, fährt Bodo von oben fort und wir wenden uns von Helmut ab:»... aber sind wir nicht am Ende unseres Weges angelangt, noch ist nicht aller Tage Abend und auch ist der Krug nicht oft genug zum Brunnen gegangen, kurz, es gibt noch viel zu tun. Was uns jede überlastete Autobahnauffahrt zeigt. Viel zu Viele reihen sich immer noch uneigennützig in die Schlange ein und lassen sich widerspruchslos von immer noch viel zu Wenigen vordrängend überholen. Erst wenn wir uns alle auf der Überholspur treffen, dann, liebe Freunde, wird der wirkliche Tag der echten Einheit unseres Landes gekommen sein.«
Der geplante Effekt von Bodos künstlicher Pause wird stark durch einen vorlauten Zwischenruf beeinträchtigt: »Weil sich dann keiner mehr bewegt!«
Bodo ignoriert mich und fährt fort: »Grade in diesem üblen Zeitalter globaler Flexibilität sind wir aufgerufen, uns unter den Völkern durchzusetzen, und wenn wir das nicht leisten, sollten wir wenigstens in unserem eigenen Land damit anfangen. Suchen wir also unter allen Umständen unseren persönlichen Vorteil, auch um den Preis des Verlustes von Fairness und sozialer Verträglichkeit, schließlich brauchen wir die Schwachen nur als düsteren Hintergrund, von dem wir Starken uns kontrastreich strahlend abheben.«
Die Menge jubelt.
»Und zum Zeichen...«, Bodo hebt priesterhaft beide Arme zum gewittrig blauschwarz bewölkten Himmel: »... dieses besonderen und wunderschönen Tages enthülle ich...«, er zieht an einem Tuch, das sich die ganze Zeit über einem massigen Gegenstand gebauscht hat: »... dieses goldene Standbild.«
Wir starren alle ratlos auf das enthüllte Rindvieh, wissen nicht, ob es einen börslich anerkannten, jungen Bullen oder ein theologisch fragwürdiges Kalb darstellt.
Bodo aber erlöst uns schnell: »Und am späten Abend darf getanzt werden.«
Beschleunigend umlaufender Beifall rotiert immer schneller über unseren Markt, wir feiern schon mal den absehbaren Endsieg der prosperierenden Bewegung egomaner, kleinkrimineller Vorteilsnehmer.
Was Willi, unser örtlicher Tunichtgut, wohl falsch auslegt und deshalb von Veronas wohlgeformter Schulter den Riemen ihrer Edelhandtasche reißt.
Er kommt nicht weit, wir holen ihn ein und prügeln ihm gemeinsam die Seele aus dem Leib.
Ich überreiche Verona die blutigen Reste ihrer Tasche: »Bei uns lohnt sich Verbrechen nicht.«
Und Bodo pflichtet mir via Lautsprecher weithin hörbar bei: »Schließlich herrscht hier eine Ordnung.«

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Handel & Wandel

10. Mai
Zum Glück verläuft keine Fehlentwicklung unumkehrbar und unentwegt in immer dieselbe, falsche Richtung.

Was den Betroffenen nur ein schwacher Trost sein kann, aber Spielraum für eventuelle Hoffnung lässt.

Heute, die Vorgewitterschwüle trieb mich aus dem Haus, lande ich in Alfreds Bistro. Es ist vorwiegend leer, Alfred liefert vermutlich gerade einen seiner zahlreichen Nebenjobs ab.
Ich ziehe mir ein a-alkoholisches Kaltgetränk, setze mich an die Theke, beobachte die wenigen Passanten und vermag nicht zu entscheiden, ob diese wahrnehmbare Ausdünnung der Fußgängerfrequenz auf die zunehmende Überalterung oder eine bisher übersehene Fluchtbewegung zurückzuführen ist.
Während ich noch mit dem Abwägen der möglichen Plausibilitäten beider Varianten beschäftigt bin, füllt Helmut, unser örtlicher Gendefekt mit einem ungerechtfertigten Bekanntheitsgrad, die rechte Hälfte des Lokals mit seiner Präsenz. »Bring‘ mir mal `ne Cola!«, herrscht er mich nach sehr kurzem Warten an, und: »Wohl im Freizeitpark aufgewachsen?«
Ich schlucke die fällige Erwiderung mittels kräftiger Züge aus meinem Glas runter und ignoriere ihn sichtlich. Dann fülle ich mein Glas hinter der Theke erneut randvoll, kehre auf den Barhocker zurück und studiere den inzwischen zum Rinnsal verkommenen Passantenstrom.
Helmut bestellt mehrfach: »Ein Cola, aber flott«, »Wo bleibt mein Cola?«, »Kann ich auch eins haben?«, schließlich: »Bitte, dürfte ich ein Cola kriegen?«
Dieser Tonfall erscheint mir angebracht, ich zapfe ihm ein Gläschen und bringe es an seinen Tisch: »Dreifuffzig, und bitte passend.«
Helmut staunt offenen Mundes, bevor er seine spärliche Sprache wiederfindet: »Ich hab hier noch nie bezahlt.«
»Was sicherlich auf Alfreds Einstellung, deren Werthaltigkeit ich derzeit und öffentlich nicht bewerten möchte, zurückgeht. Aber, Alfred ist Alfred und ich bin ich und ich will Dreifuffzig, oder ich nehm‘ das Cola wieder mit.«
»Aber ich habe Durst!«
»Kommt vor. Dreifuffzig, und no Problem.«
»Und wenn ich einen Schuldschein ausschreibe?«
Ich schüttle nachdrücklich den Kopf: »Dazu braucht‘s einen guten Namen.«
»Einen Anteil an meinen sicherlich gefragten Memoiren?«
Ich zucke verneinend die Schultern: »Im Showbizz überwiegen die Ungewissheiten. Ich glaube an Bargeld.« Mit dem vollen Glas in der Hand trete ich den Rückweg zur Theke an, stelle die Cola, für Helmut gut sichtbar, ab und warte.
Draußen verflacht auch der letzte Rest des Passantenrinnsals zum vertrockneten Wüstenwadi und die Welt ist nur noch mit Helmut und mir besetzt.
Ich trinke Helmut in kurzen Abständen demonstrativ erfrischende Züge vor. Er wischt sich die schweißige Stirn, leckt sich die schuppigen Lippen, schluckt probehalber trocken und fixiert konzentriert das Glas auf der Theke, als ob er sich in Telekinese versuchen wolle.
»Dreifuffzig, und zwar in Euro.«, provoziere ich.
»Den gibt‘s doch gar nicht.«, schnauft Helmut.
»Und wem verdanken wir das?«
»Ich hab‘ so einen Durst.«, bemerkt er leise. »Wäre ein Schuldeingeständnis vielleicht hilfreich?«
»Verbunden mit einer Entschuldigung?«
»Bei wem?«
»Bei mir und allen anderen.«
Helmut denkt nach, fasst dann ungewöhnlich schnell einen Entschluss: »Warum nicht. Aber wie soll das in der Praxis gehen? Mit der Entschuldigung? Bei allen?«
Jetzt hat er mich mitten in einer akuten Einfallslosigkeit erwischt: »Keine Ahnung.«
»Ich stelle mich in die Eingangstür und brülle es in die Welt hinaus. Ist das so in Ordnung?«
»Okay.«
Helmut wuchtet sich zur Tür, holt tief Luft und ruft: «Ich bin an allem schuld. Bitte, bitte, entschuldigt. Bitte!« Er schaut fragend.
»Okay! Bevor es zu ekelhaft wird.« Ich reiche ihm das Glas, er trinkt es in einem Zug leer und geht.
Ich schreibe auf einen Bierfilz: »Lieber Alfred, bei mir hat Helmut bezahlt.« Dann gehe ich auch.
Die Welt draußen ist immer noch leer, vermutlich sind die Anderen längst weg.

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Restmenge

13. Mai
Was müssen wir von dieser Gegend halten, wenn wir unentwegt danach trachten, sie zu verlassen?


Heute stelle ich überrascht fest, dass ich seit Tagen, genauer seit Mittwoch, keinerlei Anstoß an meiner Umwelt nehmen konnte.
Ich gehe zum Fenster, stelle die Augen auf unendlich und denke nach.
Unten regt sich der gewöhnliche Verkehr, ein einzelner Wagen bahnt sich vorsichtig den Weg durch die spärlich begangene Tempo-30-Zone, ein Mann kommt von links und will nach rechts, eine Frau quert die Gasse und dann liegt das steuerfinanzierte Kunstpflaster wieder einsam. Ich warte noch Minuten, das Tableau ändert sich aber nicht mehr.
»Wo sind die?«, frage ich mich und erkunde den Ort.
Hinter dem Supermarkt, am Rande des Stadtbachs, lagern die üblichen Leute, sie haben die Einkaufswagen mit ihrem Besitz oben auf der Dammkrone geparkt und selbst liegen sie auf der wasserzugewandten Schräge in der Sonne. Die Frau in der blauen, wattierten Jacke sieht mich und ruft: »Bitte!« Ich bleibe stehen und alle krabbeln das glatte Gras des Damms hoch.
»Wir haben schon seit Tagen keine Einnahmen. Können Sie uns helfen?«
Ich forsche ihre gezeichneten Gesichter aus und finde neben der gewohnten Hoffnungslosigkeit einen neuen, mir unverständlichen Ausdruck panischer Angst. Mit: »Was beunruhigt euch denn so?«, formuliere ich die sichtliche Panik in den sicheren Bereich unterhalb der gesellschaftlich akzeptierten Betroffenheitsschwelle um.
»Das ist einfach.«, hustet der Mann mit der schlecht verheilten Hasenschartenoperation: »Keine Leute, kein Leben. Nicht mal für uns.«
Und die andere Frau, die mit den schwarzen Lippen, setzt nach: »Immer lassen die uns zurück.«
Ich ziehe die Geldbörse, verteile mein vorbeugend gehortetes Fluchtgeld, weiche den verständlichen, aber zudringlich vorgetragenen Dankesbezeugungen aus und lande auf der Sonnenseite.
Auch hier liegt alles still und leer.
Im angrenzenden Seniorentreffpunkt finde ich einen ersten Hinweis. Auf dem ausgehängten, örtlichen Veranstaltungskalender findet sich im freien Raum unter der schmalen Rubrik Jugend der handschriftliche Hinweis: Sind dann auf der Insel!
Ich rufe Nick Knattertons Regeln für den erfolgreichen Detektiv aus dem Gedächtnis auf und kombiniere gemäß Regel 1 messerscharf, dass jetzt der Besuch eines Reisebüros angebracht sei.
Und richtig, hier treffe ich Edmund, unseren langwierigen Schultheiß, zusammen mit Angie, die in letzter Zeit den schnellen Aufstieg von der Chefsekretärin zur Frisur geschafft hat.
»Wo steckt ihr denn alle?«, blaffe ich genervt, schließlich hat mir ja keiner Bescheid gesagt.
»Das haben wir uns auch schon gefragt.«, beruhigt Edmund und Angie findet noch: »Wir kommen grade aus einem längeren Urlaub zurück und niemand ist da.« »Also beschlossen wir, gleich wieder in Urlaub zu fahren.«, fährt Edmund fort, was Angie mit: »Aber die Inseln sind wohl schon alle ausverkauft, zumindest sind keine Prospekte da.« ergänzt.
Sofort, nachdem ich »Und was ist noch zu haben?« gefragt habe, wird mir klar, dass ich leichtsinnig mein Fluchtgeld unter das Volk verteilt habe und derzeit, bis auf ein werteverfallenes Aktienpaket, mittellos bin.
Angie antwortet: »Ist doch egal.« Und Edmund erläutert: »Hauptsache raus hier.« Womit Angie wieder dran ist: »Schließ dich uns an. Komm doch mit.«
»Ich störe ungern die Zweisamkeit frischer Paare.«, rede ich mich raus, trete schnell auf die Strasse und addiere mein restliches Kleingeld, welches sich zum Gegenwert eines Eiskaffees summiert.
Die italienische Eisfrau dämmert in der hintersten Eckbank ihres Lokals und schreckt auf meine Bestellung hin hoch: »Entschuldigung, aber das Geschäft ist heute ziemlich ruhig. «
Sie serviert mir den verlangten Becher, wendet sich unentschlossen zögernd der Eckbank von vorhin zu, dreht sich dann doch zurück und: »Darf ich?« »Aber ja.«
Sie setzt sich, mir gegenüber. »Wo sind die alle?» «
»Keine Ahnung. Hera singt sich, glaube ich, die Bäder der Nordküste entlang, Stefan, habe ich gehört, jenseits des Polarkreises und Verona in der Gemeinschaftsdusche von Big Brother. Grade traf ich noch Angie und Edmund, aber die waren nur auf der Durchreise. Warum sind Sie denn nicht weg?«
Sie dreht nachdenklich eine ihrer vorwitzigen, blonden Locken um den Zeigefinger ein, dann die Erkenntnis: »Aber ich bin doch gar nicht von hier.«
Wir wenden uns synchron zur Tür und warten auf Gäste.

;)

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Wiedervereinigung

20. Mai
Ein Fluchtpunkt ist ein Fluchtpunkt ist ein Fluchtpunkt... bis ihn schließlich jeder Flüchtling erreicht hat.


Heute, die vorhergehende Nacht hatte sich stillschweigend ausgeträumt und verdrückt, weckt mich störender Lärm vor meinem gekippten Fenster. »Sie sind wieder da!«, denke ich und springe aus dem Bett. Und richtig, draußen ist der Ort wie in seinen besten Zeiten belebt. Ich eile mich, kompensiere den fehlenden Waschvorgang durch eine Überdosis Deo, und haste auf die Gasse, direkt in Bodo, unseren geachteten Vorteilsnehmer und Winkeladvokat hinein: »Du bist schon auf?«
»Du ja schließlich auch. Wo warst du in der letzten Woche?«, frage ich zurück.
»Auf irgendeiner Insel.«
»Und warum?«
»Hatte so ein unbestimmtes Verlangen. Was sicherlich nicht typisch für mich ist, sonst weiß ich immer, was ich will. Aber was soll‘s, hab ich mir gedacht, wenn man es sich leisten kann.« Bodo schätzt mich kurz ab, kommt zu einem für mich wenig schmeichelhaften Ergebnis: »Muss jetzt gehen, werde sicher irgendwo gebraucht.« und rennt grußlos weg.
Mir begegnet Stefan, unser jugendlicher Medienheld, er hat noch die Reiseutensilien umgehängt.
»Wie war‘s beim Singen hinter den sieben Eisbergen?«, frage ich ihn und er nickt: »Erfolgreich, mein Lieber, sehr erfolgreich. Die verstehen halt was von Kunst.«
»Und du kommst trotzdem zu uns zurück?«
»Entwicklungshilfe, mein Lieber, tätige Entwicklungshilfe. Werde euch schon noch Geschmack beibringen.« Er schultert sein, wie ich vermute, Elchgeweih-Bündel: »Muss jetzt weiter, war schön, dass wir uns mal wieder getroffen haben, aber die Öffentlichkeit wartet.« Dann kratzt er die nächstverfügbare Kurve.
Aus der Verona, unsere unerklärliche, omnipräsente Medienfrau, erscheint, sie ruft Stefan nach: »Mach‘ weiter so!« Wir hören was wie: »Du auch.«, dann ist Stefan endgültig aus dieser Story verschwunden und Verona bei mir angelangt.
»Wie war‘s auf dem Sammelklo im Container?«
»Ach, da ich nur ein Tag da war, konnte ich mir‘s noch mal verkneifen. Und länger wollte ich auch nicht von der Insel weg.«
»Der Insel?«
»Wo wir alle waren.« Sie schaut mich frontal an. »Stimmt ja, dich hab‘ ich gar nicht gesehen.« Sie schüttelt darüber ihren verständnislosen Kopf: »Auf der Insel halt.«
»Und warum kamst du zurück?«
Sie zuckt die blanken Schultern: »Weil alle zurückgingen.« Ihre Augen werden noch leerer und sie wendet sich, sichtbar irritiert, schnell ab.
»Auch wieder da?«, frage ich Wolfgang, unseren örtlichen Zeitgeistjäger, der zusammen mit Freund Roger, seinem übergeistigten Pendant, die Strasse herunterkommt.
»Ja. Obwohl es wunderschön war.«
»Und richtig korrekt.«, trägt Roger bei.
»Und ihr seid trotzdem wieder zurück?«
»Nachdem alle dort waren...«, setzt Wolfgang an.
»... wurde es dort wie hier.«, ergänzt Roger.
Und, zweistimmig: »Was ja wohl auf Dauer nur schwer auszuhalten ist.«
Wir teilen uns auf, Wolfgang und Roger gehen ins Ungewisse, ich ins nächste Reisebüro.

;)

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