Blick vom Tellerrand Satiren für jede Gelegenheit


Spieltheorie

11. März
Wenn schon die Taschenrechner in den Chefetagen die Macht übernommen haben, ist es doch wohl logisch, dass sie auch das Internet für ihre Zwecke nutzen.


Heute, ich hatte auf den Websites der Parteien nach undemokratischen Umtrieben gestöbert, surfe ich zur Erholung Gewinnspiele suchend durchs Web.
Auf der Homepage eines kürzlich fusionierenden Kreditinstituts wird mir ein Adventure angeboten, dessen erfolgreiche Bewältigung den Gewinn des Alleinbesitzes einer ganzen Infineon-Aktie verspricht.
Obwohl mir meine Mutter die Vermeidung schlechten Umgangs nahegelegt hat und ich für gewöhnlich zu den Folgsamen im Lande gehöre, klicke ich den lockenden GO!-Button an und finde mich in der Aufgabenstellung wieder: Sie heißen Chris und sind humaner Chef einer Gesellschaft, die mit Geld noch mehr Geld verdient. Obwohl Sie diese unmoralische Tatsache bereits ausreichend menschlich belastet, haben Sie auch noch einige tausend Mitarbeiter zuviel am Hals, denn Sie wollten zwar die Kundschaft der aufgekauften Konkurrenten, mussten aber leider auch deren Personal übernehmen. Finden Sie nun eine Lösung, die in der Öffentlichkeit nicht mehr Anstoß erregt, als eine Abfindung in Höhe von 60 Mio. Sie haben dafür dreißig Minuten Zeit. Ab jetzt.
Der Bildschirm baut sich neu auf und zeigt links ungefähr 5.000 offensichtlich nichts ahnende Mitarbeiter und rechts unendlich viel Bargeld. Unten steht Kommandozeile und ein Cursor blinkt mich auffordernd an.
Ich greife virtuell nach dem Geld und einem Mitarbeiter und finde ihn großzügig für seinen Jobverlust ab. Das Spiel reagiert nicht. Noch eine Abfindung.
Ich finde mich auf der Eingangsseite wieder, zusammen mit dem freundlichen Hinweis, dass das Auskaufen von Mitarbeitern bereits erprobt sei und sich als unwirtschaftlich erwiesen habe, aber im Gegensatz zum wirklichen Leben erhielte ich vom Unternehmen eine unverdiente, aber doch zweite Chance.
Wieder baut sich der Spielplatz auf.
Grübelnd starre ich auf die beiden vorhandenen Komponenten und in mir reife die menschlich befriedigende Erkenntnis, dass das Sprichwort, nach welchem sich mit Geld alles lösen lässt, den wahren Sachverhalt zumindest nur unvollständig wiedergibt.
In der Kommandozeile blendet sich eine rückwärtstickende Digitaluhr ein und meldet alarmierende, unzureichende fünf Minuten. Mir bleibt nur noch die Taktik ungerichteter, heftiger Aktivität mit der vagen Hoffnung auf zufälligen Erfolg, also das klassisch politische Vorgehen.
»Zuerst alle zusammenrufen!«, fällt mir spontan ein und ich suche die notwendigen Mittel. Das Spiel bietet mir die Ausrüstung der Mitarbeiter mit Handys an. Ich stimme zu und rufe, per SMS, eine Versammlung im örtlichen, überdimensionierten Kongress-Center ein.
Die Mitarbeiter strömen, auf dem Bildschirm, in den Versammlungssaal, gehorchen dabei folgsam den Anordnungstafeln, die die Nutzung des Vibrationsalarms der Handys zwingend vorschrieben.
Endlich waren sie alle drin, allerdings wird meine verbleibende Zeit bereits in Sekunden gemessen. Ich muss wieder die modernen Kommunikationsmöglichkeiten nutzen, will ich nicht endgültig aus dem Spiel geworfen werden.
Nun gab es nur noch die Anwendung des gesunden Menschenverstandes der Mitarbeiter. Bei ihrer Qualifikation sollten sie sich ausrechnen können, dass sie gehen müssen. Und, sich als Klügere erweisend, nachgebend still in die Arbeitslosigkeit zu verschwinden.
»Think!«, spiele ich ihnen simultan und per SMS das Motto aus der datentechnischen Steinzeit zu, und wiederhole die Botschaft dreimal, das müssen sie einfach verstehen.
In dem virtuellen, gedrängt vollen Saal vor mir findet die Botschaft fünftausend eingeschaltete Vibrationsalarme, die wenige, verfügbare Luft folgt der induzierten Bewegung, fällt dann verstärkend auf die anregenden Vibratoren zurück, wird mit der Kraft frisch geladener Akkus wiederum abgestoßen, trifft auf menschliches Fleisch, welches diesem Ansturm hochenergetischen Infraschalls nicht widerstehen will und willig sich dem Gleichschritt der Luftmoleküle anschloss. Es brachen reihenweise Herzen.
Sie haben eine innovative Lösung der Aufgabenstellung gefunden! erscheint auf meinem Bildschirm, und weiter: Wir werden Ihre Lösung in der Praxis anwenden und, falls sie funktioniert, Ihnen den ausgeschriebenen Preis zusenden. Vielen Dank für ihre Mitarbeit. Die Seite wird jetzt geschlossen.
Das Feld meines Browsers wird leer und schwarz.
»Wird denen schwer fallen, mich um meinen Preis zu bescheißen, falls die Sache wirklich klappt.«

;)

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Abwahl


15. März
Es wird einfach mal Zeit,, die Welt leicht fassbar in Rubriken einzuteilen.
Vermutlich haben sich deshalb diese Listen seit Jahresanfang so sprunghaft vermehrt.

Heute, alle örtlichen Nebenzimmer sind von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gegen Korruption belegt, spiele ich gelangweilt mit dem verschütteten Orangensaft auf der textilfreien Kneipentischplatte. Selbst die Nachrichten aus dem Münzfernseher hinter mir halten sich in den engen Grenzen gewöhnlicher Erbärmlichkeit.
Ich leihe mir ungefragt einen harten Bleistift, der unbeaufsichtigt auf der Theke herumliegt, aus und graviere meine eigene IN/OUT-Liste in die verfügbaren, aufgeweichten Bierfilze.
Auf die Out-Seite schreibe ich:

• Listen, die mich infolge irgendeiner meiner Eigenheiten oder Eigenschaften in ihrer Out-Rubrik aufführen.

• Die durch Dummheit und/oder Politik und/oder Mutlosigkeit verursachte, bei uns grassierende Arbeitslosigkeit, die öffentliche Resignation darüber und die Tatenlosigkeit dagegen.

• Buslinien, die häufig, aber nicht regelmäßig, viertelstündige Verspätungen aufweisen, insbesondere an Tagen mit Sauwettercharakteristik.

• Das schnelle Ende eines Vorstellungsgesprächs: »Und wer hat Sie uns empfohlen? ... Niemand? ... Wir rufen Sie an. Rufen Sie nicht an.«

• Redner im Parlament, die sich wortreich über die Langsamkeit der Demokratie auslassen, was wohl bedeutet, dass sie eine schnelle Diktatur als Staatsform vorziehen würden.

• Regierungen, die bei uns die Stillegung der Atomkraftwerke öffentlich betreiben und gleichzeitig heimlich den Export mit Bürgschaften fördern.

• Abgewählte Bundeskanzler, die sich nicht stillschweigend zum Wolfgangsee absetzen.

• Noch nicht abgewählte Bundeskanzler, die eher durch ihre Gewichtsvermehrung als durch ihre Politik im Gespräch sind.

• Parlamentarier, die ihr Mandat unter dem ausschließlichen Blickwinkel des verwaltenden Beamtentums betrachten und nicht im Sinne eines unternehmenden Menschen.

• Leute, die ihr eigenes Urteil zugunsten konfektionierter Vorurteile aufgegeben haben.

• Fernsehsendungen, die selbstbezüglich aus Zitaten anderer Sendungen bestehen.

• Die verbreitete Auffassung, dass Beziehung alles und Leistung nichts bedeutet.

Ich habe alle verfügbaren Bierfilze mit Outs vollgeschrieben, und so muss mein für heute einziges In ungeschrieben bleiben:

• Wir alle wären in, wenn wir endlich was gegen die Outs unternehmen würden.

;)

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Geheimhaltung

18. März
Die Ministerin für Gesundheit und Sonstiges beschwert sich über unsere mangelnde Bereitschaft, unsere überzähligen Organe zu spenden.

Leider vergisst sie, uns zu sagen, wie wir das anstellen sollen.

Heute folge ich einem vagen Gerücht, welches besagt, dass die örtliche Organbank einen Tag der offenen Tür begehen würde. Ich werde, als einziger Besucher, freundlichst empfangen und ausführlich herumgeführt.
Wir, dass heißt der Bankdirektor und ich, beginnen in der weitläufigen Empfangshalle mit den Marmor-Verblendungen an Wänden, Decken und Böden.
Mit dem Edelstahl-Lift erreichen wir den Verwaltungstrakt im ersten Stock. »Wir haben sogar Internet.« flüstert mir der Direktor zu, und: »Aber, bitte, behandeln Sie diese moderne Errungenschaft mit äußerster Diskretion. Sie lädt ja grade zu zur missbräuchlichen Nutzung ein. Wir halten Sie deshalb vor unserem Personal geheim.«
Die Büros hinter den mit automatischen Schließeinrichtungen versehenen Türen sehen wie andere privatwirtschaftliche Büros auch aus, nur teurer. Überall herrscht konzentrierte Verwaltung.
Wir besichtigen die lange Datenbank und ich wage den alten Scherz: »Ist aber ziemlich unbequem, so zum Sitzen.« Der Direktor lächelt etwas gequält und streichelt besänftigend über das Blech seines Computers. »Soll ja auch laufen.«, spricht er die traditionelle Erwiderung.
Weiter geht es in den Bereich der Mülltrennung und Sortierung. »Wir haben uns für ein zentrales System entschieden. Damit sind wir nicht so abhängig.«
»Sie meinen, dass Ihre Mitarbeiter nicht wie gewünscht funktioniert haben?«
»Leider.«
»Das ist der Techniktrakt.«, beendet der Direktor das eingetretene, peinliche Schweigen. »Heizung. Lüftung. Klima. Kühlung. Alles computerüberwacht. Allerdings verstehe ich nur wenig davon, wenn es Sie interessiert, hole ich den Hausmeister.«
»Wird nicht nötig sein.«
Der Direktor fügt entschuldigend hinzu: »Wissen Sie, ich bin Verwaltungsfachmann.«
Wir nehmen den Weg durch die gut gefüllte Kantine, queren die gemütliche, in Anspruch genommene Ruhezone, weiter vorbei an den Mutter&Kind-Abteilen und dem anschließenden Haustiergarten, eher flüchtig durch die feuchte Luft des Schwimmbades, nicht so flüchtig an der Tür der Frauensauna entlang, dann durch die Turnhalle, in der ein Bewegungstraining läuft, schließlich im säulengesäumten Freiluftwandelgang über den eingewachsenen Hubschrauberlandeplatz zum Penthouse des Direktors: »Sie trinken doch noch einen Kaffee?«
»Gerne.«
Wir richten uns auf der Besuchercouch ein.
»Macht alles einen guten Eindruck, sehr seriös.«
Der Direktor lächelt: »Schließlich sind wir eine Bank.«
»Eine Organbank.«
»Richtig, eine Organbank.«
»Und wo sind die Organe?«
Schweigen senkt lastend über uns, der Direktor rutscht ungemütlich auf dem Polster, scharrt verlegen auf dem dankenswert antistatisch behandelten Teppichboden.
Endlich. »Ich will es mal so ausdrücken. Infolge des ungemein hohen Bedarfs geht die Verweildauer eines einzelnen Organs in unserem Hause gegen Null. Meist sehen wir das Organ nicht einmal, weil es direkt vom Spender zum Empfänger transportiert wird. Aber wir verwalten es auch in diesen Fällen mit aller ihm zukommenden Sorgfalt.«
»Und warum ist der Bedarf so hoch?«, frage ich nach.
»Weil es viel zuwenig verantwortungsbewusste Bürger gibt, die sich zur Spende bereit erklären.«
»Dann möchte ich mit gutem Beispiel vorangehen. Sie haben doch sicher ein passendes Formular für mich zur Hand. Ich hätte ja schon längst. Aber diese Ausweise sind anscheinend schwer aufzutreiben. Fast so geheim, wie Ihr Tag der offenen Tür.«
Wieder diese verlegenen Bewegungen des Direktors auf seinen Unterlagen. »Leider. Leider kann ich Ihnen nur mit dem Gesetzesauszug über die Ausführung eines Organspenderausweises dienen. Ich habe ihn mir persönlich von der Homepage des Ministeriums geholt. Vielleicht können Sie sich das fragliche Dokument ja dann in Heimarbeit anfertigen. Wenn Sie das Geschick dazu haben sollten.«
»Mach ich doch glatt. Wollen Sie auch ein Exemplar?« Ich nehme das angebotene Papier, stehe auf und gehe zur Tür: »Dann gäbe es immerhin schon zwei potentielle Spender in diesem Land.«

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Fürsorge

22. März
Wo kämen wir denn hin, wenn der Bürger sich selber seine Wege sucht?


Heute, ich will dem wahltaktischen Häuserkampf der Parteien ausweichen und nehme den in Generationen ausgetretenen Schleichweg hinter der Polizeiwache und seitlich des TÜVs, als ich am eingewachsenen Ende auf zwei städtische Arbeiter stoße, die unter der Aufsicht von Otto, unserem örtlichen Büttel für mindere Fälle wie den ruhenden Verkehr, eine ökologisch unbedenkliche Palisade errichten. Sie versuchen soeben, eines der unbehandelten, roh gesägten Bretter im Lot auszurichten, was mangels präziser Kanten prinzipiell schon nicht einfach und ohne geeignetes Werkzeug geradezu schwierig ist.
Ich frage Otto nach dem Sinn dieses Tuns.
»Was haben wir nicht schon alles versucht. Wir häuften den Grasschnitt gezielt auf. Die Leute liefen einfach drüber weg. Wir lockerten den Boden spatentief auf. Sie trampelten ihn wieder fest. Wir ließen die Randsträucher ungeschnitten wuchern. Die Zweige wurden geknickt. Wir verstopften die Regenrinne an den Polizeigaragen und überschwemmten den Pfad bereits bei kleinsten Regenschauern. Die Leute verschmutzten sich das Schuhwerk, aber sie gingen weiter durch den schmierigen Lehm. Wir entfernten den Zebrastreifen über die Hauptstrasse, an dem dieser Pfad früher endete. Und die Leute rannten unter Missachtung ihres Lebens über die Fahrbahn. Aber jetzt, jetzt machen wir Nägel mit Köpfen und tun Butter bei die Fisch, wir stellen diese fußgängerische Anarchie ein für alle Mal ab.« Otto wies stolz auf das inzwischen provisorisch angebrachte erste Brett. »Das wird diesen ungesunden Zustand beenden. Und die Leute werden endlich den vom Straßenbauamt vorgesehenen Weg nehmen müssen.«
»Wieso, wenn ich das mal so einfach fragen darf, wieso also ist euch dieser unschuldige Trampelpfad, der bereits von meinen Großeltern mit begangen wurde und also eine Tradition vorweisen kann, auf die manche Republik stolz wäre, wieso also ist euch dieser Pfad, der jeden halbwegs empfindsamen Lyriker zu jeder Menge Gereimtem oder auch Ungereimtem inspirieren würde, würden wir in unserem Ort einen solchen beherbergen, wieso also ist euch dieser Pfad ein solcher Dorn im Auge, wie sie sonst nur an den wilden Brombeerranken in der Mitte dieses Weges zu finden sind?«
Otto, der früher im Zivilberuf IT-Spezialist war, bevor er altersbedingt von der Industrie ausgemustert wurde, also auch ein Schicksal vorzuweisen hat, löste die syntaktischen Klammerebenen des og. Satzes im Kopf auf und belehrt mich: »Es ist nicht die Existenz dieses Weges an sich, die seine behördliche Verfolgung verursacht. Es ist sein ungeplantes, spontanes Sein, sein ungesteuertes Auftreten, das in keinem städtischen Wegeplan seine ordentliche Entsprechung aufweist und somit jegliche Legitimität schmerzlich vermissen lässt. Und genau jene mangelnde Legitimität gilt es zu bekämpfen, weil, prinzipiell, Illegitimes zum allmählichen Verfall notwendiger Werte führt, und, praktisch, weil wir, die Stadt einen Weg geebnet haben, der komfortabel sicher ausgeführt, auch zu benutzen ist.«
»Dieser Weg ist aber dreihundert mühsame Meter länger.«
Otto hob den sattsam bekannten, behördlich ausgebildeten Zeigefinger: »So weit sollte jeder für seine Gesundheit und Familie zu gehen bereit sein. Und für die Uneinsichtigen bauen wir das.« Er klopft auf das zweite Brett, das inzwischen seinen Platz gefunden hat.
»Und wenn der unbelehrbare Bürger, undankbar wie er manchmal sein will, sich sein Recht auf freie Entscheidung über sich selbst herausnehmen will? Was, wenn er einfach will, selbstverständlich im Rahmen des Grundgesetzes und ohne Gefahr für Leib und Leben anderer? Und vor allem, ohne Bevormundung?«
Otto nimmt die öffentliche Schildmütze ab und trocknet zerstreut sein weniges Haar, er repetiert sichtlich seine Dienstvorschrift, findet keinen entsprechenden Absatz und so gibt er schließlich die von Ordentlichkeit geprägte Antwort: »So was ist in diesem, unserem Land nicht vorgesehen.«

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Stellvertreter

25. März
Entweder war dieser Klassiker schon verdammt gut und weitblickend oder die Dummheit der diversen Obrigkeiten ist zeitlos.

Heute, die Parteien liegen infolge der Anstrengungen der von ihnen verursachten Zeitumstellung kommentarlos im Frühjahrskoma, gehe ich, den warmen Regen genießend, die Hauptstrasse entlang.
An einem der fünf städtischen Starenkästen, deren Aufgabe in der Optimierung öffentlicher Einnahmen durch die automatische Erfassung unvorsichtiger oder ortsfremder Autofahrer liegt, hat sich erwartungsvoll eine kleinere Menge Mensch versammelt.
Ich halte diese Zusammenrottung für eine unnötige Regierungsveranstaltung und weiche mutig über den Asphalt der Fahrbahn aus, lieber lasse ich mich überfahren, als in solcher Gesellschaft gesehen zu werden.
Der Starenkasten befindet in gleicher Höhe, wir sind also beide nicht abseits, da brüllt die Menge auf: »«Er hat es getan. Er hat es getan.«
Erschreckt setzte ich meine bisher gleichmäßigen Schritte für einen Moment aus und werde im nächsten von Otto, unserem Ortsbüttel für solche Gelegenheiten an der Wiederaufnahme meines ungestörten Werdeganges gehindert.
»Du musst grüßen!«
»Wen? Dich?«
»Nein. Ihn.« Otto weist auf den Kasten, der erwartungsvoll von seiner Stange einäugig glotzt. »Das hat ein bayrisches Landgericht entschieden. Wer einen Starenkasten mittels gezückten Mittelfingers beleidigt, zeigt damit seine Missachtung behördlicher Amtspersonen und wird mit einer Geldstrafe belegt. Was für dich in der Praxis bedeutet, dass dieser Kasten die Staatsmacht vertritt und von dir mit der nötigen Ehrfurcht zu behandeln ist, was wiederum bedeutet, dass du zumindest zu grüßen hast.«
»Und wo ist der Hut?«
Mit »Welcher Hut?« gibt Otto, unabsichtlich, seine klassischen Defizite zu.
»Der Gesslerhut. Wilhelm Tell. Schiller!«
»Ach. Der Hut.« Otto denkt nach: »Aber das Gericht hat doch den Kasten....«
Boshaft stoße ich weiter Salz in seine frisch anlegte Hautöffnung: »Und wo ist die Armbrust? Und der Apfel? Und vor allem, wo ist mein für diesen Vorgang unerlässlicher Sohn?«
Aber Otto hat sich wieder gefangen und zitiert aus den 10 goldenen Regeln für die erfolgreiche Behandlung geistig überlegener Delinquenten: »Du komplizierst vorsätzlich eine an sich einfache Amtshandlung und versuchst damit unzulässig ihren naturgegebenen Gang zu hemmen. Grüße und die Sache ist erledigt.«
»Und wenn ich nicht grüßen will. Sogar in Arbeitszeugnissen ist mir die Anwendung eines Grußes freigestellt und ich kann, laut oberster Rechtsprechung, nicht dazu verurteilt werden.«
»Dann...« Otto stockt. Sein an sich umfangreicher Bußgeldkatalog weist keine entsprechende Rubrik sträflicher Vernachlässigung staatsbürgerlicher Pflichten auf.
»Na?« frage ich provozierend. Was sich als dummer Fehler erweist, denn meine offensichtliche Frechheit beflügelt Ottos Gedanken: »Dann machst du dich des Widerstandes gegen die Staatsgewalt schuldig und wirst mit den dafür vorgesehenen Sanktionen belegt werden.«
»Soweit wollen wir es dann doch nicht kommen lassen.«, lenke ich feige pragmatisch ein. »Was muss ich also tun?«
»Grüße den Kasten.«
Ich habe diese ganze Vorstellung satt und, schließlich befinden wir uns ja auch nicht auf einer Bühne, sondern im wirklichen Leben: »Moijn.«
»Reicht nicht. Reicht nicht!«, ruft die umstehende Menge.
Ich versuche es erneut: »Guten Morgen, lieber öffentlicher Kasten.« und wende mich zum Gehen.
Otto hält mich auf: »Das geht doch sicher auch mit weniger Sarkasmus.«
Resigniert texte ich: »Ich grüße euch, Kasten, der ihr die Staatsmacht so trefflich verkörpert.«
Zufriedener Beifall brandet auf.
»Bleibt da.«, rufe ich der Menge zu: »Bin gleich zurück. Suche nur einen Schweizer. Vielleicht wiederholt sich dann die Geschichte auch mal zu meinen Gunsten.«

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Heimatfront

29. März
Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, jetzt treten wir der Globalisierung dorthin, wo es ihr, unserer Meinung nach, ganz gemein wehtun wird.


Heute, die Parteien leiden immer noch an überflüssigem Jetlag infolge einer eigeninduzierten Zeitumstellung, betrete ich unser örtliches Bistro, grüße freundlich zu Alfred, dem multitalentierten Wirt. Kaum sitze ich auf dem dritten Barhocker von links an der Theke, beugt sich Alfred vor und weist dezent mit seiner geteilten Kinnspitze in den gedämpft beleuchteten Hintergrund: »Hast du den gesehen?«
Meine logische Kopfbewegung wird mittels: »Nicht hinschauen!« nur unwesentlich verzögert, dann siegt meine angeborene Neugier und ich starre frontal zu dem einsamen Mann an dem Tisch, der exakt den Mittelpunkt der übrigen Tische bildet.
»Er erinnert mich an jemanden, den ich kenne, ich krieg‘ aber nicht raus, an wen.«, fasse ich schließlich meine Erkenntnisse zusammen.
»Das ist Werner, aber in Zivil.«
»Werner? Der 3-Sterne-General?«
»Genau. Der General. Unser höchstes Tier im Ort.«
»Das glaube ich nicht. Der zeigt sich doch eher nackt. Aber nicht in Zivil. Ich geh da mal hin.« Alfreds erschreckte Warnung bleibt unverständlich hinter mir zurück, als ich an den Tisch des Generals trete. Er ist es wirklich, oder zumindest eine verdammt gute Kopie.
»Grüß dich, General. Heute mal auf Urlaub und wieder zu hause?«
»Grüß dich.« antwortet er freundlich, nickt mich einladend zu einem der drei Stühle, wartet bis ich ihm frontal gegenüber sitze und sagt dann: »Urlaub ist nicht. Habe die Front gewechselt. Zu einer richtigen Aufgabe.«
»Haben dich die Auslandseinsätze unterfordert?«
Werner schlägt sich belustigt auf das linke Knie: »Gut ausgedrückt. Sind ja eigentlich nur Jobs für Polizisten. Ausschließlich Taktik gefordert, strategisches Denken nicht gefragt. Kurzatmiger Dreck halt.«
»Und jetzt? Der üblich überbezahlte Job bei einem dankbaren Lieferanten?«
»Bin doch kein Politiker. Nein. Unternehmerverband. Soll die Heimatfront organisieren. Für den globalen Wettbewerb.«
»Wie? Bomben auf Konkurrenten? Panzer überrollen ausländische Autos? Kampftaucher sprengen Butterschiffe?«
Werner bekam der Wechsel ins Zivilleben sichtlich gut, früher hätte er mich für diese Fragen von seinen uniformierten Bodyguards abführen lassen, jetzt aber stahlt er breit aus dem linken Mundwinkel: »Daran kannst du schon sehen, wie wichtig meine Aufgabe ist. Rück näher. Muss ja schließlich nicht jeder hören.«
Ich ziehe bis zwischen seine gespreizten Knie und beuge mich vor, er flüstert gut verständlich: »Es gibt zwei Fronten in diesem Weltkrieg. Da ist zuerst die Front hinter den feindlichen Linien. Zum Beispiel Unmengen schwachsinniger Patente, die mit ihrem Rauschen jede sinnvolle Erfindung bis in die Vergessenheit zudecken. Oder junge, vorgeblich unzufriedene Menschen, die zum Feind überlaufen und dort, in dessen Labors, wertvolle Kapazitäten und Mittel für sogenannte Grundlagenforschung sinnlos verschleudern. Oder Umweltaktivisten, die unsere Standards weltweit mittels infamer Gewissensbisse verbreiten. Oder einen neuen, gigantisch überhitzten Aktienmarkt, der die vielgelobte Aktienkultur unserer Gegner mit sich in die Grube reißen wird, wenn er in naher Zukunft wie eine überdrehte Seifenblase platzt. Wie du siehst, ein weites Feld. Und das ist erst die eine Seite.«
Werner bestellt per beiläufig energischem Handsignal zwei Bier, wendet sich dann wieder vollständig mir zu: »Jetzt zur Stärkung unseres Standorts. Wir müssen alle Rädchen werden. Gut geölte, lautlose, spezialisierte Rädchen im großen Getriebe unseres Landes.
Die Front braucht Spezialisten! – Die Politik schafft sie. Oder beschafft die entsprechenden, ausländischen Söldner.
Wir brauchen Nachwuchs! - Die Gesellschaft fördert den Nachwuchs, die Frauen kriegen wieder Kinder, meinetwegen aus dem Reagenzglas.
Der Markt fordert Unterordnung! - Unser Parlament verabschiedet förderliche Gesetze, unsere Verwaltungen setzen das passende Denken durch.
Das, mein Lieber, das ist Strategie, das ist eine Aufgabe für einen alten Fahrensmann wie mich, der schon in so vielen Kneipen üble Gerüche verbreitet hat.« Werner lacht über seinen eigenen Scherz.
»Und das lassen wir mit uns machen?«
»Wir sind doch Deutsche, mein Junge. Wir fühlen uns doch nur dann richtig gut, wenn der Gleichschritt unseres Hintermannes zärtlich unserer Ferse mitteilt, dass wir nicht allein sind. Das ist das Ende aller Orientierungslosigkeit. Wir liefern ein gern genommenes Feindbild. Wir erfüllen einen lange unbefriedigten Bedarf. Wir entfernen die quälende Unsicherheit aus dem alltäglichen Leben jedes Einzelnen und liefern ihm den gewünschten Halt. Wir stellen uns aufrecht jeder globalen Herausforderung.« Werner trinkt sein Bier leer.
Ich greife nach meinem Glas: »Habt ihr da nicht, mit Vorsatz vielleicht, Wettbewerb mit Krieg verwechselt?«
»So reden nur potentielle Verlierer, mein Junge. Prost.«
»Na denn. Prost!«

;)

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Wahrnehmungen

1. April
Dieses Land muss einen Doppelgänger haben, wie sonst könnte sich unsere satte Selbstzufriedenheit erklären.


Heute, die Parteien verzichten, infolge des besonderen Datums, vorsichtshalber auf offizielle Verlautbarungen und ich habe Zeit, die opake Sonne hinter dem unangebrachten Wolkenschleier durch meine Anwesenheit auf einer Parkbank zu ermutigen. Ich schließe die Augen und verliere meine Gedanken im blassen Rot des Restlichts.
Unvermittelt wird mir schwarz vor den Augen, ich blicke auf und sehe, wie Günther, unser örtlicher, verstorbener Gourmand, sich neben mir auf die damit hochbeanspruchten Planken meiner Bank fallen lässt.
Wir starren beide ignorierend grade aus.
Schließlich überwindet Günther unsere gegenseitige Abneigung: »Ist es nicht schön hier?«
»Wo?«
»Na hier.«
»Hier?«
»Hier!
Der Rasen weist einen ordentlichen Bürstenschnitt auf, kein Halm steht über. Alles ist sauber, nirgends Abfall, noch nicht mal Müllgefäße oder Glascontainer, alles sorgsam verdeckt in die Architektur eingepasst.
Kein Zuwanderer spuckt im Rahmen eines von ihm erfundenen Mannbarkeitsrituals auf die frisch geteerten Wege.
Selbst das Holz der Bänke schmiegt sich splitterfrei an die darauf Sitzenden.«
Günther blickt sich suchend um.
»Hinter uns, auf dem überfüllten Parkplatz, geben die Autofahrer sich gegenseitig höflich den Vortritt zu den freigewordenen Plätzen.
Im Einkaufscenter stellen sich die Leute ohne Murren an den kurzen Schlangen an, keiner drängt sich wichtigtuerisch vor.
Die Politiker im Rathaus daneben arbeiten an der Lösung von Sachproblemen.
Genauso wie ihre Kollegen in den anderen Regierungen in unserem Land.
Keiner ist käuflich, keiner kauft Käufliche, keiner versucht sich das Urteil der Öffentlichkeit mittels Gefälligkeitsgutachten zu kaufen.
Schuldige werden bestraft, Unschuldige freigesprochen.
Fleißige gefördert, Faule ermuntert.
Wir sind jederzeit bereit, Bewährtes für Besseres aufzugeben.
Jeder hilft, wie jeder die gebotenen Chancen nutzt.
Fehler werden verziehen, wer fällt, dem wird aufgeholfen.
Keiner ist ohne Arbeit.«
Günther blickt mich fragend an.
Ich reiße mich aus der ungefragt angebotenen, aber ersehnten Idylle: »Du spinnst ja. So ist dieses Land niemals.«
»April!«, feixt Günther: »April!«
»Blöder Scherz. Und überhaupt, bist du nicht schon lange tot?«
»Solange auch noch nicht, aber doch tot.«
»Und dann treibst du solche Scherze mit uns? Ja, darf man das?«
»Habe mich noch für keine Seite entschieden. Teste nur so mal den Spaßfaktor ab.«
»Es gibt also wirklich oben und unten?«
Günther dehnt genüsslich seinen, wie ich inzwischen weiß, Astralkörper. »Musste schon selber rauskriegen.« Er steht auf und stellt sich wieder zwischen mich und die schwache Sonne, diesmal ohne Schattenwirkung. »Allerdings, höllisch seid ihr bereits selbst zugange.«
Dann ist er übergangslos verschwunden.
Ich schließe die Augen und verliere meine Gedanken im blassen Rot des Restlichts.

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Legba

5. April
Nicht dass wir wissen müssen, woher wir kommen. Aber schaden würde es auch nicht.


Heute, der hoffnungsvolle Frühling lässt mich vorsätzlich die Politik schwänzen, grabe ich im Garten ein Loch.
Ein solches Loch ist zu Vielem zu gebrauchen, für Pflanzungen, für Gründungen von Familiengräbern oder auch zur Beseitigung belastenden Materials, was in seltenen Fällen auf dasselbe hinauslaufen kann.
Ich wühle mich eilig durch die Würze des letztjährigen Komposts, setze unsere übliche, globale Hektik in schnelle Stöße mit dem ehemals roten Schaufelblatt um, werfe hohe Bögen feuchten Mutterbodens und dampfe schließlich gesunden Schweiß mit einem Schuss gewöhnlicher Wut, den ich aus meinem fülligen Winterbauch hole.
Der anfängliche Humus weicht zähem Lehm, die Ränder des Lochs verkürzen meinen Ereignishorizont erheblich, ich singe, schaufle im Takt, genieße den wachsenden Hall der Grube, singe lauter und schneller, klatsche die Schaufel bestätigend auf die Feuchte zu meinen Füßen, schneller und fester, fester und lauter, mein Gesang bleibt hinter dem Schlagen des Schaufelblattes zurück, noch fester und noch lauter, mehr und mehr und – ich breche durch, falle samt Schaufel, Lehm und Gesang.
Das Licht, das durch den Boden meiner Grube einfällt, zeichnet ein feines, klassisches, mörtelloses, bemaltes Tonnengewölbe auf meine Netzhaut, »Alt. Kulturschicht.« entfährt es mir, bevor ich den Boden auf seine Grabbarkeit abschätze.
»Lehm, gestampfter Lehm«, stelle ich fest und lege Hand an.
Meine Schaufel schneidet satt durch den, unter der harten, aber dünnen Oberfläche, feucht saugenden Boden, ich schichte die klebenden Schollen zu einem sauberen, platzsparenden Wall, das Gewölbe ist eng und ich habe noch so viel vor. Mein Gesang ordnet sich in das Metronomgeräusch der Schaufel ein, meine anfängliche Hektik weicht ausdauernder Rationalität.
Wieder steigt mir der wachsende Rand einer Grube über den Kopf, wieder schlage ich mit der Schaufel einen gedankenlosen Takt, forsche hinter dem nahen Klatschen des stählernen Blattes nach fernen Echos, die mir weiteren Raum unter meinen Füßen melden wollen.
Über mir ruft man, ich entschlüssle die Worte absichtlich nicht, sondern verdichte weiter den Lehm vor meinen Zehenspitzen, hoffe, dass mein Durchbruch nach unten in Kürze gelingen möge.
Neben mir rieselt es, kündigt eine baldige Ankunft von oben an. Ich schlage weiter, singe lauter, versuche mit meinem Lärmen dem Eindringling den Zugang zu verlegen.
Aber wie mir der eine Rand meines Sichtfeldes mitteilt, bleiben meine Bemühungen wirkungslos, blaue Hosenbeine senken sich auf mich unaufhaltsam herab.
Zur Hose gesellt sich die Uniformjacke, zur Jacke der Helm und dann steht ein freundlicher Feuerwehrmann neben mir. Er stimmt in meinen Gesang ein, schlägt unterstützend auf seinem Koppel den Takt.
Wir singen die Strophe gemeinsam zu Ende, aber der Schwung ist dahin, ich fühle Erschöpfung, wir begrüßen uns schließlich stumm und händeschüttelnd.
Der Feuerwehrmann bietet mir ein Bergungsgeschirr an, kontrolliert dessen korrekten Sitz, ruft: »Zieht an!« und ich schwebe mühelos nach oben, zum Lichte empor.
Hilfreiche Hände stellen mich neben der Grube ab, jemand wischt durch mein Gesicht, verschmiert den Lehm in Augen– und Mundwinkel, ich knirsche Sand zwischen den Zähnen, spucke aus und frage: »Was, zum Teufel, war dass?«
»Das weiß man nicht. Aber die Republik ist voll von diesen schwarzen, sinnlosen Löchern.«
»Jedenfalls, da unten liegt ´ne Menge Geschichte rum. Könnte man sicher was draus lernen.«
»Kein Problem. Wir schütten das heute noch zu.«

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Zwangsgabe

8. April
Geld ist noch lange nicht alles, was man staatlicherseits dem Bürger abfordern kann.

Heute, die Parteien streiten mal wieder über längst von der Realität entschiedene Themen, verspüre ich Lust auf den ersten Spargel und gehe zum Markt.
Statt zwischen die üblichen Marktstände gerate ich in einen Raum, der von zwei trichterförmig angeordneten Reihen lückenlos aufgestellter Tapeziertische gebildet wird. Das Arrangement saugt mich infolge meiner Neugier ein, ich forsche das Angebot der ausgelegten Broschüren aus und werde zum Geben angeregt: Sachen, Geld und schließlich Blut. Da ich weiß, was sich gehört, gebe ich da und dort, nur von einer Blutspende sehe ich infolge ihrer Dauer ab, der immer noch intakte, frühe Ladenschluss droht.
Die Menge drängt mich weiter an den Reihen entlang einem ungewissen Ausgang entgegen und die Forderungen auf den Tischen werden deutlicher, gemahnen an Pflicht– und Schuldbewusstsein, heben Zeigefinger und drohen mit Verdammnis, sollte man nicht zur Teilung bereit sein.
Tiefer geht es hinein, die Frühlingssonne verschwindet hinter den Tischen und den dahinterstehenden Anbietern, deren Forderungen inzwischen den Tonfall öffentlicher Erpressung angenommen haben, der Trichter schließt mich immer enger ein und ich ploppe schließlich durch einen knappen Durchlass in ein freundlich möbliertes Zelt.
»Schön, dass Sie gekommen sind.«, begrüßt mich eine mir unbekannte, aber nette Frau: »Nehmen Sie doch Platz. Es wird nicht lange dauern, aber das Setzen lohnt doch.«
Ich folge der Aufforderung, setze mich, genieße kurz den wiederhergestellten Freiraum zu meinen Mitmenschen und blicke dann erwartungsvoll über den runden Bistrotisch: »Um was geht es denn?«
»Ja, haben Sie das noch nicht gemerkt?« Die Frau hebt missbilligend ihre Augenbrauen, was ihr übrigens sehr gut steht, aber sie verhindert mein angesetztes Kompliment mit: »Sie haben sich doch freiwillig gemeldet!«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hat man Sie etwa mit Gewalt hier her gezerrt?«
»Nein. Aber draußen war so ein Gedränge.« Ich zucke resigniert die Schultern. »Wo konnte ich denn sonst noch hin?«
»Na also!«, freut sich die Frau, die bisher einen so netten Eindruck gemacht hat: »Niemand hat Sie gezwungen. Und wie nennt man das?«
Ich gebe auf, und dann sind da immer noch die missbilligenden, aber reizvollen Bögen ihrer Augenbrauen: »Freiwillig!«
»Genau. Sie sind freiwillig hier. Und Sie wollen Gutes tun.« Ihre gehobenen Bögen glätten sich, werden durch die ruhige Wärme eines ebenso reizvollen Lächelns schnell ersetzt, ich bleibe ihr hilflos ausgeliefert: »Ich bin freiwillig hier. Und zwar um Gutes zu tun.«
»Dann wollen wir mal.« Sie greift unter den Tisch, ihre Hand kommt mit einem amtlich aussehenden Bogen zurück, sie, die Frau, richtet einen Kugelschreiber in der anderen Hand schreibbereit ein, konzentriert sich, was ihr jungmädchenhaft gut steht und mich ihr mittels anerzogenem Schutzreflex ausliefert, das Casting für diese Veranstaltung hatten absolute Profis durchgezogen, denke ich noch.
»Also, Ihr Lebensjahr hat 8760 Stunden, wobei Ihnen eventuelle Schalttage selbst überlassen bleiben. Sie sind freiwillig bereit, der Gesellschaft davon ein Prozent zu überlassen. Ja?« Sie kuckt kurz hoch, ich nicke bestätigend. Sie schreibt: »Das wären etwas mehr als 87 Stunden, was eine ziemlich blöde Zahl gibt, also sagen wir mal 52 Wochen hat das Jahr, Sie geben zwei Stunden in der Woche, macht 104 Stunden. Ihren Ausweis, bitte.«
»Wofür 104 Stunden?«, frage ich, während ich meine Geldbörse mit dem amtlichen Dokument ziehe.
»Ehrenämter. Welche, bleiben Ihnen überlassen. Schließlich sind wir ein freies Land.« Sie notiert meine Daten, gibt den Ausweis zurück: »Danke, das war‘s.«
Ich wage einen persönlichen Vorstoß: »Nachdem das nun geklärt ist, würden Sie mit mir Essen gehen?«
»Wir dürfen uns mit Kunden nicht privat verabreden. Tut mir leid. Da drüben ist übrigens der Ausgang.«
Dort finde Peter, den verbissenen Fraktionschef einer unserer örtlichen Volksparteien, und bemerke: »Habt ihr mich mal wieder schön drangekriegt.«
»Was sollen wir denn machen. Nachdem die Besteuerung in Form von Geld die Verfassungsgrenze nach oben überschritten hat, bleibt uns doch nur noch die Lebenszeit der Bürger.«

;)

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Transit

12. April
Bei den sog. wilden Völkern spielt die gemeinschaftliche Beschwörung eine zentrale Rolle im öffentlichen Leben.

Und wenn es gar nicht mehr weitergehen will, werden wir auch ganz schön wild.

Heute, während wir zum weißen Rauschen nachlässig eingestellter Fernsehapparate meditierten, warteten wir auf die vollständige Dunkelheit. Endlich ist es soweit und wir ziehen geschlossen in die feuchten Wiesen vor unserem Ort.
Den Anführer gibt Helmut, unser örtlicher Gendefekt mit dem hohen Bekanntheitsgrad, er wird flankiert von Joe, dem langlebigen Landrat mit dem Bauchladen voller Traktate und Gerhard, dem mediengerechten Kreistagsvorsitzenden. Dahinter reihen sich zum Beispiel Bodo, der geachtete Winkeladvokat, Verona, die unerklärliche Berühmtheit, Stefan, der jugendliche Medienstar, Hera, die zwanghaft Kulturige, der kleine Hans, der einen blassen Kassenwart verkörpert sowie alle weiteren Bewohner unseres überschaubaren Ortes auf. Ich markiere den Schluss.
Von der anderen Seite nähert sich die Angie mit dem politischen Waschzwang, begleitet von ihren Adjutanten, an deren Namen sich noch niemand gewöhnt hat und die deshalb anonym bleiben.
Wir alle haben in den vorangegangenen Tagen ordentlich gesetzestreu trockene Scheiter zu Haufen geschichtet, sie stehen lichtlos schwarz zwischen uns in der frühen Nacht.
Gerhard ruft: »Hat jemand mal Feuer?« Und der kleine Hans wirft sich vor dem nächstbesten Haufen auf die Knie und zündelt ziemlich lange herum, dann aber schlagen die Flammen endlich hoch und wir verteilen die brennenden Scheite.
Bald umgibt uns vollständig ein flammender Kreis.
Wir brechen in Hochrufe aus: »Möge das Fest beginnen!«
Helmut gebietet Schweigen, wir gehorchen, wie gewöhnlich, schnell und ohne Widerspruch. »Kommt näher!«, fordert er uns auf und wir ziehen den dunklen Kreis im Feuerschein enger. Hera taucht spürbar neben mir auf, aber bevor ich die Situation nutzbringend erfasst habe, schiebt ihr neuer Freund seine Hand zwischen uns und ich nehme Abstand. Was mich mit Verona in sanfte, angenehme Berührung bringt, die allerdings auch einen neuen Freund hat und von selbst abrückt, schließlich stehe ich eng, aber alleine.
Helmut fährt fort: »Vor Jahr und Tag, als wir hier zuletzt zusammenkamen, wurde ich noch von allen geachtet und jeder hörte auf mein Wort. Schlimme Dinge haben sich seither ereignet, böse Geister aus der einer dunklen Vergangenheit beschmutzten mein Ansehen, andere haben Lügen erfunden und viele andere, unter anderem auch ihr, haben sie kritiklos geglaubt. Dabei ging es immer nur um die höhere Sache, um die Organisation, um die Partei. Meine Partei!« Helmut platscht bekräftigend mit beiden Fäusten auf seine fleischige Brust. »Meine Partei!«
Wir freuen uns über seine deutlichen Worte und fallen, unser Gewissen beschwichtigend, in seinen Singsang ein: »Seine Partei! Seine Partei!« Helmut und wir finden kein natürliches Ende für unseren Wechselgesang und so ist es schließlich Angie, die wütend glühendes Holz zwischen uns wirft.
Sie geht zu Helmut. Zischt ihm, für alle gut verständlich, zu: »Halte dich gefälligst an deinen Text!«
Helmut wischt umständlich sich die Stirn. »Nie wollte ich Schlechtes tun, wenn es sich auch anders darstellt, immer wollte ich das Beste für meine Partei.« Wir fallen in schlechte Gewohnheiten und den Wechselgesang zurück: »Seine Partei!«
Angie schüttelt traurig den Kopf und, wir wollen sie mit unserem Gehorsam aufheitern, wir verstummen sofort. Sie hat offensichtlich die Macht.
Helmut schleicht sich aus unserm Kreis und verliert sich in der unruhigen Dunkelheit.
»Wir sind wieder da!«, ruft Angie. »Niemand soll glauben, dass er an uns vorbeikommt!« Sie blickt zu Gerhard, dem gegnerischen Führer.
»Und es ist gut, ..«, ruft der: ».. dass ihr wieder da seid. Nur so werden die Leute den Unterschied erkennen. Und wählen können.«
»Genau!«, ruft Angie. Und: »Genau!« rufen wir, und wir rufen es mehrfach.
Angie winkt ihren Adjutanten und die zerren ein aufrecht stehendes Sinnbild aus der Nacht. »Ein Zeichen! Zum Neuanfang! Für alle!«
Wir werfen die Kleider und die Unterschiede und dann uns ins feuchte Gras.
Später steige ich über die nackten, schlafenden Körper und taste mich im glimmenden Licht zu dem neuen Zeichen, treffe dort den kleinen Hans, der was von Materialien versteht und deshalb mit einem Taschenmesser schabend Oberflächenproben nimmt.
»Und?«, frage ich ihn.
»Was und? Derselbe Dreck und Letten wie immer halt. Was hast du denn gedacht?«

;)

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