Vier Freunde gehen durch einen Wald. Sie machen gemeinsam eine Wanderung. Der eine ist Botaniker. Er hat stets Notizbuch und Bleistift in der Hand. Er ist ganz aufgeregt über die vielen Pflanzen, die er dort zu Gesicht bekommt, und notiert sich ihre Namen. Wenn er auf ein ihm bisher unbekanntes Gewächs trifft, zeichnet er es ab, um es später genauer bestimmen zu können. Der nächste ist Förster. Da im Sommer auf diesen Landstrich gewöhnlich kein Tropfen Regen fällt, denkt er einzig und allein daran, wo er zur rechten Zeit kleine Brände legen kann, um das Unterholz auszudünnen und so der plötzlichen Zerstörung durch einen großen Waldbrand vorzubeugen. Der dritte ist Naturschützer. Er sieht, dass dieser Wald noch ganz unberührt ist, und denkt sofort daran, sich mit Eingaben an die richtigen Verwaltungsstellen zu richten, damit er auch für zukünftige Generationen in diesem Zustand erhalten bleibt. Der vierte und letzte hat eine Viehzucht und betreibt Milchwirtschaft. Seine Gedanken gehen deswegen in eine ganz andere Richtung. Er sieht nur, welche Flächen man roden könnte, um möglichst viel Weideland zu bekommen. Der jetzige Zustand ist seiner Meinung nach nur eine Verschwendung von gutem Grund und Boden.
So haben sie also alle ein anderes Bild von dem Wald. Jeder Standpunkt ist für sich vollkommen schlüssig. Es kann gar nicht anders sein.
Dabei gibt es noch Dutzende von anderen Möglichkeiten, den Wald zu betrachten, wie wir auch jeden anderen Aspekt des Daseins aus unzähligen Blickwinkeln erfassen können. Wir betrachten grundsätzlich alles von unserem eigenen Gesichtspunkt aus: Vom Gesichtspunkt des Försters, Viehzüchters, einer Frau, eines Buddhisten, eines Senioren, eines Jugendlichen.
Kommen wir zu unseren vier Freunden zurück. Sie haben jeder ihren Standpunkt, und jeder dieser Standpunkte hat seine Vorzüge. Aber keiner sieht das Ganze. Sie sind jeweils nur eine Teilsicht, die uns zusagt, weil sie unseren Vorlieben und Abneigungen und unserer besonderen Form der Ich-Identifizierung Rechnung trägt.
Mit jeder Entscheidung, jeder Wahl, die wir treffen, produzieren wir Kamma. Im Wachzustand treffen wir fast permanent irgendwelche Entscheidungen. Einige sind nebensächlich. Andere haben durchschnittliche Konsequenzen. Das Leben besteht gewöhnlich aus Durchschnitts-Momenten. Es zeichnet sich im allgemeinen nicht durch eine Häufung von absoluten Hoch- und Tiefpunkten aus. Zumeist verläuft es in eher eintöniger Gleichförmigkeit. Wir stehen nicht permanent vor schweren, folgenreichen Entscheidungen.
Trotzdem sind auch unsere kleinen Entscheidungen wichtig. "Wie verhalte ich mich in dieser Situation? Wie reagiere ich auf diese Anforderung? Was fühle ich bei diesem Menschen? Wie gehe ich mit den gegebenen Umständen um? Was spielt sich gerade in meinem Geist ab? Ist es hilfreich? Nützlich? Heilsam?"
Ayya Khema