Joey
Sehr aktives Mitglied
Das zieht (in meinen Augen) nicht, wenn es um Kriegsverbrechen geht.
Verständlich. Es geht um Verbrechen und Leid, was wir uns nicht wirklich vorstellen und somit auch nicht ermessen können. Und trotzdem muss da ein Gericht sich ein differenziertes Bild machen. Und ebenfalls müssen wir als Gesellschaft uns möglichst davor hüten, in Schuldsprüchen und Strafwünschen uns hochzuschaukeln.
Welche milderen Umstände soll es geben, wenn eine Partei Kampfgas benutzt oder z.b die Zivilbevölkerung aushungert.
Möglicherweise gar keine. Ich weiß es nicht. Wenn ich anfange, welche zu suchen (ohne guten Überblick auf alle nötigen Fakten) kann man mir entweder Euphemismus oder überbordende Empörung vorwerfen. Neutral bin ich da sicher nicht. Es geht um unsagbar schweres und viel Leid und Tod von sehr vielen unschuldigen Menschen. Ob irgendwelche mildernden Umstände vorliegen, muss das Gericht überprüfen, spätestens falls es zum Prozess kommt.
Generell geb ich die Recht, aber in dem Kontext seh ich das nicht.
Ich vertraue aktuell darauf, dass der internationale Gerichtshof seine Arbeit gut erledigt - und damit meine ich auch den Ankläger, egal, woher er kommt oder wo er wie studiert hat. Er hat sicher seinen Posten nicht grundlos inne, sondern sehr wahrscheinlich, weil er ein verdammt guter Jurist ist.
Mit dem Antrag auf Anklage habe ich damit auch kein Problem - erst recht nicht im Rahmen der Berichte, was im WJL alles vorgefallen ist und wie begangen wurde.
Ich habe aber ein Problem damit, wie Politik und Gesellschaft jetzt teilweise damit umgehen. Da gibt es nunmal auch Leute, die sich nicht nur darüber freuen, dass ein Antrag auf Anklage über Kriegsverbrechen gestellt wurde, sondern die aus dieser Anklage heraus ihre antisemitische Propaganda bestätigt wähnen (wie schon gesagt: Ich meine damit niemanden hier im Thread). Das brauch und soll den Ankläger und den Gerichtshof nicht interessieren, aber uns muss es interessieren, damit wir in der Reaktion nicht überborden oder verharmlosen. Das Gericht ist idealerweise trainiert dazu, ein differenziertes und fundiertes Urteil zu fällen; aber ein leider nicht kleiner Anteil der Gesellschaft kann das nicht.
Ebenso falsch erachte ich es, jetzt anhand der Herkunft des Anklägers o.ä. so zu tun, als wäre die Anklage gebiast und somit automatisch gegenstandslos. Auch DAS können wir als Gesellschaft in einer aufgeheizten Debatte nicht wirklich beurteilen. Auch das ist die (schwere) Aufgabe des Gerichtshofs.
Eigentlich nicht, weil es zwei vollkommen unterschiedliche Dinge sind. Bei Kriegsverbrechen geht es ja in erster Linie um unverhältnismäßige Wahl der Mittel. Die Hamas jagen und verfolgen ist ok. Palästinenser gezielt auszuhungern, damit sie sich gegen die Hamas wenden, eben nicht.
Auch dann muss das Gericht berücksichtigen, dass durchaus die nachvollziehbare Notwendigkeit besteht, sich gegen die Hamas zu verteidigen, was aber offensichtlich unverhältnismäßig stark überdreht wurde und im Gegenzug selbst zu Kriegsverbrechen führte.
Um da mal ein Beispiel aus dem kleineren Strafrechts zu bringen: Es gab mal einen Fall, dass ein Mann (nennen wir ihn mal Alfred) einen zweiten Mann (nennen wir ihn Bernd) mit einem Messer angegriffen hat und versucht hat zu erstechen. Bernd konnte den ersten Angriff abwehren und hat Alfred danach erschossen. Vor Gericht plädierte er bzw. sein Anwalt, dass es Notwehr war. Tatsache war aber, dass Bernd Alfred in den Rücken geschossen hat, also als sich Alfred gerade von Bernd weg bewegte, so dass keine unmittelbare Gefahr in dem Augenblick für Bernds Leben bestanden hat. Nach Ansicht des Gerichts hat Bernd also unverhältnismäßig gehandelt, und er bekam eine Haftstrafe. Bei der Höhe der Strafe muss trotzdem als mildernd einbezogen werden, dass das ganze im Kontext eines vorrangehenden Messerangriffs stattfand. Ich weiß gerade nicht mehr, wie hoch diese Haftstrafe in diesem speziellen Fall (den es wirklich gab und ich aus dem Gedächtnis berichte) genau war, aber es war geringer als das, was normalerweise bei Tötungsdelikten, bei denen ebenfalls Tötungs- oder mindestens Verletzungsabsicht besteht, gegeben wird. Der Kontext wurde da also durchaus als mildernder Umstand gewertet.
Wie weit das hier im Nach-Ost-Konflikt möglich ist... ich weiß es nicht, und wenn ich versuche zu öffentlich auseinanderzudröseln würden mir entweder einige Leute Euphemismus vorwerfen (durchaus verstehbar und möglicherweise auch zu Recht), oder antisemitische Hetze, je nachdem in welche Richtung meine Betrachtungen dann konkret gehen würden.