2.1.2 Esoterik
Ein Abgrenzen von Spiritualität und Esoterik erscheint schwierig. Dahlke beschreibt als Wurzel der Esoterik den Ausdruck »esoteros«, der den inneren Kreis von Pythagoras´ Schule beschreibt (siehe Kap. 2.2.1.2, S. 56). Dem entsprechend steht »exoteros« für die größere, äußere Schülerschaft:
Dem gegenüber sieht Dethlefsen die Wurzel der Esoterik in der von Hermes Trismegistos verfassten »Tabula smaragdina«. In dieser habe er „ die Quintessenz aller Weisheit in fünfzehn Thesen“ 46 niedergeschrieben (siehe Tab. 1, S. 12). Ebeling weist dabei auf die Schwierigkeit hin, Texte einer historischen Figur zuzuschreiben, deren Existenz ebenso verschwommen bleibt wie die Anzahl und Art der von ihr verfassten Texte. Historisch stehen mehrere Theorien im Raum, nach denen sich hinter Hermes Trismegistos verschieden viele Personen verbergen könnten.[47]
Tab. 1: 15 Thesen der Tabula smaragdina des Hermes Trismegistos
1. Wahr ist es ohne Lüge, gewiß und aufs allerwahrhaftigste. | 9. Die Erde mußt du scheiden vom Feuer, das Subtile vom Dicken, lieblicherweise mit einem großen Verstand. |
2. Dasjenige, welches Unten ist, ist gleich demjenigen, welches Oben ist: Und dasjenige, und welches Oben ist, ist gleich demjenigen, welches Unten ist, um zu vollbringen die Wunderwerke eines einzigen Dinges. | 10. Es steiget von der Erden gen Himmel, wiederum herunter zur Erden, und empfänget die Kraft der Oberen- und Unteren-Dinge. |
3. Und gleich wie von dem einigen GOTT erschaffen sind alle Dinge, in der Ausdenkung eines einigen Dinges. Also sind von diesem einigen Dinge geboren alle Dinge, in der Nachahmung. | 11. Also wirst du haben die Herrlichkeit der ganzen Welt. Deroberhalben wird von dir weichen aller Unverstand. Dieses einige Ding ist von aller Stärke die stärkeste Stärke, weil es alle Subtilitäten überwinden und alle Festigkeiten durchdringen wird. |
4. Dieses Dinges Vater ist die Sonne, dieses Dinges Mutter ist der Mond. | 12. Auf diese Weise ist die Welt erschaffen. |
5. Der Wind hat es in seinem Bauche getragen. | 13. Daher werden wunderliche Nachahmungen sein, die Art und Weise derselben ist hierin beschrieben. |
6. Dieses Dinges Säugamme ist die Erde. | 14. Und also bin ich genannt Hermes Trismegistos, der ich besitze die drei Teile der Weisheit der ganzen Welt. |
7. Allhier bei diesem einigen Dinge ist der Vater aller Vollkommenheit der ganzen Welt. | 15. Was ich gesagt habe von dem Werk der Sonnen, daran fehlet nichts, es ist ganz vollkommen. |
8. Desselben Dinges Kraft ist ganz beisammen, wenn es in Erde verkehrt worden. | |
Nach: Dethlefsen, T. (31. Aufl.) 1990, S. 28f
Da Dethlefsen die Quelle seiner Übersetzung schuldig bleibt, folgt – der Vollständigkeit halber – eine lateinische Version. Sie ist nach Kopp eine von mehreren nur wenig voneinander abweichenden Varianten[49]:
Verum, sine mendacio, certum et verissimum. Quod est inferius est sicut quod est superius, et quod est superius est sicut quod est inferius, ad penetranda miracula rei unius. Et sicut omnes res fuerunt ab uno, meditatione unius, sie omnes res natae fuerunt ab hac una re, adaptatione. Pater ejus est sol, mater ejus est luna. Portavit illud ventus in ventre suo. Nutrix ejus terra est. Pater omnis telesmi totius mundi est hie. Virtus ejus integra est, si versa fuerit in terram. Separabis terram ab igne, subtile a spisso, suaviter, magno cum ingenio. Ascendit a terra in coelum, iterumque descendit in terram, et recipit vim superiorum et inferiorum. Sic babebis gloriam totius mundi. Ideo fugiet a te omnis obscuritas. Haec est totius fortitudinis fortitudo fortis, quia vincet omnem rem subtilem, omnemque solidam penetrabit. Sic mundus creatus est. Hinc erunt adaptationes mirabiles, quarum modus est hie. Itaque vocatus sum Herme3 Trismegistus, habens tres partes philosgphiae totius mundi. Completum est, quod dixi de operatione solis.[50]
Die fünfzehn Thesen, die Dethlefsen als Tabula smaragdina aufführt, erscheinen auf den ersten Blick wenig verständlich bis nichts sagend. Ihre Niederlegung in dieser Arbeit mag Interessierten wie Kritikern einen Eindruck der komplexen und letztlich wohl auch verschlüsselnden Sprache vermitteln, mit der alte esoterische Weisheiten vor „Unwissenden“ verborgen bleiben.
Für Bernhardt geht die substantivistische Form »Esoterik« auf Eliphas Lévi (1820–1875), einen französischen Kabbalisten, zurück:
Zu dieser Zeit bezeichnete «Esoterik» - nahezu bedeutungsgleich mit «Okkultismus» - die theosophischen Weisheitslehren (wie die Rosenkreuzer, die Templer oder die Theosophie von Helena Blavatsky, die den dritten Band ihrer Geheimlehre «Esoterik» nannte), aber auch magische Praktiken, Mantik, Alchemie, Astrologie usw.51
Dahlke kritisiert die Esoterikszene des ausklingenden letzten Jahrhunderts: Einst bedeutungsvolles Wissen wurde zu wertloser und zwielichtiger Massenwahre. Das gehütete Wissen vergangener Generationen wurde dabei stark simplifiziert und verfälscht:
Geistige Überlegenheit im Berufs- und Partnerbereich wird ebenso versprochen wie materieller Reichtum durch richtiges Beten, ewige Jugend und Unbesiegbarkeit. Allerdings wäre (…) zu bedenken, daß weder die Esoterik für den Mißbrauch verantwortlich ist, dem sie momentan unterliegt, noch Medizin und Religion für all das anzuklagen sind, was in ihrem Namen verbrochen
wurde und immer noch verbrochen wird.52
Bernhardt und Nägeli beschreiben diesen Wandel ebenfalls. So konzertiert Nägeli, Esoterik bringe unzählige Angebote auf den öffentlichen Markt der Religionen und Weltanschauungen. In ihrer rasanten Entwicklung könne man gar eine zukünftige Weltreligion erblicken[53]: In Basel, dem Zentrum des Esoterikmarktes, fänden neben Psi-Tagen, die »Nacht des Heilens« und die Esoterik-Messe »Aura« statt. Esoterik könne als zukünftige Weltreligion des Geistes angesehen werden: Ihr Lebenselixier schöpfen sie dabei aus den Quellen unterschiedlicher Weisheitsüberlieferungen und bilden „daraus neue Formen der Spiritualität“[54].[55]
Nach Dethlefsen ist der esoterische Weg „einer der steten Wandlung, der Veredelung von Blei zu Gold. Der Weise (…) sucht nicht mehr nach dem Glück, er hat es gefunden – in sich selbst“.[56] Esoterik bedient sich zahlreicher Techniken, beispielsweise „Astrologie, Kabbalah, Tarot, Alchemie, Magie, Yoga, Meditation, I Ging“[57].
44 Dethlefsen, T. (31. Aufl.) 1990, S. 84
45 Dahlke, R. (3. Auf.) 1995, S.16
46 Dethlefsen, T. (31. Aufl.) 1990, S. 28
47 Ebeling, F., (2. durchgesehene Aufl.) 2009, S. 23f
48 Ebeling, F., (2. durchgesehene Aufl.) 2009, S. 22f
49 Kopp, H., 1869, S. 377f
50 Ebenda, S. 3772 Einblicke in relevante Themen und Disziplinen
51 Bernhardt, R., Spiritualität im Spannungsfeld von Esoterik und christlicher Tradition in Leutwyler, S.
& Nägeli, M. (Hrsg.), 2005, S. 63-76, Zitat: S. 67
52 Dahlke, R. (3. Auf.) 1995, S.16f
53 Nägeli, M., Spiritualität und Wissenschaft: Eine Übersicht in Leutwyler, S. & Nägeli, M. (Hrsg.),
2005, S. 27-47, S. 31
54 Bernhardt, R., Spiritualität im Spannungsfeld von Esoterik und christlicher Tradition in Leutwyler, S.
& Nägeli, M. (Hrsg.), 2005, S. 63-76, Zitat: S. 68
55 Vgl. ebenda
56 Dethlefsen, T. (31. Aufl.) 1990, S. 87
57 Dethlefsen, T. (31. Aufl.) 1990, S. 252 Einblicke in relevante Themen und Disziplinen
[Hinweis: Der Länge wegen bekommt jedes Unterkapitel einen Beitrag]