Wenn ich aber NICHT wählen gehe, entgehe ich damit keinesfalls irgend einer Form von Beherrschung. Das ist dann eine stillschweigende Zustimmung, anderen völlig die Entscheidung zu überlassen.
Der Beherrschung entgehst du mit dem Nichtwählen nicht. Du stimmst jedoch nicht explizit dem Beherrschtwerden zu. Dass Nichtwähler stillschweigend zustimmen würden, ist eine mögliche Interpretation ihres Verhaltens, jedoch nur eine von vielen möglichen, wird aber gern in den Fokus gerückt. Würden die Stimmen derer, die nicht wählen, ebenfalls gezählt als "enthalten", sähen die Wahlergebnisse schon ganz anders aus. "Stillschweigende Zustimmung" als Interpretation bringt den noch nicht ganz entschlossenen Wähler/Nichtwähler in eine unangenehme Lage: Wählt er irgend etwas, damit er gewählt hat? Geht er zur Wahl und macht seinen Stimmzettel ungültig? Oder geht er konsequent nicht wählen? Egal, wie er sich entscheidet: Wenn er sich die Interpretation, nicht zu wählen, bedeute, schweigend zuzustimmen, zu eigen macht, dann hat er in jedem Fall "Bauchweh", weil er nur zwischen mehreren Übeln wählen kann.
Nichtwählern wird gern Desinteresse oder Politikverdrossenheit unterstellt. Wenn man einer Partei direkt schreibt, weshalb sie einen nicht mehr erreicht, dann ist sie dermaßen brennend an deiner kostbaren Wählerstimme interessiert, dass sie überbordend reagiert - nämlich gar nicht. Wäre ich tatsächlich politikverdrossen, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, diverse Parteien auf diversen Ebenen (Kommune, Land, Bund) anzuschreiben und mitzuteilen, was mich an ihrem Programm und ihrem Tun stört und was für mich wichtige Punkte wären, um sie zu wählen.
AFD und FPÖ suggerieren übrigens: “Wenn du dein Kreuz bei uns machst, wirst du von der Beherrschung befreit! Wir agieren nämlich wirklich im Interesse des Bürgers...Wir setzen uns wirklich für das Volk ein! Wir machen das, was eure (in Wahrheit undemokratischen) Beherrscher nur versprochen haben!“ Und schon kleben viele Wahlkreuzchen auf dem Papier wie die Fliegen auf dem Leim.
Das tun nicht nur AfD und FPÖ. In D hieß es auf den CDU-Plaketen: Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben. Das suggeriert ebenfalls, dass "unsere" Interessen bei der CDU in guten Händen seien. Nur: Wer ist denn "unser Land" und wer ist "wir"? So etwas bleibt offen. Wer Wahlparolen hinterher rennt, egal, von wem sie in der Gegend hingepappt werden, läuft Gefahr, sich von hohlen Sprüchen verführen zu lassen.
Diese ganze Wahltheater dient meines Erachtens dazu, zu suggerieren, man habe ein Wörtchen mitzureden bei der Art und Weise des Beherrschtseins. Das ist mitnichten so. Angeblich leben wir in Demokratien. Seltsamerweise geht es in einem sehr wichtigen Lebensbereich kein bisschen demokratisch zu, sofern man nicht sein eigener Chef ist.
Das Direktionsrecht der Arbeitgeber ist derart weitreichend, dass er, der AG, dir diktieren kann, wie du dich kleidest, wie du dich zu frisieren hast, wann du zu schlafen, zu essen und trinken hast, wann du pinkeln gehen darfst, wann du Urlaub nehmen darfst usw. Wenn du Glück und einen Beruf hast, wo es freie Stellen wie Sand am Meer gibt, könntest du einer besonders unangenehmen Firma den Rücken drehen. Hast du dieses Glück - beispielsweise basierend auf Selektion spätestens in der Schule - nicht, hast du gelitten, darfst dich herumkommandieren lassen und mit großer Freude und viel Motivation Dinge tun, die du freiwillig (ohne den Zwang, Lohnarbeit verrichten zu müssen) nicht mit der Kneifzange anfassen würdest. Die großartige Freiheit besteht darin, diesen Laden verlassen zu können, um dich anderweitig zu verdingen oder dich vom Arbeitsamt drangsalieren zu lassen, sofern du nicht anderweitig existentiell abgesichert bist.
Diese Zwänge und Zumutungen, dieses an eine Monarchie der ganz alten Sorte erinnernde Gebaren der "Herrschaften" namens Arbeitgeber, finden statt in einem Land, das sich selbst als demokratisch verfasst bezeichnet. Und so eine Veranstaltung soll ich per Kreuzchen auf dem Wahlzettel bejahen?