Regina.Svoboda schrieb:
Ich spreche die an, die Zweifel haben
Ja! Verdammt noch mal, jetzt seh ichs!
Ich hatte immer Zweifel. Ich schaute meine christlichen Eltern an - mein Vater ist Seelsorger, studierte Theologie - ich schaute sie an, und begriff nicht. Ich begreife heute noch nicht. Ich habe einmal ein Interview mit meinem Vater gehört, in dem er sagte: "Ich zweifle an vielem, aber an meinem Glauben zweifle ich nicht."
Wie kann er das sagen? Wie kann er sowas wirklich und wahrhaftig von sich geben? Jetzt versteh ich's, dank dir, Regina. Auch meine Mutter hat(te) Zweifel, sie zweifelt offenbar eher noch an ihrem Glauben als mein Vater. Aber sie macht dann immer irgendwo halt. Vermutlich aus Trägheit geht sie nicht weiter. Ebenso meine Schwester, so weit ich das sehen kann.
Ich glaube nicht an Gott oder eine Religion, ich glaube an den Zweifel. Ich habe die Vorstellung Gottes (entgegen den mir in einem christlichen Umfeld entgegengebrachten versteckten Widerständen) aufgeben müssen, weil sie sich nicht mit meinem Zweifel vertrug. Ich habe die ganze Religion aufgeben müssen, weil sie sich nicht mit meinem Zweifel vertrug.
Es scheint nur eine Minderheit der Menschen zu sein, die so konsequent an den Zweifel glaubt, dass sie bereit ist, jede (scheinbare) Wahrheit dafür zu opfern, um bloss zu WISSEN zu gelangen, welches Zweifel endgültig ausschliesst. Die Wissenschaftler sind nur wenig besser als die Gläubigen, auch unter ihnen ist es nur eine Minderheit, die wirklich zum WISSEN vordringen will. Keine Ahnung, wo das Motiv der andern liegt, Profilierungssucht womöglich, aber die grossen Wissenschaftler aller Zeiten waren immer ganz grosse Zweifler, es waren Pioniere und Entdecker, die alles Bekannte hinter sich liessen, nur weil sie WISSEN wollten, weil es ihnen mehr bedeutete, als alle jemals aufgestellten Konzepte und Theorien.
Ich sehe das ja jetzt auch in meiner Studienabschlussarbeit: Ich schreibe ein Programm, welches französische Texte verarbeitet und das sprachliche Niveau feststellt, welches der Schreiber hat. Dabei benutzen wir die pure Rechenkraft von modernsten Computern, wir benutzen ein Volltextlexikon der fanzösischen Sprache (mehr als 300'000 Wörter!), wir benutzen die raffiniertesten Algorithmen und Kenntnisse über Grammatik und Syntax - und sind immer noch langsam bei der Verarbeitung. Warum? Weil der Ansatz der falsche ist (was mir schon im voraus klar war, aber momentan ist die Wissenschaft nicht so weit, um bessere Ansätze zu liefern, und auch die falschen Ansätze haben ihre Berechtigung und liefern u.U. wichtige Resultate).
Aber ich habe bisher nicht verstehen können, wie mein betreuender Professor so stur an diesen merkwürdigen Ansätzen festhält, die doch so offensichtlich dem zuwiderlaufen, wie der Mensch Sprache "verarbeitet" oder mit Sprache umgeht. Kein Mensch dieser Erde besitzt ein Volltextlexikon aller Wörter in seinem Kopf und kann sich trotzdem wunderbar verständigen oder Gedichte schreiben oder Texte interpretieren. Bis jetzt wissen wir einfach nicht, wie der Mensch mit Sprache tatsächlich umgeht, es ist uns einfach nicht richtig bekannt. (Neuere Ansätze aus Künstliche Intelligenz und Neurologie könnten ev. weiterhelfen). Jetzt ist mir klar: Der Mann ist KEIN Zweifler. Der Mann ist zwar Wissenschaftler, aber er ist keiner der Zweifler, sonst könnte er seine Ansätze gar nicht mit der gleichen Blauäugigkeit weiterverfolgen.
Rolf Pfeifer, ein recht berühmter Mann in der Forschung der künstlichen Intelligenz und schönerweise mein Professor in diesem Fach, meinte, er habe die Ansätze der "Old AI" gar nie erst richtig gelernt, er habe sich diese Mühe immer gespart, weil sie so offensichtlich ungenügend seien neben den wundervoll eleganten Ansätzen, die die "New AI" zu bieten hat.
Ein Zweifler ist einer, der neue Wege geht, weil ihn die alten nicht befriedigen können.
Jetzt ist es mir endlich klar: Ich brauche gar niemanden anzusprechen, der nicht zu dieser Minderheit gehört. Ich brauche mich nur um diese Minderheit zu kümmern, aber das mit ganzem Herzen. Die Zweifler sind die, die meine Unterstützung brauchen, die ich ansprechen kann und will, weil ich selbst schon immer einer von ihnen gewesen bin. Es sind die, die sich nicht mit einer Antwort abspeisen lassen wollen, so lange sie sie nicht verstehen können. Es sind die, die misstrauisch werden, wenn ihnen andere erzählen, sie hätten nach langem Suchen endlich die Wahrheit gefunden. Es sind die, die sich immer ein bisschen neben den Schuhen fühlen, weil die Wahrheiten, die ihnen diese Welt aufdrängen will, einfach irgendwie nie passen, und sei es auch nur so ein klitzekleines Gefühl am Rande des Bewusstseins.
Regina hat hier einmal (ich glaube in diesem Thread)
ein Bild zu Osho verlinkt (hier auch
die restlichen Bilder), und dieses Bild zeigt einen Menschen, der vom Zweifel so zerfressen ist, dass er dabei beinahe draufgeht.
Diese Menschen bedürfen meiner Aufmerksamkeit, denn sie haben es besonders schwer. Alle um sie herum geben ihnen platte Allgemeinplätze, geben ihnen Glaubensgrundsätze, geben ihnen dies und das, statt dass sie ihnen zeigen, wie sie zum Wissen vorstossen können. Ich habe es an mir selbst beobachtet. Nie sagte jemand zu mir: "Dein Zweifel ist gut, bleibe dabei! Höre niemals auf zu zweifeln, bis du endgültig und mit absoluter Sicherheit weisst. Ich kann dir die Wahrheit nicht geben, aber ich kann dir zeigen, was du zu tun hast, um sie selbst zu finden. Dann wirst du von meiner Wahrheit unabhängig sein." Nein, ganz im Gegenteil. Zweifler werden bei uns belächelt, als verrückt abgetan, als Spinner und Aussenseiter. Sie sind so naiv, an den einfachsten und offensichtlichsten Dingen zu zweifeln. Sie hören sogar dann nicht auf zu fragen, wenn alle nach Hause gehen wollen, weil sie satt und schläfrig sind.
Ich erinnere mich, wie meine Eltern einst zu mir sagten: "Du wirst in deinem Leben an einen Punkt kommen, an welchem du nicht mehr weiter weisst, und dort wird sich das, was wir dir durch die christliche Lehre weitergeben, als Halt erweisen."
Sie haben bis jetzt Unrecht behalten. Niemals hat mir das Christentum irgendwas gegeben. Stur wie ein Esel bin ich bei meinem Zweifel geblieben, ich konnte ja gar nicht anders. Aber das war schon schlimm! Ich wusste echt nicht, ob ich nicht schief gewickelt bin. Wenn alle um dich herum mit roten Hüten rumlaufen, und niemand kann dir sagen, wieso, dann wirst du dein Hinterletztes geben, um selbst an einen roten Hut zu gelangen, auch wenn rote Hüte absolut verrückt, absolut überflüssig und Quatsch sind. Die eigenen Eltern tragen rote Hüte!
Das ist übrigens auch ein Punkt, den ich an ihnen nie werde akzeptieren können: Diese latent christliche Erziehung. Ich bin nicht länger wütend auf sie, dazu hätte ich gar kein Recht, aber ich musste sie mit dieser Wut konfrontieren. Ich musste es ihnen sagen, erst seitdem geht es mir gut in dieser Beziehung. Trotzdem werde ich nie einverstanden sein damit, was sie getan haben. In diesem Spannungsverhältnis aber kann ich leben. Es ist in Ordnung so.
Trotzdem ist es eine Schande und ein Armutszeugnis, dass, wenn du ein Zweifler bist, dir alle um dich herum dauernd sagen: Dein Zweifel ist falsch. Auch wenn sie es nicht sagen, dann drücken sie es durch ihr Handeln, ihr Denken und ihre Taten überall aus. Es braucht eine unheimlich grosse innere Kraft, um hier nicht krank zu werden, um sich nicht krank machen zu lassen, sondern immer weiter zu zweifeln, bis endlich der Moment einsetzt, wo der Zweifel sich gegen sich selbst richtet (weil sonst nichts mehr da ist). Wenn das geschieht, dann geht die Post erst so richtig ab. Selbst-Dekonstruktion - dagegen sind die Nihilisten mit ihrem ewigen Gejammere nur ein lahmer Witz, nur eine dümmliche Lügenstory! Wären sie konsequent, so wären sie keine Nihilisten, sondern Zweifler. Am Ende der Selbst-Dekonstruktion steht: Wissen.
Noch im gleichen Moment, in dem ich die Leere an mir erfuhr, wusste ich sofort, dass dies das Ende aller Versuche war, etwas verstehen zu wollen. Ich hatte Wissen gewonnen, und jetzt bin ich nur noch daran, dieses Wissen auch zu integrieren, in den Alltag umzusetzen, es in allen Details zu verstehen usw. (Abgesehen davon, dass ich immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfiel, auch jetzt noch immer zurückfalle. Der entscheidende Punkt ist überschritten.)
Alle andern dürfen gerne tun und lassen, was sie wollen, so lange sie mich nicht weiter belästigen. Ich verspreche, ich werde sie auch nicht belästigen.