Metamorphose
Ein dünner, metallischer Arm schob sich auf Wanja zu. Suchte nach den subkutanen Nerven. Wählte die am besten geeignete Stelle am Rücken aus. Und schon war mit einem blitzschnellen Stich schmerzfrei eine kleine Hautprobe entnommen. Der Arm faltete sich wieder zusammen, sirrend schloss sich die Maschine über ihm. „Das wird jetzt ein Weilchen dauern“, sagte der Techniker. „Komm mein Mädchen. Lass uns ein paar grüne Linsen essen.“ Die ältere Dame, die Wanja begleitete, legte den Arm um sie und zog sie ein paar Schritte in Richtung Tür. „Eine halbe Stunde, sagten Sie?“, fügte sie noch hinzu. „Ja, in etwa. Sie haben Ihren Summer mit?“ „Selbstverständlich.“ „Gut, wir schreiben Sie an, wenn es so weit ist.“ Die beiden Frauen verließen die Praxis, während der Techniker die Probe fein pürierte und auf zahlreiche Teststreifen verteilte.
Wanja rühre lustlos in ihrem Teller mit Wasserlinsen. „Da schau mal, die haben heute Tsetse-Fliegen. Extra aus Afrika eingeflogen.“ Tatsächlich. Ein paar besonders schön anzusehende Fliegen krabbelten am Rand des Tellers herum. „Afrika, das ist doch auch auf der Erde. Probier mal, die sind lecker!“ Wanja schniefte und suchte in ihrem Beutel nach einem Taschentuch. „Ich hab gar keinen Hunger.“ Sie stupste einige der Fliegen an, und diese versuchten vergeblich, abzuheben. „Nicht. Man spielt nicht mit seinem Essen.“ Für einen Moment kicherte Wanja. Dann schien sich wieder eine dunkle Decke über ihre Gefühle zu senken. Sie seufzte tief, sagte dann: „Ich will doch auch einmal Eier legen. Zusehen, wie die kleinen Kaulquappen schlüpfen.“ Die Mutter nahm ihre Hand. „Das wirst du, keine Sorge, das wirst du.“
Viele Kilometer von dieser Szene entfernt steuerte Kelsey geschickt ein etwas unbeholfen wirkendes Fluggerät. Es hatte nur zwei starre, nahezu unbewegliche Flügel und konnte nur nach vorne fliegen. An Bord waren nichts als Blumen. Rosen in allen Farben, außerdem noch Tulpen und andere frische Schnittblumen, deren Namen er nicht einmal kannte. Stand sicher auf dem Lieferschein. Aber momentan sah er sich lieber den Sonnenuntergang an. Elf Stunden hatte er nun noch vor sich. Mindestens. Es war schon eine verrückte Welt, in der man dafür bezahlt wurde, dass man Blumen einsammelte und sie im vertrockneten Europa wieder ablieferte.
Wie immer kontrollierte er regelmäßig die Temperatur in den Laderäumen. 3,5 Grad, wie auch schon vor einer Stunde, vor zwei Stunden, und direkt nach dem Abflug. Die Außentemperatur betrug nur -45 Grad. Da machte sich wohl schon langsam die Sahara bemerkbar. „Möchtest du auch einen Kaffee?“, fragte seine Kollegin. „Ja, gerne. Haben wir auch noch Kekse?“ „Ich schau mal nach, ob die für uns beide reichen.“ Mit diesen Worten machte sich die Kapitänin auf die Suche.
Ein Arbeitstag wie jeder andere. Draußen türmten sich einige dunkle Wolken auf. Aber noch konnte man hindurch fliegen, ohne in Gefahr zu geraten. In den Tropen waren ja Gewitter nicht ungewöhnlich, und ein Blick auf das Wetterradar gehörte hier ebenso dazu wie die ständige Überprüfung von Route und Flughöhe. Noch zeigte das Radar keine Gefahr an. Aber die Wolke vor ihnen begann plötzlich, strahlend weiß zu leuchten und in mehreren Farben zu schillern. Pink. Orangerot. Lila. Türkisgrün. Quittengelb. Die Farben flossen ineinander. Kelsey änderte den Kurs, um diese eigenartige Wolke zu umfliegen und begann, einen Notruf abzusetzen.
Als seine Kollegin zurück ins Cockpit kam, war der Platz auf der rechten Seite leer. Rasch setzte sie sich, kontrollierte den Kurs, und bereitete dann in Gedanken schon die E-Mail vor, die sie an die Fluggesellschaft schreiben würde. Ob Kelsey das afrikanische Abendessen nicht vertragen hatte? Aber er konnte doch nicht einfach das Cockpit verlassen, so lange sie nicht am Platz war! Sie wartete auf seine Rückkehr. Klopfte an beide Toilettentüren. Wollte schließlich am Griff rütteln, nur um festzustellen, dass beide Kabinen leer waren. Und im Laderaum konnte er doch unmöglich sein, da hätte sie ihn sehen müssen.
Sie meldete einen Notfall, kontrollierte noch ein weiteres Mal den Autopilot und ging schließlich leise zitternd doch nach hinten. Öffnete die Tür, rief Kelseys Namen, leuchtete mit ihrer Taschenlampe zwischen die vielen Container. Blumen, nichts als Blumen. Der Kollege blieb verschwunden. Sie machte sich für eine Notlandung in Khartoum bereit. So viel zu einem gemütlichen Bummel über den Weihnachtsmarkt morgen.
Warinja hüpfte elegant in die Ankunftshalle des Kosmosflughafens. Auch wenn es hier wie immer viel zu trocken war. Diese Wesen, die von anderen Welten hierher gebracht wurden, hatten eigenartige Vorlieben und wurden nach einiger Zeit tatsächlich krank, nur weil einem das Wasser auf dem Boden erfrischend um die Fußknöchel plätscherte. Also mussten die Wissenschaftler selbst sich anpassen, und Warinja als eine der führenden Genetikerinnen ihrer Welt hatte sich schon vor langer Zeit ein Paar wasserdichte Stiefel gekauft, um durch diese andauernde Trockenheit keinen Schaden zu nehmen.
Sie betrachtete den Neuankömmling. Der schien langsam wieder aufzuwachen, und die Pflegedrohnen hatten bereits eine kleine Hautprobe entnommen. Das Display des Geneasynch zeigte bereits 38.521. Nicht mehr lange, und sie konnten die Analyse starten. In ihren Krallen hielt Warinja eine Liste der Allele, die mit denen der Empfängerin, eine jungen Frau namens Wanja Ranina, übereinstimmen mussten, um die Metamorphose möglich zu machen. Bei einem Mismatch konnte man es natürlich noch mit anderen Empfängerinnen versuchen, aber in der Regel musste man diese Lebendproben dann entweder euthanasieren oder dorthin zurückschicken, woher man sie genommen hatte. Was natürlich nicht der nächste Weg war.
Kelsey rieb sich zuerst mit einer Hand über die Stirn und öffnete dann langsam die Augen. Eine Aspirin wäre jetzt nicht schlecht, wenn er welche mit hatte. Manchmal gab es auch an der Rezeption welche. Aber wo war er? In Frankfurt hatte er doch eine Wohnung, dort brauchte er kein Hotel. An eine Notlandung konnte er sich auch nicht erinnern. Und keines der Crewhotels hatte bis jetzt jemals solche Zimmer gehabt. Glatte Wände, die aus Glas zu sein schienen. Es gab kein Bett, er hatte auf einem Stück pinkfarbenem Schaumstoff geschlafen. Auch ein Telefon fehlte in diesem Designfiasko. Irgend etwas lief hier nicht so, wie es sollte. Sein Handy war noch aufgeladen, noch 78%. Nur Empfang hatte er nicht.
Die Tür öffnete sich, und ein kleiner goldener Roboter kam herein. „Guten Tag, Herr Kelsey“, sagte er. „Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.“ Der Roboter hielt mit seinen Armen ein Tablett in die Höhe. „Hier, bitte, Herr Kelsey, Ihr Frühstück.“ „Aber ich habe … was … warum Frühstück? Wo bin ich hier?“ Der Roboter stellte das Tablett ab, drehte sich um und stakste langsam in Richtung Tür. „Hey, warte. Wo bin ich hier? Hallo?“ Der ehemalige Pilot sprang auf und bekam den Roboter gerade noch am Bein zu fassen. „Hallo?. … Roboter, wo bin ich hier? … Bin ich in Japan? Korea? … Do you speak English?“ Der Roboter gab auf keine der Fragen eine Antwort, sondern wand sich nur so lange hin und her, bis der fremde Gast endlich abrutschte und die künstliche Servicekraft wieder los ließ. Schnell verschwand er und schloss die Tür hinter sich.
Nach einigen Minuten kam dann auch Warina. Ein riesengroßer, olivgrüner Frosch mit schmalen schwarzen Längsstreifen. Außer ihren Stiefeln trug sie auch noch ein Kostüm, das aus vielen einzelnen Streifen feuchter Zellulose zu bestehen schien. Und natürlich Handschuhe, denn immerhin war dies hier ein Erstkontakt zum neuen Bewohner von Ranaja. Sie öffnete ihr Klapptelefon, richtete es auf den Fremdling und drückte einige Tasten. „Guten Tag Herr Kelsey“, sagte das Gerät. „Herzlich willkommen auf Ranaja. Ich habe gute Nachrichten für Sie. Sie sind kompatibel.“ Kelsey starrte den Riesenfrosch an, drückte die Haut an seinem linken Arm fest zusammen und drehte. Der Frosch watschelte auf ihn zu und zog mit seiner Hand, die zum Glück in einem Handschuh steckte, den Arm weg. „Nicht machen. Neuer Bürger darf nicht beschädigt werden“, sagte das Handy kurz darauf.
Kelsey biss sich fest auf die Lippe. Der Frosch streckte die Hand nach seinem Mund aus, und Kelsey schlug sie zur Seite, wich dann rasch einen Schritt zurück und fragte schließlich. „Wer sind Sie? Wo bin ich hier?“ Es war zwar Ende November, was aber nicht hieß, dass nicht irgendwo auf der Erde, wo er aus unerfindlichen Gründen gelandet war, gerade Karneval war. Eine andere Erklärung gab es nicht, es sei denn …
„Ranaja. Sie sind auf Ranaja. Herzlich willkommen, verehrter Neubürger.“ Nur mühsam konnte Warinja ihm schließlich verständlich machen, dass die DNA der Frösche selbst leider durch einen Unfall mit einem Kernreaktor vor einigen Jahren stark beschädigt worden war und man nun „neue Väter für viele Kaulquappen“ suchte, wie sie es nannte. „Ich bin kein Frosch! Lasst mich hier raus. Ich will nach Hause!“ Diese Phase war natürlich bekannt, ließ sich aber mit leichten Beruhigungsmitteln in der Regel gut beherrschen. Und am nächsten Tag war dann auch das auf ihn persönlich abgestimmte Nukleinsäure-Präparat fertig. Einige der kleinen Roboter mussten Warinja unterstützen, wie es bei dieser Therapie anfangs leider nötig war. Dann war die Spritze verabreicht, und der Patient musste nun nur noch für vier bis fünf Tage stationär bleiben, bis die Metamorphose abgeschlossen war.
Die Fröschin verließ langsam watschelnd das Krankenzimmer, und Kelsey bemerkte zum ersten Mal, wie elegant ihre Figur war und wie gut die olivgrüne Hautfarbe zu dem geschmackvollen wasserblauen Kleid passte. Er schloss für einen Moment die Augen, rieb sich mit der Hand über die Stirn, und als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass ihm Schwimmhäute gewachsen waren. Seine Haut hatte begonnen, eine grünliche Farbe anzunehmen, die seltsam beruhigend auf ihn wirkte.
Was er nicht mehr sehen konnte, war, wie drunten auf der Erde, im Gallusviertel, jemand eine Kerze für ihn anzündete und diese ins Fenster stellte. Jeden Abend, immer in der Hoffnung, dass er doch noch nach Hause kam.