Kleine Geschichten und Gedichte

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Die Tasche zog meinen Blick wie magisch an. Einer der beiden Verschlüsse war offen. Langsam näherte sich meine Hand dem braunen lädierten Ledergriff. Kurz hielt ich inne. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in mir hoch. Eine Warnung?

Dann umfasste ich den Griff mit meiner Hand. Nichts geschah. Doch hatte ich das starke Bedürfnis, die Tasche vor meine Brust zu halten. Ich drückte sie an mich und hatte irgendwie das Gefühl von Schutz.

Ich wurde noch einmal aufgefordert, die Bahn zu verlassen und stieg durch offen stehende Tür aus. Ich hatte die Tasche von Herrn Freitag, doch wo war er abgeblieben? Etwas musste passiert sein, denn so wie ich ihn einschätzte, würde er niemals seine Tasche irgendwo stehen lassen...einfach so.

Die Endstation der Bahn war zwei Haltestellen von der Stadtmitte entfernt gelegen. Dort war das einzige Eisenwarengeschäft der Stadt und ich beschloss, dort vorbei zu gehen und nach Herrn Freitag zu fragen.

Zu Fuß durchquerte ich die gerade zum Leben erwachte Stadt. Hektische Betriebsamkeit herrschte auf den Bürgersteigen und Strassen. Viele Menschen waren hier unterwegs. Kurz darauf erreichte ich die kleine Buchhandlung an der Strassenecke, von der die Stahlstrasse abging. Ich bog links ab und ging die Strasse weiter hinunter.

Früher waren hier etliche metallverarbeitende Betriebe und Eisenwarenhändler angesiedelt. Doch im Laufe der Jahre hatte sich viel verändert und die Eisenwarenhandlung Dörneburg war als einzige Firma übrig geblieben.

Ich ging die drei Treppenstufen hoch, drückte die abgenutzte, viel zu lockere Messingklinke herunter und schob die Glastür auf, die in grossen Lettern die Aufschrift "Eisen Dörneburg" trug.

Muffiger Geruch schlug mir entgegen, als ich den Verkaufsraum betrat und das Erste was ich sah war ein Lehrjunge, der ein schweres Paket auf dem Arm trug. Ich fragte ihn nach der Buchhaltung und er erklärte mir den Weg in die obere Etage. Die ausgetretenen Steinstufen brachten mich ins obere Stockwerk und an der ersten Türe links stand wie versprochen in schwarzen Buchstaben "BUCHHALTUNG".

Ich klopfte zwei mal und eine tiefe Frauenstimme rief "Herein"!

Dann betrat ich ein völlig verräuchertes Büro in dem eine rundliche Dame sass, die mich zunächst etwas verwirrte. Lange blonde Haare umschlossen ihr hübsches Gesicht. Eine Zigarette qualmte in einer Spitze steckend im Aschenbecher vor ihr und ihre Brille hing an einer kleinen goldenen Kette vor ihrer Brust. Das Brillengestell war reich verziert.

"Was kann ich denn für Sie tun, junger Mann?", sprach sie mich freundlich an. Ihre braunen Augen leuchteten.

"Ich ääh, ich wollte eigentlich zu Ihrem Buchhalter Herrn Freitag, er hat nämlich seine Tasche versehentlich in der Strassenbahn liegen lassen und ich dachte mir...naja, wenn die Pausenbrote und der Kaffee fehlen, das ist ärgerlich."

"Herr Freitag? Junger Mann, ich kenne keinen Herrn Freitag und hier hat auch noch nie ein Herr Freitag gearbeitet und ich mache die Buchhaltung hier seit über zwanzig Jahren."

"Aber, antwortete ich verunsichert, er fährt doch jeden Morgen in die Stadt zur Arbeit in einer Eisenwarenhandlung und er ist Buchhalter dort. Gibt es denn noch eine andere Eisenwarenhandlung hier in der Stadt?"

"Nein wir sind die einzig übrig gebliebenen. Es muss sich um ein Versehen handeln, tut mir leid."

Völlig verblüfft verabschiedete ich mich und stieg die Steinstufen wieder hinunter in den Verkaufsraum. Was war hir los? Das konnte doch nicht sein!

Ich beschloss, die nächste Bahn zurück zu nehmen und bei ihm in der Wohnung nachzuschauen. Kurz darauf sass ich in der 103 in die andere Richtung. Auf meinem Sitzplatz fiel mir auf, dass ich die Tasche genauso vor meine Brust hielt, wie Herr Freitag dies stets tut. Die Finger meiner linken Hand tippten nervös auf dem Henkel herum und mein rechter Fuss schien einem unhörbaren Takt zu folgen.

Sollte ich die Tasche öffnen und mir den Inhalt ansehen? Nein, das wäre nicht recht! Ich wollte Herrn Freitag finden und sie ihm zurück geben - so wie sie war und ungeöffnet. Die Bahn wurde langsamer und kam an der Haltestelle zum Stehen. Ich stieg aus, überquerte die Strasse und stand vor dem Haus, in dem Herr Freitag in der Mansarde wohnte. Ich suchte die Schellen nach seinem Namen ab.

Zimmermann, Gretenkort, Öztürk, Sandalan, Schmied, Bender.

Nächste Reihe: Philipp, Sanders, Acer, Eckert, Brüggemann, Seifert.

Kein Freitag! Das konnte doch nicht wahr sein. Der Mann wohnte seit Jahren hier und kein Name an der Schelle. In diesem Moment öffnete sich die Haustüre und eine ältere Dame kam aus dem Hausflur. Ich sprach sie freundlich an und fragte nach Herrn Freitag.

"Ist er neu eingezogen?, fragte sie nett. Ich kenne ihn noch nicht, aber ich bin auch nicht mehr so viel unterwegs auf meine alten Tage, wissen Sie."

Ich beschrieb ihr Herrn Freitag und erzählte ihr, dass ich ihn seit Jahren morgens an der Haltestelle gegenüber treffe und das er in diesem Haus in der Mansardenwohnung wohnt.

"In der Mansarde?, fragte sie überrascht. Dort wohnt doch der Herr Bender seit ewigen Zeiten. Er ist kurz nach uns hier eingezogen und hat jahrelang mit meinem Mann zusammen gearbeitet. Gestern habe ich ihn noch gesehen, wie er den Müll runter brachte."

Völlig fassungslos liess ich die Dame an mir vorbei. Ich trat ein paar Schritte zurück und ging bis an den Strassenrand. Mein Blick suchte das Fenster der Mansardenwohnung. Vielleicht könnte ich irgend etwas entdecken. Ich machte noch einen Schritt zurück, doch der Bürgersteig endete und ich trat erschrocken in den Rinnstein.

Heftiges Gebimmel liess mich zusammenzucken. Die nächste 103 nahte und ich war fast auf die Gleise getreten. Hastig machte ich einem Schritt auf den Gehsteig zurück. Das war knapp!

Die Tasche hielt ich verkrampft vor meine Brust gepresst und sah erneut zu der Mansarde hinauf.

Den Mann der mir schon von der Eisenwarenhandlung gefolgt war, hatte ich nicht bemerkt. Nervös fingerte er ständig in seiner Manteltasche herum und blickte verstohlen herüber. Seine langen fettigen Haare hingen struppig unter der schwarzen Wollmütze heraus und an seinem linken Schuh ersetzte ein Bindfaden den auf der Strecke gebliebenen Schuhriemen. Die linke Hand sog gierig an einer selbstgedrehten Zigarette, die er schon völlig heiss geraucht hatte.

Er konnte nur mit der linken Hand rauchen. Die rechte hatte er eingebüsst. ER hatte sie ihm genommen....

Fortsetzung folgt....​






H.A. - hier genannt Tolkien
 
Da koennen wir uns noch auf einiges gefasst machen

nicht dass der Herr Freitag inzwischen auf der Insel ist
zusammen mit Robinson Crusoe:clown:
Und ich hoffe doch sehr, dass die Geschichte hier nicht über Silvester allzulange "auf der Strecke" (liegen) bleibt...
smilie_girl_305.gif


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