Kleine Geschichten und Gedichte

Weihnachten 2020


Es war ein bewegendes Jahr, dieses 2020.

Dieses Virus hat viel verändert und uns ein Stück weit auf uns selbst zurück geworfen, finde ich.

In dieser Zeit habe ich oft erlebt, dass Menschen näher zusammenrückten, aus freien Stücken. Es wurde Anteil genommen am Schicksal anderer Menschen und gegenseitige Hilfe gegeben.

Andere wiederum wurden quasi dazu gezwungen. Home Office, Kindergärten und Schulen geschlossen, die Familie also den ganzen Tag zusammen....

So oder so, irgendwie waren alle damit konfrontiert, von der Aussenwelt in gewissem Masse abgeschnitten zu sein und wieder mehr miteinander zu sein.

Mag sein dass dies vielleicht ein tieferer Sinn ist, der dahinter steckt, neben vielen anderen Möglichkeiten.

Wie auch immer, jeder von uns wird seinen Weg durch diese Krise finden und gehen.






Ich möchte allen Forumsmitgliedern hier auf diesem Wege
besinnliche und gesegnete Weihnachten wünschen!


 
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Der merkwürdige Herr Freitag


Jeden Morgen fuhren wir zusammen mit der Bahn. Herr Freitag wohnte im Haus gegenüber. Pünktlich um 7.00 Uhr kam er an die Haltestelle, um die Bahn um 7.02 Uhr zu erreichen. Die in die Jahre gekommene alte braune Aktentasche mit dem abgegriffenen Henkel trug er an seiner rechten Hand und stellte sich stets rechts des Halteschildes hin, um das Eintreffen der Bahn abzuwarten.

Prüfend blickte er an sich herunter, strich über seinen Mantel und zog die Ärmel glatt. Ein Griff zur Krawatte...alles perfekt. Dann sah er sich kurz zur Seite um und betrachtete die Mitwartenden. Trafen sich die Blicke, zog er seine Aktentasche hoch und hielt sie wie schützend vor seinen Bauch.

Irgend jemand hatte mir mal gesagt, dass er Buchhalter sei und bei einer kleinen Eisenwarenfirma in der Stadt beschäftigt wäre. Er war alleinstehend und bewohnte die kleine Mansardenwohnung in der
3. Etage schon so lange ich denken konnte.

Quietschende Schienen kündigten das Kommen der Bahn an. Dann bog die 103 um die Ecke. Einen halben Schritt zurücktretend zog er seine Monatskarte aus der Manteltasche, um sie dem Schaffner beim Einstieg vorzuweisen. Herr Freitag hatte seinen Warteplatz an der Haltestelle ganz bewusst ausgewählt, da die Bahn immer so hielt, dass die Einstiegstür sich genau hier befand und ihm die Möglichkeit gab als Erster einzusteigen und seinen Lieblingsplatz am Fenster anzusteuern. Er sass immer auf der linken Seite direkt hinter dem Strassenbahnführer auf einem Einzelsitzplatz.

Bevor er dort Platz nahm, strich er über den Sitz und wischte ihn ab. Die aufrecht stehende Aktentasche auf seinem Schoss hielt er an den Aussenecken fest. Sein kerzengerader Sitz schien genau einen 90 Grad Winkel darzustellen.

Normalerweise ging ich immer etwas weiter durch, doch heute war die Bahn recht voll und ich nahm gleich den freien Platz gegenüber von Herrn Freitag entgegen der Fahrtrichtung ein. Dies bot mir die Gelegenheit, ihn heute einmal etwas genauer zu betrachten.

Herr Freitag machte einen nervösen Eindruck auf mich, aber das machte er eigentlich immer. Ich bemerkte dass sein blank geputzter rechter Schuh leicht auf und ab wippte und die Finger seiner rechten Hand ständig auf die Aussenecke seiner Aktentasche tippten. Nach jeder Kurve wischte er sich eine fettige Haarsträhne aus der Stirn und gab seinem Haarschnitt wieder Form.

Dann sah ich ihm ins Gesicht. Seine Augenlider zuckten. Die grünen Augen schienen sich in ihren Höhlen verstecken zu wollen. Er drehte sich zur Seite und blickte aus dem Fenster. Die Drehung gab einen Teil seines Halses frei, auf dem ich eine Tätowierung entdeckte, die wie drei Sechsen aussah.

Drei Sechsen? Dazu fiel mir nur eines ein. Ich sah in die Fensterscheibe und dann ich seine Augen. Plötzlich leuchteten sie giftgrün auf!

Im Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich aus meinem Körper gezogen! Ich konnte nichts dagegen tun. Ein Rauschen erfasste mich. So sehr ich mich auch dagegen stemmte, immer weiter entfernte ich mich vom meinem Sitz. Von der Strassenbahn. Vom Jetzt....

Dann plötzlich Stille. Ich war irgendwo angekommen. Aber wo? Ich sah nichts. Ich hörte nichts. Es war als würde ich im Raum schweben. Ich schärfte alle meine Sinne, um etwas zu erfahren. Nichts...

Doch nach einigen Momenten kam langsam Licht und ein Bild zurück. Zuerst unscharf und verschwommen. Ich sah. Doch was ich sah, war nicht durch meine eigenen Augen.....

Es waren die Augen von Herrn Freitag!


Fortsetzung folgt!​



H.A. - hier genannt Tolkien
 
Die Karte war das Erste was ich sah....


tod.png


Sie lag auf einem ovalen Tisch, auf dem mehrere Kerzen brannten. Eine schwere Brokattischdecke zierte den Tisch unter der Karte. Etliche Wachsflecken waren auf ihr zu sehen. Sie schien hunderte Jahre alt zu sein.

Als die Frau am anderen Ende des Tisches ihre rauchige tiefe Stimme erhob, ging mein Blick nach oben. Ich sah in tiefbraune Augen hinter einer goldenen Brille mit reich verziertem Gestell. Die Brille hing an einer dünnen goldenen Kette, die um ihre Schultern lag. Langes schlohweisses Haar fiel wie ein gleichmässiger Strom von ihrem Kopf herab und umrahmte ihr wunderschönes gütiges Gesicht. Ihre Haut war gebräunt und etwas lederartig und ihre sehr gepflegten Hände erinnerten mich irgendwie an eine Pianistin.

In ihrer rechten Hand hielt sie eine brennende Zigarette mit einer langen Spitze. Der Zeigefinger ihrer linken Hand berührte die Tarotkarte und der lange blank polierte Nagel tippte mehrfach auf die 13.

"Die 13 hat einen starken Bezug zu Dir, Fragender. Du bist an einem 13. geboren, nicht wahr? Jedoch nicht an einem Freitag, sondern an einem Donnerstag, stimmt's?"

Ich nickte.

"Donnergott und Tod. Dem Tod durch einen Glücksfall von der Schippe springen ist das Erste, was ich dazu bekomme, Fragender."

Sie legte ihre Zigarette im Ascher ab und reichte ihre Hand herüber. "Doch nun gib mir Deine Hand, damit ich mehr sehen kann, Fragender."

Wie automatisch sah ich die Hand über den Tisch wandern und sich in ihre legen. Ohne Druck legte sie ihren Daumen obenauf. Ein Schauer durchlief mich. Dann schloss die Wahrsagerin ihre Augen.....

Nach einem kurzen Moment begannen ihre Augäpfel hinter ihren geschlossenen Lidern wie wild zu tanzen und leichte Zuckungen durchliefen ihren Kopf. Ihr Atem ging schnell. Dann plötzlich erhöhte sich der Druck ihrer Hand und sie kam zur Ruhe.

"Jetzt habe ich Dich, Fragender!"

Ihre Stimme erschien mir nun noch tiefer als zuvor.

"Mmmh, Du warst zwar eine Frühgeburt, hast Dich aber gut entwickeln können in Deiner Kindheit. Deine Ausbildung war gut. Bist ein Zahlenmensch. Banker oder Buchhalter. Ihr ward 6 Kinder zuhause. Zwei Mädchen und vier Jungs und.... ooh! 3 Deiner Brüder sind schon.....tot?"

"Ja".

"Sie waren älter als Du. Du bist der Jüngste, nicht wahr?"

"Ja".

"Du lebst allein. Hast keine Familie. Keine Kinder. Bist Einzelgänger geworden. Deine beiden Schwestern haben keine Kinder. Sie.....können keine bekommen?"

"Nein".

"Und Dein Vater....er hat euch früh verlassen, nicht wahr?"

"Ja, das hat er. Eines Tages war er einfach verschwunden."

"Und er hat sich nie....- sie hielt erschrocken inne - ooh!"
Ein Ruck ging durch ihre Hand.

"Er hat... er ist IHM begegnet. Ein Fluch liegt auf eurer Familie! Er hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen! Hüte Dich! Er hat Deine 3 Brüder bereits geholt und ...und irgendwann wird er sich auch Dir nähern!"

Plötzlich liess sie die Hand los und sagte: "Geh jetzt, geh! Ich kann nicht weiter machen."

Mit einer abwehrenden Handbewegung forderte sie zum Gehen auf.
Das Bild wurde plötzlich verschwommen und ich geriet wieder in diesen merkwürdigen Schwebezustand. Das Rauschen setzte ein und kurz darauf wurde ich durch ein Rütteln zurück geholt.

"Wachen Sie auf Mann, hier ist Endstation. Sie müssen jetzt aussteigen!"

Der Schaffner hatte mich wachgerüttelt. Die Strassenbahn stand in ihrer Pausenschleife und ich war der letzte Fahrgast.

Herr Freitag war verschwunden!

Doch auf dem Sitz lag.....seine braune Aktentasche!


Fortsetzung folgt!​



H.A. - hier genannt Tolkien
 
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