Indizien und Belege für einen potentiellen paläolithischen Schamanismus
Es geht hier ausschließlich um das Jungpaläolithikum (engl. Upper Paleolithic), denn die Belege aus der Zeit vor 30.000 BP sind zu schwach, um einer kritischen Prüfung hier standzuhalten,[35]
Andere Autoren wie etwa Jean Clottes sehen jedenfalls in den jungpaläolithischen Funden einen starken Hinweis auf einen damals existenten Schamanismus.[37] Es seien hier allerdings im Vorfeld die wichtigsten Problemfelder und Einwände kurz aufgeführt:[38]
Viele Tier-Mensch-Mischwesen-Darstellungen etwa der Frankokantabrischen Höhlenkunst werden als Schamanen gedeutet und die abgebildeten Tiere als Darstellung der transzendenten Sphäre. Das kann durchaus auf innerhalb der tierbezogenen Wirklichkeit des Paläolithikers auf Ansätze schamanischen Gedankengutes deuten. Das ist jedoch nicht zwingend.
Ähnliches gilt auch für Tierdarstellungen mit einer zweiten Kontur des Kopfes, wobei in jeweils einer Kontur nur ein Auge dargestellt ist, was als Hinweis auf eine Seele oder eine Alter-Ego-Existenz gedeutet wird, ohne allerdings die Interpretation über ein magisches Szenario hinaus zuzulassen.
Die theriomorphen Wesen der jungpaläolithischen Kunst, die als Schamanen gedeutet werden, können auch ganz anders gedeutet werden, nämlich als mythische Heroen, Ahnen oder Führer der Tier- und Menschenwelt, etwa als Herr der Tiere. Sie in Bilder zu bannen könnte zu magischen Ritualen und damit verbundenen subsistenziellen Erwartungen einer Religionsform gehört haben, etwa im Sinne einer Jagdmagie.
Manche Autoren (z. B. Reichholf[39]) leiten die Tier-Menschen-Doppelwesen der Höhlenmalereien von der Tarnung der Jäger durch Tierfelle ab, wobei dies die ursprüngliche Funktion gewesen sei und die Verkleidung erst später rituell von den Schamanen genutzt worden sei, nachdem sie sich bei der Jagd bewährt habe.
Erotische interpretierte Zeichen und Darstellungen können ähnlich als Fruchtbarkeitszauber gedeutet werden, wie er ohne schamanische Hintergründe bis heute in zahlreichen Naturreligionen vorkommt.
Auch vorwiegend didaktische Deutungen sind denkbar. Die zahlreichen Pfeile, die in Höhlenbildern die lebenswichtigen Partien der Beutetiere markieren, weisen in diese Richtung, vielleicht in Verbindung mit Jagdmagie.
Es sind im Folgenden natürlich nur die wichtigsten der in der Forschung verwendeten Belege genannt, bevorzugt jene mit potentiell deutlichem Schamanismusbezug, etwa durch Mischwesen, Masken usw. Für die einzelnen Darstellungen sind jeweils zur erleichterten Nachprüfung die optischen Literaturnachweise angegeben, sofern möglich.
Sie sind die wohl wichtigste Quelle der Deutung Schamanismus und geben am besten Auskunft über die möglichen religiösen Vorstellungen jener Menschen, die ja bereits dem modernen Typus des Homo sapiens sapiens zuzurechnen sind (in Europa Cro-Magnon-Mensch und der Mensch von Combe Capelle). Es gibt sie praktisch weltweit,[40] allein in Europa sind etwa 300 Fundorte bekannt, die ältesten etwa ab 30.000 BP (Grotte Chauvet), die jüngsten bis heute (u. a. Aborigines und San[41]). (Quelle insgesamt unter[42]) Von besonderem Interesse sind dabei die Darstellungen von Mischwesen oder Menschen mit Masken sowie Masken alleine, die allgemein als Indizien für einen damals bestehenden Schamanismus gewertet werden. Auch Handabdrücke und Idole sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung sowie die mögliche Darstellung von Totemtieren und Tieren mit Pfeilspuren, z. B. in Les Trois Frères.[43] Die Tatsache, dass viele dieser Bilder sich tief in dunklen Höhlen befinden (nur die vorderen Teile am Eingang waren bewohnt), Bereiche, die überdies oft nur sehr schwer erreichbar waren und mitunter bis zu zwei Kilometer vom Eingang entfernt lagen, gilt als weiteres Indiz dafür, dass es sich dabei um Kultorte handelte, in denen jagdmagische Handlungen, Initiationen und andere kultische Zeremonie stattfanden. Dabei mag außerdem die nach Meinung von Psychologen und Anthropologen dem Menschen angeborene, in unterschiedliche Stärke sich manifestierende, mitunter klaustrophobische Höhlenangst von Bedeutung gewesen sein, die eine mystischen Atmosphäre schuf und deren Überwindung bei Initiationen eine Rolle gespielt haben könnte. Ebenso ist die Tatsache von Bedeutung, dass die Malereien oft sehr kunstvoll, also von Experten ausgeführt wurden. Dabei scheinen die Höhlenwände als eine Art Grenze zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt begriffen worden zu sein.[44] Besonders prägnant bietet sich diese religiöse Bedeutung in der frankokantabrischen Höhlenkunst dar, und Leroi-Gourhan spricht dabei sogar von Mythogrammen.[45]
Frankokantabrische Kunst: In ihr sind über 90 % der bekannten Malerei in Höhlen und unter Abris Westeuropas zu finden.[46] Es gibt einige magisch veränderte Tierbilder und einige wenige Darstellung von Schamanen/Zauberern, die alle aus dem Magdalénien stammen. Sie sind die einzigen paläolithischen Belege für diese Region, die vermutlich mit unter der Erde ausgeführten magischen Praktiken verbunden waren.[47]
Fabeltiere: Sie finden sich unter anderem in den Höhlen von Lascaux (Einhorn), Pech-Merle, LeTuc-d'Audoubert (Ariège), Le Gabillou und anderen.[48]
Schamanen: Bei den theriokephalen Darstellungen ist unklar, ob es sich um anthropo-zoomorphe Mischwesen handelt oder um Maskenträger. Solche Mischwesen oder Maskenträger gelten aber bis heute als typisch für den Schamanismus.[49] Allerdings sind Masken nach Müller[50] eher Zeichen eines Besessenheitsschamanismus, der ja eine Spezialentwicklung vor dem Hintergrund von Hochreligionen darstellt, so dass solche Mischwesen vor allem das Schamanenkostüm oder aber die imaginierte Vermischung des Schamanen mit seinem tierischen Schutzgeist oder wenigstens dessen Beschwörung darstellen dürften, wie sie noch heute etwa bei sibirischen Schamanen üblich ist.[51] In der Höhle von Altamira findet sich eine gemalte monströse Maske.[52] Aber auch in Kleinasien gibt es frühneolithisch in Göbekli Tepe theriokephale Darstellungen, die als maskentragende Schamanen interpretiert werden könnten.[53] Nach Campbell[54] sind Masken sogar vor allem bei Pflanzergesellschaften als komplexe Zeremonialbestandteile Zeichen maskierter Götter, stehen daher im Zentrum des Rituals, und ihre Träger stellen den Gott nicht nur dar, sie sind Gott. Eine besondere Rolle spielen Masken in Afrika, das ja nach Müller[11] schamanismusfrei ist, bis heute bei der Initiation und in deren Zusammenhang mit Geheimbünden, deren Würdenträger wiederum in der Öffentlichkeit mit Masken auftreten, die anlassbedingt und lokal sehr verschieden sein können.[55]
Einige Beispiele:
Eine berühmte Darstellung aus der Höhle von Lascaux zeigt einen Vogelkopf auf einer Stange, einen Bison und einen Mann mit offensichtlichem Ithyphallus in Schräglage.[56] Nach archäologischer Interpretation[57] handelt es sich dabei um eine schamanische Séance, die Bildkomposition einer schamanischen Geisterbeschwörung mit Hilfsgeist (Stangenvogel), Schamane (Mann) und Opfertier (Bisonstier). Für Henri Breuil war diese Darstellung der Ausgangspunkt für die These von der Jagdamagie.
In der Höhle von Les Trois Frères[58] (Ariège) findet sich die Darstellung eines Zauberers.[59]
Drei tanzende, in Tierfelle gekleidete Schamanen in der Höhle von Teyat (Dordogne).
Fontanet: Schwarzer Mann mit Wisenten.[60]
Eine menschliche Gestalt mit Bisonhaupt und langem Schwanz in der Höhle von Le Gabillou (Dordogne).[59]
Menschliche Gestalt mit Vogelkopf und Bärenbeinen.:Höhle von Altamira.[61]
Spanische Levante: Kämpfende antropozoomorphe Figuren.[62]
Mittel- und Osteuropa, Zentralasien:
Anthropozoomorphe Wesen, Tamgali, Kasachstan.[63]
Schamane mit Seelenboot, Ob-Gegend, 2. Jahrtausend v. Chr.[8]
Trommelgesicht, Amurgebiet, 4./3. Jahrtausend v. Chr.[64]
Gestalt mit Strahlenkrone, Altai, 2. Jahrtausend v. Chr.[65]
Altai-Gebirge: Zahlreiche Schamanendarstellungen. Zuordnung eher zum Paläolithikum.[66]
Oroktoj, Altai, 3./1. Jahrtausend v. Chr.[65]
Mensch mit Bärenmaske, Jakutien, 4./3.Jahrtausend v. Chr.[67]
Weitere Abbildungen dieser Gegend, teilweise aus späterer Zeit bis fast in die Gegenwart finden sich in[68].
Indien: Zahlreiche Felsbilder. Bimbethka (Vindhya-Gebirge): Mythische Tier- und Menschengestalten. Vermutlich mesolithisch.[69]
Fresko des Großen Geistes von Séfar, Tassili
Sahara: Die Darstellungen dort stammen alle aus dem Holozän und sind bis auf die erste, die sog. Jäger-/Rundkopf- bzw. Wildtierperiode, vorwiegend neolithisch.
Rundkopf-/Jägerperiode: Großer Geist und andere Mischwesen, wegen der riesigen Köpfe mitunter als Marsmenschen apostophiert. Tassili, Algerien.[70]
Jägerperiode: Maskenträger mit getötetem Nashorn und Mann mit Hundekopf. Wadi Mathendous (Fezzan).[71]
Fresko von Séfar, Tassili: Sog. Gorilla oder Gott von Séfar: Ein Phantasiewesen, dazu weiter Darstellungen von magischen Wesen.[72]
Sog. Teufel von Azellouaz, Djanet, Algerien.
Adorant von Djado (sog. Teufelsmensch)[73]
Subsaharisches Afrika ohne Südafrika: Es handelt sich dabei meist um stark schematisierte, mitunter auch naturalistische Darstellungen von Hirtenvölkern in Tansania, Simbabwe oder Sambia. Eine Verbindung zur hoch entwickelten und vielfältigen Jäger-Sammler-Felsbildkunst der San besteht offenbar nicht.
Auch im äquatorialen und westlichen Afrika gibt es eine Felsbildkunst, die jedoch kaum erforscht ist und häufig Verbindung zu benachbarten Regionen zeigt, aber auch in prähistorische Zeit zurückreicht.
Südafrika und Namibia:[74] In Transvaal und im äußersten Süden Afrikas finden sich naturalistische Darstellungen von Schaf- und Rinderherden, die der Kunst der San aber ebenfalls fernstehen.
Kunst der San: Es gibt einen enormer Felsbildbestand, der sich ausschließlich auf die Jäger-Sammler-Lebensweise dieses Volkes bezieht (>30.000 Darstellungen in Namibia), vorwiegend aus der Zeit 3000 bis 4000 BP (Before Present = Vor der Gegenwart. Die Abkürzung v. Chr. wird sinnvollerweise erst ab dem Neolithikum verwendet. Stichjahr ist 1950.). Die ältesten Abbildungen befinden sich in der sog. Apollo-11-Höhle und sind ca. 27.000 Jahre alt. Sie stammen ausnahmslos von Jäger-Sammlern der San. Zwei Drittel der Malereien sind Menschendarstellungen (in den Gravierungen fehlen sie fast völlig), darunter Fabelwesen wie die Große Ohrenschlange und als Schamanen gedeutete Mischwesen, etwa die polychrome Darstellung einer Menschenfigur (San) mit Antilopenkopf, der aus der Nase blutet und so einen Zustand der Jenseitsreise anzeigt[75][76] oder eine Darstellung aus den Drakensbergen. Aber auch rein anthropomorphe Schamanendarstellungen gibt es, etwa die tanzenden Zauberer von Cullen's Wood, Barkly East, Südafrika.[77] Handnegative sind häufig.[78] Schamanen genossen bei den San hohes Ansehen, und auf ihre Autorität gestützt beriefen sie Versammlungen ein, baten um Regen und um die Gunst der Geister, die man in Elenantilopen und anderen Tieren inkarniert glaubte. Die dazu erforderlichen Riten und den körperlichen Ausdruck der Trance hielt man in der Bildersprache fest.[79]
Nordamerika: Die dortigen zahlreichen Felsbilder dienten vermutlich vor allem der Jagdmagie.[80] Sie sind daher vermutlich vorwiegend der jungpaläolithischen Phase zuzuordnen, auch wenn sie dort, wo diese Wirtschaftsform praktiziert wurde, wohl eher ins frühe Neolithikum gehören könnten (s. dazu Neolithikum). Vor allem im Südwesten finden sich teils phantastische Darstellungen, die mit einem Schamanismus in Verbindung stehen dürften, etwa in der Cueva de la Serpente und der Sierra von San Francisco mit den dortigen Schlangenmalereien (beide mit Hörnern bzw. Geweihen ausgestattet). Weiter gibt es dort anthropozoomorphe Darstellungen und Menschendarstellungen mit eindeutigen Schamanenattributen.
Südamerika: Die Felsbilder dort sind stilistisch außerordentlich heterogen. Meist sind Tiere dargestellt, oft stark stilisiert bis geometrisch. Schamanische Darstellungen konnten bis jetzt nicht eindeutig nachgewiesen werden, doch ist der Schamanismus in diesem Großbereich durch andere Medien belegt.
Australien: Die Felsbilder sind relativ gut datierbar und fast durchweg der paläolithischen Zeit zuzuordnen. Handnegative sind häufig, desgleichen Dämonendarstellungen (Quinkas), aber auch Darstellungen guter Geister (Wondjinas), dazu bis zu fünf Meter hohe Ahnenfiguren im Rahmen von Gründungsmythen der einzelnen Stämme. Bevorzugt sind Menschen dargestellt. Hauptfundzonen für Höhlen und Abris sind Arnhem-Land in Nordaustralien, Dampier (Westaustralien) sowie Südostaustralien. Fundorte u. a.: Laura, York[81], Cannon Hill usw. Die Traditionen der Darstellung mythischer Figuren (auch weiblicher[82]) der Traumzeit vor allem im sog. Röntgenstil, wie er auch in den Felsbildern Skandinaviens, in der Linienbandkeramik und China vor allem neolithisch vorkommt, reicht bei den Aborigines bis in die Moderne.[83]
Jordanien, Tuleilat Ghassul: Prozession von Maskenträgern oder Mischwesen.[84]
Der Sonderfall Handabdrücke und Abstrakta
Handabdrücke: Zu ihrer Bedeutung siehe oben unter Mögliche metaphysische Grundvorstellungen des paläolithischen Schamanismus. Es gibt sie im Jungpaläolithikum und analogen Kulturstufen in der Felsmalerei praktisch weltweit,[85] und sie scheinen wie die Darstellungen mit erhobenen Armen (Adorantenhaltung) dazu gedient zu haben, die eigene Präsenz in der Anwesenheit des Religiösen schlechthin zu demonstrieren als Ausdruck des Sichöffnens einer göttlichen Transzendenz gegenüber.[86]
Andere Gravierungen wie Punkte und Linien: Vgl. Tabelle in[87]. Die in Felbildern ebenfalls weltweit belegten meist geometrischen Symbole enthalten möglicherweise nach Leroi-Gourhan eine sexuelle Symbolik,[88] während Lewis-Williams es für denkbar hält, dass es sich dabei um entoptische Repräsentanzen eines bestimmten veränderten Bewusstseinszustandes handelt, wie sie bei Halluzinationen vorkommen.[89] Sie wären damit ein Beweis für die bereits jungpaläolitisch praktizierte Schamanenekstase. Vialou hält hingegen für denkbar, dass es sich dabei um Embleme von Stämmen handelt, wie sie auch in der jüngeren Felskunst vorkommen.[90] Auch als Mythogramme werden sie gedeutet (z. B. durch Leroi-Gourhan, Vialou und Ries).