Geschichten aus Absurdistan

Tommy

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1. Meister der Abwesenheit

Willst du was gelten, dann mache dich selten.
(Deutsches Sprichwort)



Rugenstein war und ist der ungekrönte König der Abwesenheit. Das ist so sicher wie der Dritte Weltkrieg. Keiner kann ihm das Wasser reichen. Keiner. Nur wissen wir im Moment nicht, wo zum Teufel der Kerl steckt. Wissen Sie das?

Seitdem er sein dreibändiges Werk "Theorie der Abwesenheit" veröffentlicht hatte, ist es merkwürdig still um ihn geworden. Alle Welt wartet auf Band IV. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, es ist Heiligabend, und unter dem Tannenbaum liegt dieses Buch. Vielleicht sogar handsigniert. Was würden Sie dann tun? Richtig: Sie würden vor Aufregung sterben.

Um Ihnen und mir diese quälende Zeit des Wartens ein wenig zu versüßen, möchte ich noch einmal an die Stationen seiner sagenhaften Karriere erinnern.

Schon von frühester Kindheit an - so berichten uns seine Biographen - zeigte sich das große Talent Rugensteins. Keine Gelegenheit ließ er aus, um es zu entfalten. Ein wahres Wunderkind. Er fehlte bei seiner Einschulung. Bei Klassenfahrten und Klassenarbeiten. Bei der Zeugnisvergabe. Und sogar bei der Abiturprüfung.

Selbstverständlich bestand er diese Prüfung mit einer dicken Eins. Denn Rugenstein wäre nicht Rugenstein, hätte er diese Prüfung wiederholen müssen.

Auf den vielen Partys seiner Studentenzeit, so berichten seine Biographen weiter, verhielt sich Rugenstein so unauffällig, dass sich hinterher niemand, aber auch wirklich niemand an ihn erinnern konnte. Und die Wenigen, denen das dennoch gelang, sagten übereinstimmend aus, er habe einen "extrem abwesenden Eindruck" gemacht. Beschwören mochten sie es allerdings nicht, dass es sich überhaupt um Rugenstein gehandelt habe. Darin zeigt sich eben der wahre Meister.

Aber eine solche Meisterschaft hat auch ihre Tücken. Rugenstein selbst berichtet davon, wie er bei den Gehaltsauszahlungen der Firma stets vergessen wurde und anhand des Arbeitsvertrages Monat für Monat nachweisen musste, dass er überhaupt Mitarbeiter der Firma war. Kein Vorgesetzter, kein Kollege vermochte sich daran zu erinnern, ihn je gesehen zu haben. Seine Anwesenheit konnte nur durch eine Kette von Indizien erschlossen werden. Etwa durch die Eintragungen auf seiner Stempelkarte. Oder durch das Vorhandensein eines Büroraumes, auf dessen Eingangstür sein Name vermerkt war. Oder durch die vielen Geschenke, die die Chefsekretärin allmorgentlich auf ihrem Schreibtisch fand und die allesamt mit der Grußkarte: "Von Rugenstein" versehen waren.

In diese Zeit fällt auch das entscheidende Ereignis, das den Anstoß zur Theoriebildung gab. Nach einem langen und zermürbenden Streit drehte sich seine Freundin damals beleidigt zum Spiegel, um ihre Frisur zu überprüfen. Diese Augenblicke nutzte Rugenstein, um sein Schweigen in die extreme Form der Abwesenheit zu überführen. Das hatte diese Frau damals tief beeindruckt. Und für Rugenstein war es ein Schlüsselerlebnis: Die Geburtsstunde seiner "Theorie der Abwesenheit."

Aber ich will Sie nicht länger mit Rugenstein-Anekdoten langweilen. Wichtig ist im Grunde nur seine Theorie - die epochemachende Theorie der Abwesenheit, die bereits von vielen Historikern als "Höhepunkt der abendländischen Kultur" gefeiert wird.

Rugenstein war der Fachwelt bereits aufgefallen durch einige Essays, die er in verstreuten Zeitschriften veröffentlicht hatte, etwa seine inzwischen legendäre Abhandlung: "Fehlen auf dem Standesamt". Darin wies er zwingend nach, dass nur der, welcher über die Technik der gekonnten Abwesenheit im entscheidenden Moment der Trauung verfügte, seinem Leben eine einigermaßen glückliche Wendung zu geben imstande war. Das "Wiederauftauchen" nennt Rugenstein in diesem Essay ein "Eingeständnis des eigenen Versagens" oder noch drastischer (in Band 2, S.486) : eine "Kapitulationserklärung der Vernunft".

Die Persönlichkeit eines Menschen bildet sich nämlich keineswegs in den kommunikativen Verhältnissen der Familie, der Schule, des Berufs, des Freundes- und Bekanntenkreises. Diesen Quatsch, den uns die Soziologen seit gut einem halben Jahrhundert weismachen wollen, können wir nach dem Erscheinen der Theorie der Abwesenheit locker in die Tonne treten.

Denn Rugenstein hat gezeigt, dass sich die Identität eines Menschen aus der Summe der mehr oder minder geglückten Momente seines Fehlens, seines Verschwindens, seiner Abwesenheit bildet. Es kommt alles darauf an, im richtigen Augenblick und an der richtigen Stelle zu fehlen: Gekonnt abwesend sein, das ist es, was im Leben zählt. Und nichts anderes. Nicht dabei sein. Sich rar machen. Nicht mitmachen. Sich ausblenden. Von der Bildfläche verschwinden. Die Kunst besteht, so Rugenstein, darin, diese Nicht-Präsenz deutlich spürbar werden zu lassen. Gelingt dies nicht, dann war alles umsonst. Dadurch unterscheidet sich der Meister vom blutigen Dilettanten: Der Dilettant fehlt einfach bloß, der Profi kennzeichnet sein Fehlen als solches. Er unterstreicht es. Dieses Fehlen spricht eine beredte Sprache. Es sagt gleichsam: "Seht her! Ich fehle." Der Volksmund kennt diese tiefe Weisheit in Form der Redewendung: "Durch Abwesenheit glänzen". Die Wissenschaft nennt solche Strukturen der Abwesenheit inzwischen Rugensteinsche Strukturen.

Die Philosophiegeschichte kennt aber auch tragische Fälle misslungener Abwesenheit. So wird vom griechischen Philosophen Empedokles (483-424 v. Chr.) berichtet, er habe sich in den Vesuv gestürzt, um durch plötzliche Abwesenheit einen Mythos aus sich zu machen. Leider spie der Vulkan einen Schuh des Philosophen wieder aus, so dass daraus nichts wurde.

Derartig hässliche und peinliche Pannen gilt es zu vermeiden. Und gerade diesem Problem widmet sich Rugensteins nächstes Buch, von dem man immerhin den Titel schon weiß:

Praxis der Abwesenheit- Die Kunst überall zu sein, indem man nirgendwo ist.

Deshalb sind wir ja auch alle so scharf auf dieses Buch. Viele von uns Rugenstein-Fans sind mittlerweile dazu übergegangen, in unsere Terminkalender einzutragen, wann und wo wir abwesend sein werden. Und nicht etwa Verabredungen, die dann womöglich auch noch eingehalten werden! Diese typischen Anfängerfehler gilt es durch stetiges und geduldiges Üben auszumerzen. Die Regelmäßigkeit ist hier entscheidend, das betont Rugenstein immer wieder. Sie sollten mit den Grundübungen des Verschwindens, also den Vorformen der Abwesenheit, beginnen und diese dann allmählich zu einer systematischen Einübung des Fehlens steigern. Üben sie das Verschwinden und Fehlen täglich mindestens dreimal - das ist wichtig.

Sie werden sehen: Ihre Beziehungsprobleme werden sich in nichts auflösen. Ihre Beziehungen eventuell auch, aber man muss Opfer bringen beim Experimentieren mit Rugensteinschen Strukturen. Bedenken Sie, aller Anfang ist schwer. Und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Außer Rugenstein selbst, den wir eines Morgens vom Dach seines Bungalows stürzen sahen. Er wollte dort wohl gerade eine Fernsehantenne installieren. Selbstverständlich fand das Notärzte-Team, das wir sofort alarmierten, keine Spur von ihm. Wie sollte man auch. Einen Meister überführt man nicht so schnell der Anwesenheit. Erst eine Woche später sahen wir Rugenstein dann für den Bruchteil einer Sekunde im Fernsehen wieder, wo er sämtliche Pressekonferenzen absagte.

Inzwischen ist Rugensteins Theorie, das wissen Sie so gut wie ich, längst nicht mehr bloße Theorie. Die Wirklichkeit hat Rugenstein mittlerweile ein- und überholt. Unser Alltag ist durchsetzt mit Strukturen des Fehlens, des Verlorengehens, der Verabschiedung, des Verpassens, des Nicht-mehr-Vorhandenseins. Neuester Trend dieses "Nicht-mehr-Anwesendseins" ist zweifellos das "Erst- gar- nicht- Hingehen", das sich steigender Beliebtheit erfreut. Und zwar gerade dort, wo man Abwesenheit am wenigsten vermutet: in Chatrooms, auf Beerdigungen, im Bundestag, in den Pilotencockpits, an den Kassen der Supermärkte usw. usw. usw. Ersparen Sie mir bitte die vollständige Aufzählung Rugensteinscher Strukturen, denn sonst wird dieser Text nie fertig.

Es hat wohl niemanden ernsthaft überrascht, dass Rugenstein im letzten Frühjahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt bekam. Selbstverständlich saßen wir bei der Preisverleihung in der ersten Reihe. Und ebenso selbstverständlich fehlte Rugenstein - eine Tatsache, die der Festredner in seiner Laudatio als weitere Glanzleistung des Preisträgers würdigte.

"Jedes Fehlen, meine Damen und Herren, ist ein Handeln", sagte er mit mühsam unterdrücktem Pathos in der Stimme. "Diese Haupterkenntnis der Rugensteinschen Theorie der Abwesenheit sucht in der philosophischen Tradition von Parmenides über Kant bis hin zu Habermas seinesgleichen."

Alle Blicke waren nun auf den Sitzplatz gerichtet, den der Preisträger eigentlich hätte einnehmen sollen, und die Lichtkegel der heißen Scheinwerfer ließen den leeren Stuhl des Philosophen in einem übernatürlich hellen Licht ergleißen.

Die Abwesenheit Rugensteins wurde in diesem Moment so gegenständlich und handgreiflich, dass er nahezu schon wieder anwesend war. Viele meiner Freunde behaupten sogar, sie hätten die sich bereits abzeichnenden Umrisse des großen Denkers wahrnehmen können.

Wir waren tief erschüttert. Erst jetzt begriffen wir das volle Ausmaß der Rugensteinschen Genialität.

Wie dem auch sei, seit diesen Tagen warten wir, wie gesagt, hochgespannt auf sein neuestes Werk. Wir wären allerdings auch keineswegs enttäuscht, wenn es nicht erschiene. Im Gegenteil!

Stellen Sie sich doch mal vor: Millionen, die sehnsüchtig auf das Erscheinen des Buches warten. Die danach fiebern, an den neuesten Erkenntnissen dieses bedeutenden Mannes teilzuhaben. Die nachts schon nicht mehr schlafen können und sich ungeduldig von einer Seite auf die andere wälzen! Also: All diese vielen Menschen wollen die Anwesenheit dieses Buches auf dem Büchermarkt. Und zwar ohne Kompromisse. Sie wollen das ganze Buch. Ohne "Wenn" und "Aber". Sie wollen es ganz und gar.

Und dann erscheint es einfach nicht.

Wie genial ist denn das? Und: Wer könnte das noch toppen?
 
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Lese hier selten so lange Texte, aber das hat sich gelohnt. :D
Genau das, wollte ich auch nach dem lesen hier gerade schreiben.

@Tommy ...:thumbup: humorvoll "gewürzt" und mit geistigem Esprit ..einfach genial :kuesse:


Praxis der Abwesenheit- Die Kunst überall zu sein, indem man nirgendwo ist.
Oha....dieses Wissen macht sich hier wohl auch schon breit....noch nicht so lange her...hier bei uns im Baumarkt eine Durchsage:

"Frau Überall bitte zum Infostand 7".....Frau Überall fand sich aber bei dem wartenden Kunden nicht ein....wurde noch 3 Mal ausgerufen...erfolglos

Dürfen wir vermuten, spekulieren....eine Schülerin vom Meister Rugenstein ?

Nicht geflunkert, wahre Begebenheit.
 
Ganz große Klasse, lieber @Tommy - ein Meisterwerk der zeitgenössischen Literatur -
voll brillanter Wortgewalt und zutiefst berührender Weisheit!
Das wollte ich schon heute Nachmittag schreiben -
aber ich war abwesend!
 
2. Ich bin nicht verliebt

Ich bin nicht verliebt. Ich weiß nur bestimmte Dinge und Menschen zu schätzen, die außergewöhnlich und deshalb erwähnenswert sind. Ein solcher Mensch ist Laura.

"Warum isst du denn nichts?" fragt sie. Ihr genialer Kater huscht mit einem Affenzahn über den Frühstückstisch, ohne auch nur ein einziges Marmeladenglas mit in die Tiefe zu reißen.

"Ich habe schon", sage ich, obwohl ich noch gar nicht habe. An heißen Tagen vergeht mir oft der Appetit. Wie sollte außerdem jemand essen können, der die Gelegenheit erhält, aufregende Beobachtungen zu machen?

Zum Beispiel, dass *essen* und *essen* zwei verschiedene Dinge sind. Laura fällt deutlich aus der Vorstellung heraus, die wir gewöhnlich mit dem Begriff "Nahrungsaufnahme" verbinden. Nicht: Mund auf, abgebissen, Mund zu. Laura geht da anders vor. Begriffe wie *essen* und *trinken* greifen hier nicht mehr. Diese Frau isst nicht, sie tafelt.

Auch, wenn Laura etwas sagt, ist es anders, als wenn irgendwer was sagt. Nehmen wir ein einfaches Beispiel.

"Gibst du mir bitte den Zucker?"

Eine Banalität, die sich sicher viele am Frühstückstisch zuschulden kommen lassen. Nicht so Laura. Sie sagt:

"Gibst du mir bitte den Zucker?"

Jeder, der Laura *Gibst du mir bitte den Zucker?* sagen hört, erkennt sofort, wie sehr sich das Gesagte abhebt vom Alltagsgerede. Nicht durch die Wortwahl, das natürlich auch, sondern durch die Art und Weise, wie sie es sagt. Eigentlich sagt sie es auch nicht, sie singt es. Besonders das Wort "Zucker". Man schmeckt ihn förmlich auf der Zunge. Das ist ein eher ungewöhnliches Phänomen.

Beachtenswert auch, wie sie ihren Tee süßt. Sie lässt die Zuckerwürfel nicht einfach nur dümmlich plumpsen - das machen die meisten Frauen falsch - sondern führt den Löffel mit einer sanft geschwungener Bewegung zur Teeoberfläche. Dort verweilt er überraschenderweise für den winzigen Bruchteil einer Sekunde, so winzig, dass ein ungeübter Beobachter es kaum wahrnimmt. Dann erst wird der Zucker seiner Bestimmung zugeführt. Ein winziger Moment des Zögerns - so als wolle sie damit sagen: "Sieh her, das verbindet sich gleich miteinander. Aber soll es das auch?"

Dieses aufreizende Spiel, etwas in Frage zu stellen, um im nächsten Moment zu dementieren, spielt Laura während des gesamten Frühstücks. Einen labilen Menschen könnte das verrückt machen, nicht aber mich. Ich finde es nur hochgradig bemerkenswert. So bemerkenswert wie auch die Zahl der Zuckerstücke, die sie anwendet. Nicht ein Würfel Zucker kommt ins Spiel. Einen kann jeder Depp in seinen Tee hinein hämmern. Nein, zwei sind es. Zwei. Wer erst einmal den Schlüssel zu Lauras eigentümlicher Gebärdensprache gefunden hat, für den ist alles sehr einfach.

Als sie das Fenster öffnet, um Sonnenstrahlen & Frühlingsgerüche hereinzulassen, komme ich, der ich mich neugierig von hinten genähert habe, versehentlich mit ihrem Haar in Berührung. Es war nicht beabsichtigt. Seltsam: Ihre Haare riechen nach Strand und zwar alle, ohne Ausnahme. Riechen nach Spaziergang am frühen Morgen, Hand in Hand, der aufgehenden Sonne entgegen. Der Strand ist naturgemäß menschenleer, wer sollte da auch sein, am frühen Morgen, das Meer selbstverständlich türkisfarben, und im Hintergrund kreischen die Möwen. Dann gibt es da noch ein Boot, weit draußen, mit bloßem Auge kaum zu erkennen.

So und nicht anders riecht Lauras Haar. Sie lässt es absichtlich so riechen, das ist gewiss, aber ich lasse mir nichts anmerken. Denn das hieße, mich fügen - fügen in ein leicht zu durchschauendes, abgegriffenes Schema. Obwohl - die Nussschale, die verloren auf den Wellen schaukelt, stellt sicherlich ein nicht uninteressantes Detail dar. Warum sie das Boot in ihr Arrangement eingebaut hat, liegt völlig im Dunkeln, und das macht die Sache wiederum spannend und erforschenswert.

Zeit, sich zu verabschieden, sie muss noch jemanden besuchen, sagt sie. Ich will nicht aufdringlich erscheinen, und sie könnte es falsch verstehen, wenn ich ihr anböte, sie dorthin zu fahren, wo sie hin will, wo immer das auch sein mag. Es interessiert mich zudem nicht wirklich, hat mich ja auch nicht zu interessieren, außerdem ist es nur eine Arbeitskollegin, der sie ein Buch geliehen hat. An der Tür fällt auf, dass sie intensiv blaue Augen hat, wie sie nicht blauer sein könnten, hellblau, genauer gesagt, mit einer leichten Tendenz ins Dunkelblaue, insgesamt gesehen aber doch eher hellblau. Das ist hochinteressant. Sie selbst behauptet, sie habe grüne. Vielleicht verhält es sich so, dass Menschen bei Verabschiedungen zu blauer Augenfarbe neigen, ich werde das in nächster Zeit untersuchen.
Wir haben uns für übermorgen zu einem Mitternachtspicknick am Grunewaldsee verabredet. Nicht, dass falsche Irrtümer aufkommen. Das war ihre Idee, nicht meine. Und gar keine üble. Ich hatte das immer schon geplant, und zu zweit ist ein Picknick dieser Art sicherlich noch erfolgreicher. In Frühlingsnächten kommen nämlich die Wildschweine aus den Wäldern, um die Mülltonnen zu plündern, und da ist es vorteilhaft, wenn jemand dabei ist, der zu einem hält.

Sollte etwas dazwischen kommen, will sie rechtzeitig Bescheid geben, hat sie gesagt. Das ist schwer okay, ich kann mich auch anderweitig beschäftigen.

Warum ich denn ständig zum Spiegel laufe und mein Outfit überprüfe, fragt jetzt meine Schwester, die gerade vorbeigekommen ist. "Hast du etwa eine Freundin?" Das ist so typisch und dumm. Man kämmt sich mal die Haare, und schon ist man *der Verliebte*. Natürlich habe ich es nicht nötig, vor dem Spiegel zu stehen, ich bin schön genug. Aber man will ja auch nicht wie der letzte Waldschrat herumlaufen.

Meine Schwester will noch weitere Indizien ausfindig gemacht haben. Das ist mir aber zu albern, so dass ich darauf verzichte, es hier auszubreiten. Nur eines noch. Was, bitte schön, soll denn daran "auffällig" sein, dass man bei einem Telefonklingeln auch mal zusammenzuckt? Bin ich etwa der einzige auf diesem gottverdammten Planeten, der sich nicht erschrecken darf, ohne dass dahinter gleich wer weiß was vermutet wird? Und das Telefon klingelt seit gestern in der Tat sehr schrill, ich werde die Einstellung für den Klingelton überprüfen, und erledigt ist die Sache.

Ich freue mich schon auf das Picknick und lasse es mir nicht zerreden. Kopfzerbrechen bereitet mir allerdings die Zusammenstellung der Nahrung, ich hätte beim Frühstück besser aufpassen sollen, was sie isst und nicht, wie sie dabei zu Werke geht.

Natürlich werde ich mich schärfstens davor hüten, mich zu verlieben. Denn sich verlieben hieße, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und das kann ich im Moment so sehr gebrauchen wie ein Loch im Kopf. Außerdem wäre es trivial.

Ich bin nicht verliebt. Ehrlich nicht.
 
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3. Ellis großer Tag

Elli hatte geübt. Sie war gut vorbereitet auf ihren großen, brutalen Freund, der sie in seinen Pranken hielt und nicht mehr losließ. Und da stand er auch schon vor ihrer Tür.

"Elli-Püppchen!" rief es mit dunkler Stimme von dort, und eine Faust bummerte zwar sanft, aber unüberhörbar gegen das Holz. "Elli-Püppchen, mach auf!"

Aber sie wollte nicht mehr sein Püppchen sein. Wollte nicht mehr mitfahren in seinem frisierten Angeberauto. Wollte nicht mehr mitreden bei seinen hirnlosen Gesprächsthemen. Wollte nicht mehr mitgehen in seine dummbrutalen Kinofilme. Und wollte nicht mehr mitmachen bei seinen idiotischen Sex-Spielchen.

Elli öffnete. "Drei Sätze, bevor du reinkommst", sagte sie zu Bodo hinauf.

"Mach Platz, Elli-Püppchen, wir unterhalten uns drinnen."

"Drei Sätze", wiederholte sie und lehnte sich bequem an den Türpfosten. Bodo gefiel diese Pose überhaupt nicht.

"Ich habe erstens einen neuen Freund. Mit dem ich zweitens schon geschlafen habe. Und drittens hat es mir sogar Spaß gemacht."

"Sag das noch einmal!"

Bodos Augen wurden groß und rund wie Wagenräder.

"Es ist aus. Schluss, vorbei, Schicht, Feierabend, Sense. Begriffen?"

Elli wandte sich zum Gehen.

"Das finde ich aber gar nicht komisch, Elli-Püppchen", sagte Bodo und ergriff sie hart am Handgelenk, als nehme er sich nur, was ihm ohnehin gehörte.

Da begann Elli, sich zu konzentrieren.

Sie fühlte seinen Griff lockerer, seinen Blick unsicherer werden; seine breiten Worte waren ihm wohl im fetten Hals steckengeblieben.

Dann setzte der Schrumpfungsprozess ein.

Schon konnte sie ihm in die Augen sehen, ohne zu ihm aufschauen zu müssen, aber es war ihr nicht genug. Vor ihr schrumpfte Bodo, der den ganzen Vorgang offenbar nicht begriff, mit offenem Mund, wurde kleiner und kleiner, in dem Maße, wie Ellis Selbstbewusstsein wuchs, reichte ihr bis zum Rockansatz, dann nur noch bis an die Knöchel, um schließlich vor Höhe und Breite der Sohle zu verschwinden.

"Es ist endgültig aus", sagte Elli und trat mit dem Absatz nach. Ihr erster freier Tag würde ein Tag ohne Bodo sein.
 
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