Was würdest Du dir denn als Ergebnis dieser Diskussion erwarten?
Der tiefergehende Austausch zum Thema und ich finde Deine Gedankengänge dazu schon sehr bereichernd.
Schillers
Räuber regte mich ursprünglich dazu an, mich eingehender mit der Rechtsphilosophie und der Frage nach der Willensfreiheit zu befassen, um es an einem Beispiel zu veranschaulichen. Wie sehr waren die Protagonisten determiniert durch ihre Lebensumstände und wo fängt genau der freie Wille an? Schiller legt sehr viel wert auf die deterministische Sichtweise, eigentlich sehr "naturwissenschaftlich" und modern gedacht angesichts der neuesten Ergebnisse der Neurologie. Ich persönlich würde die Willensfreiheit in einem unterschiedlich deterministisch gegebenen Rahmen intuitiv und logisch für naheliegend halten.
Was mir spontan einfällt zu den beiden Brüdern in Schillers
Räuber, ist die unterschiedliche Zuwendung, die sie genossen haben. Der eine wurde überbehütet und der andere vernachlässigt. Gerade diese zwei Aspekte werden im Jugendstrafrecht als typische Auslöser für jugendkriminelle Karrieren genannt, da sie beide schädlich sind für eine gesunde Entwicklung zum jungen Erwachsenen. Die beiden Brüder waren ja beide auf ihre jeweils eigene Art kriminell. Die Überbehütung des Hauptprotagonisten hat dazu geführt, dass er später eine übertrieben starke Naivität und Gutgläubigkeit entwickelte, die ihn in größter Desillusionierung auf impulsive Weise aus der Bahn warf, während der vernachlässigte Bruder von vornherein keinerlei Vertrauen in sein Umfeld entwickeln konnte aufgrund der fehlenden Liebeszuwendung durch den Vater und selbstsichernd kriminell auf pathologische Weise überrational vorging.
Dieses Grundmotiv der beiden Brüder gibt es schon mehrfach in der Bibel, Kain und Abel, Esau und Jakob, Josef und seine Brüder. Die beiden Brüder in Schillers
Räuber repräsentieren zwei Seiten von Kriminalität, nämlich diejenige aufgrund von unkontrollierter Impulsivität oder dann die kalte, empathielose Ratio. Der eine wird zur äußerlich antisozialen Persönlichkeit und der andere zum scheinbar angepassten Narzissten und Psychopathen. Beide stellen die Gegenpole einer fehlgesteuerten Emotionsregulation dar (überschießend impulsiv und unkontrolliert bzw. gegenpolig verdrängt-zwanghaft kontrollierend). Schiller entwickelt ihre Verläufe auf Kausalitäten, wo im Prinzip auch eine veränderte innere Haltung aufgrund der Willensfreiheit den Handlungsverlauf hätte spontan verändern können. Aber das geschieht hier nicht. Auch dort, wo scheinbar ein inneres Erkennen stattfindet, werden diese Momente immer von dazutretenden Personen angestoßen. So würde ich den Determinismus verstehen, eine Reihe von Kausalitäten, bedingt durch Anstöße aus dem Umfeld, ein ständiges Dazulernen und Reagieren.
Schillers
Verbrecher aus verlorener Ehre wäre auch ein gutes Beispiel. Schiller soll mit dieser kurzen Erzählung die moderne, objektive Berichterstattung im deutschen Rechtswesen begründet haben. Diese auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte wirkt in ihrer Psychologisierung und Aufklärungshaltung erstaunlich modern. Da ich aus Interesse an strafrechtlichen Sachverhalten bereits einige vergleichbare Fälle aus der heutigen Zeit näher untersuchte (auch mit Aktenstudium), sehe ich darin tatsächlich die Grundpfeiler der heutzutage gängigen Praxis der Psychologisierung, durchaus auch mit naheliegenden Begründungen wie z. B. Mobbing in der Jugend aufgrund des Aussehens, Armut, Vaterlosigkeit, Kompensation durch Selbstwirksamkeit bei "falschen" Freunden, Diebstahl als Kennzeichen fehlender elterlicher Zuwendung. Es gibt sogar Statistiken zu solchen Merkmalen Delinquenter. Es wirkt in Schillers Geschichte schon sehr klischeehaft überzeichnet, aber so wird es auch im Strafrecht und sogar in Gutachten modellhaft pauschalisiert, wie ich feststellte. Schiller wandte diese Klischees bewusst so an, um eine nahtlos nachvollziehbare Psychologisierung hinzukriegen. Heutzutage würden noch Gutachten dazukommen und die Ursachen nicht nur im Gruppenverhalten gesucht werden, sondern bereits in der Kindheit die ersten Züge einer oftmals impulsiven und antisozialen Störung der Persönlichkeit aufgedeckt werden. Wenn z. B. bei Schiller davon die Rede ist, dass die Strafbehörden die Verbrecher geradezu an der Physiognomie erkennen, ist das zwar ein Klischee, wird aber tatsächlich heutzutage von solchen, die mit Delinquenten arbeiten, oftmals hervorgehoben, womit sie aber mehr das ganze Rollenverhalten in der Szene beschreiben.
Ich diskutierte auch schon mit einem Straßenverkehrssünder, der fast einen Unfall baute und mehr Glück als Verstand besaß in dem Fall. Ihm wurde der Fahrschein entzogen für einige Jahre. Er musste sich zudem einem Gerichtsverfahren stellen. Obwohl alle Beteiligten (alle noch sehr jung) unverletzt davonkamen, führte ihr Fehlverhalten zu rigiden Strafen. Er musste sich psychologischen Gesprächen unterziehen. Als wir darüber sprachen, zeigte er sehr wenig Einsicht in sein schuldhaftes Verhalten und schob die Schuld dem Fast-Opfer zu. Nur aufgrund des jahrelangen Fahrscheinentzugs und eines einhergehenden Nachreifungsprozesses folgte irgendwann eine Ernüchterung, wo er ein gewisses realistisches Verhältnis zu seinem Verhalten gewann. Er begann, die "Regeln" zu akzeptieren. Ich muss sagen, dass die Art des Unfalls typisch James-Dean-mäßig ablief, also noch ohne jegliches Einsehen in die Notwendigkeit des Rechtssystems. Und es hätte zum Tod von Menschen führen können, denn es befanden sich Kinder in unmittelbarer Unfallnähe, wo sich ein Auto überschlug. Ein religiös eingestellter Mensch würde von Gottesschutz sprechen. Mir wurde jedoch klar, wie sehr ein solcher Delinquenter auch von seiner Einsichtsfähigkeit abhängig ist, so frei verfügte er nicht wirklich über eine vollumfängliche Willensfreiheit. Dazu war er zu unreif und naiv, es lief wie im Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun". Der deutsche Titel trifft es ganz genau.