Fortsetzung 1
Es war tatsächlich nur die zwingende und unerbittliche Not des Seins, die Hui-Ko an Bodhidharma herantreten und immer wieder zu ihm zurückkehren, sich einem Schneesturm aussetzen und seinen eigenen Arm abhacken ließ, die ihn symbolisch zum ersten Zen-Schüler machte. Hui-Ko war durch seinen inneren Widerspruch beunruhigt und unglücklich und von der klassischen Bildung unbefriedigt, und so suchte er bei Bodhidharma Erleichterung und Hilfe. Für dieses Ziel war er bereit, sein ganzes Sein aufs Spiel zu setzen.
Die Zen-Schule ist in verschiedener Hinsicht eine einzigartige Erscheinung in der Geschichte der Religionen. Theoretisch betrachtet gehören ihre Lehren einem spekulativen Mystizismus an, aber sie werden in einer Form dargeboten und erläutert, daß nur der Schüler, der nach langer Übung eine Einsicht in das System gewonnen hat, ihren letzten Sinn zu erkennen vermag. Für diejenigen, die diese tiefdringende Erkenntnis nicht gewonnen haben, für solche also, die das Zen nicht in ihrem tätigen Alltagsleben erfahren haben, erscheinen die Lehren dieser Schulen, oder besser ihre Ausdrucksformen, seltsam, wunderlich, ja rätselhaft. Kritiker, die mehr oder weniger begrifflich über die Zen-Lehre urteilen, halten sie für völlig absurd und lächerlich und meinen, sie mache sich selbst absichtlich unverständlich, um die augenscheinliche Tiefe ihrer Erkenntnis gegen Kritik von außen zu schützen. Umgekehrt bedeuten in den Augen der Zen-Anhänger die offensichtlich paradoxen Äußerungen der Lehre nicht etwa Künstlichkeit, die dazu ersonnen sind, die Lehre hinter einem Schirm von Dunkelheit zu verbergen; sie sind vielmehr nur der Beweis dafür, daß die menschliche Zunge kein geeignetes Organ ist, die tiefsten Wahrheiten des Zen auszudrücken, da Zen niemals zum Gegenstand logischer Erklärungen gemacht werden kann. Die Lehre muß vielmehr in der innersten Seele erlebt worden sein, um überhaupt verständlich zu werden. In Wirklichkeit gibt es auf keinem Gebiet menschlicher Erfahrung klarere und treffendere Ausdrücke, als im Zen. "Kohle ist schwarz." Das ist ebenfalls klar genug; aber Zen protestiert: Kohle ist nicht schwarz. Das ist ebenfalls klar genug, ja sogar noch klarer, als die erste bejahende Bestimmung, vorausgesetzt, daß wir zur tiefsten Wirklichkeit vorgedrungen sind.
Vor allem die Zen-Tradition hat ein System von nichtverbalen Unterweisungen durch scheinbar unsinnige Aufgaben entwickelt, die man Koan nennt und die sich nicht mit Hilfe des Denkens lösen lassen. Sie zielen darauf ab, den Denkprozess zu unterbrechen und so den Zen-Schüler für die nichtverbale Erfahrung der Wirklichkeit zu öffnen. Im Zen muß die Befreiung (Satori) plötzlich über den Menschen kommen. Nicht stufenweise Übungen führen dazu, sondern harte Reden und rohes, schockierendes Benehmen des Zen-Meisters, die die Ich-Verkrustung des Menschen allein aufreissen können. Nehmen wir das Beispiel des Stocks in der Hand des 'Meisters'. Er hält ihn hoch und spricht: "Ich nenne das nicht Stock, und wie würdet ihr es nennen?" Das sieht so aus, als würde es eine dialektische Antwort erfordern, denn die Erklärung ist gleichbedeutend mit: "Wenn A nicht A ist, was ist es dann?" Das logische Gesetz der Identität wird hier verletzt. Manchesmal sagt der Meister auch etwas anderes: "Der Stock ist kein Stock und ist doch ein Stock." Wenn der Schüler dem 'Meister' logisch kommt und die Herausforderung als völlig unsinnig bezeichnet, wird er bestimmt einen Schlag mit dem Stock aus der Hand des Meisters bekommen. Der Schüler wird zwangsläufig in eine Sackgasse getrieben, denn der Meister bleibt fest und weigert sich absolut, einem noch so starken intellektuellen Druck nachzugeben. Der Verstand muß seinen Platz dem Willen überlassen.
Zen ist ausdrücklich kein System, das sich auf Logik und Analyse gründet. Wenn es irgendetwas ist, so ist es das Gegenteil von Logik, unter der Suzuki die dualistische Denkweise versteht. Wohl mag im Zen ein intellektuelles Moment stecken, denn Zen ist Geist als Ganzes, und in ihm ist vieles enthalten. Aber der Geist ist nicht etwas zusammengesetztes, das in soundso viele Vermögen eingeteilt werden könnte, ohne daß nach dieser Zergliederung irgend etwas übrigbliebe. Weder hat Zen uns auf dem Wege einer intellektuellen Analyse etwas zu lehren, noch enthält es irgendeine feste Lehrmeinung, die seine Anhänger annehmen könnten. In dieser Beziehung ist 'Zen' völlig chaotisch, wenn man so sagen will. Wahrscheinlich werden 'Zen-Anhänger' eine Menge von Lehrmeinungen haben, aber sie haben sie auf ihre eigene Rechnung und zu ihrem eigenen Besten; sie verdanken sie nicht dem Zen. Die Lehre des Zen ist eine Absage an jedes System. Das Zen besteht weder auf einem Gott, noch leugnet es ihn. Das Zen will absolute Fryhide, selbst Freiheit von Gott. Sogar von Buddha will es gleichermaßen frei sein; deshalb der Ausspruch des Zen: Reinige deinen Mund, wenn du das Wort 'Buddha' ausgesprochen hast.
So gibt es im Zen auch weder heilige Bücher, noch dogmatische Lehrsätze, noch irgendwelche symbolischen Formeln, die uns das Wesen des Zen zugänglich machen könnten. Wird Suzuki gefragt, was Zen lehrt, so muß er antworten, daß Zen 'nichts' lehrt. Was immer es für Lehren im Zen gibt, sie kommen aus dem eigenen Inneren jedes einzelnen. Wir sind selbst unsere Lehrer; Zen weist nur den Weg. Mag dieses Wegweisen eine Lehre sein, so gibt es im Zen doch nichts, was als eine grundsätzliche Lehre oder eine philosophische Basis bezeichnet werden könnte.
Die relative Gültigkeit von Theorien als temporären Hilfsmitteln zur Erklärung von bestimmten Tatbeständen, die in einem fortgeschrittenen Stadium wie Krücken weggeworfen werden können, erinnert an jenen Zen-Buddhisten, der sein Buddha-Statue verbrannte, weil inzwischen eine 'höhere' Bewußtseinsebene erreicht hatte und diese 'Krücke' nicht mehr benötigte. In die gleiche Kategorie gehören die Ansichten gewisser Zen-Meister, daß die Verehrung "heiliger Schriften" oder Dogmen des Buddhismus nur Götzendienst sei, weil diese im Grunde nicht heilig und kein "geschriebener Buddha" sind. Sie mögen auf dem beschwerlichen Weg der Erkenntnis uns eine Weile lang nützlich sein, später werden sie einfach zurückgelassen. Ein Meister sagte: "Bevor man 'Zen' studiert, sind einem die Berge Berge und Gewässer Wässer. Wenn man jedoch einen Einblick in die Wahrheit des Zen bekommt durch die Unterweisungen eines guten Meisters, so sind die Berge nicht mehr die Berge und die Gewässer nicht mehr Wässer. Aber später, wenn man wirklich den Ort des Friedens erreicht hat (d.h. wenn man im Satori, dem Zustand der Erleuchtung ist), sind für einen die Berge wieder Berge und die Gewässer wieder Wässer."
Was ist das Hauptziel des Zen? Mit Suzukis Worten: "Zen ist seinem Wesen nach die Kunst, in die Natur des Seins zu blicken, und es zeigt den Weg von der Knechtschaft zur Freiheit. Wir können sagen, daß das Zen alle Energien freisetzt, die in jedem von uns richtig und natürlich aufgespeichert, aber unter normalen Bedingungen verkrampft und verzerrt sind, so daß sie keinen angemessenen Kanal zu Betätigung finden. Es ist das Ziel des Zen, uns davor zu bewahren, geisteskrank oder sonst irgendwie verkrüppelt zu werden. Das verstehe ich unter Freiheit, daß ich allen schöpferischen und wohlwollenden Impulsen, die im Herzen schlummern, freien Spielraum lassen kann. Gewöhnlich sind wir blind der Tatsache gegenüber, daß wir alle notwendigen Eigenschaften besitzen, die uns glücklich und anderen gegenüber liebevoll machen."(3)
Im 11. Jahrhundert drohen zwei Gefahren: Verflüchtigung des Zen ins Begriffliche und Auflösung des Zen ins Beschauliche. Die Meister ändern ihre Methode. Sie führen das Koan ein. Koan bedeutet eine Art Test, wörtlich "eine öffentliche Urkunde, die einen Urteilsstandard aufstellt". Das Koan führt das Denken in eine Sackgasse, verschärft die Unruhe des Suchenden, bewirkt eine fast unerträgliche Spannung, damit der Panzer der Sinnenwelt und die Ichverhaftung gesprengt wird und die Schau ins eigene Wesen explosionsartig aufbricht. Dafür einige Beispiele: Ein Mönch fragt Tung Shan: "Wer ist der Buddha?" Antwort: "Drei Pfund Flachs." Chao-Chou wird gefragt: "Hat auch ein Hund die Buddha-Natur?" Er antwortet: "Wu" (auf japanisch 'mu', d.h. nicht oder nichts). Oder die berühmte Frage: "Was ist der Ton der einen Hand?" In der strengen Selbstdisziplin des 'Zazen' such der Übende nach der Lösung des Koans. 1700 Beispiele sind aus dem Chinesischen überliefert. Eine einzige echte Erfahrung löst sie alle.
Die Aufgabe des Zen-Lehrers besteht darin, den Schüler zu dem Punkt zu treiben, wo er aufgeben muß. Der Schüler erkannt dann, daß es keinen gedanklichen Ausweg mehr gibt aus seiner prekären Lage und daß diese missliche Situation in gewisser Weise selbst eine Illusion ist. Die berühmten Koans des Zen, die rätselhaften Fragen, die zu lösen dem Schüler als Hilfe auf dem Weg zur Erleuchtung aufgegeben werden, bringen ihn dazu, an dem Versuch zu zweifeln, die Situation analytisch zu erfassen. Was der Zen-Meister tut, ist helfen zu erkennen, daß wirkliches Verstehen mit einem nur rational-logischen Geist unmöglich ist.
(Fortsetzung folgt !)