Lieber Opti,
ich finde das wirklich bemerkenswert, dass du hier diesen Abschnitt zitieren kannst und ihn aus meiner Sicht vollkommen falsch interpretieren kannst.
Wenn man wie du das Annehmen eine Weile geübt hat, dann kommt der Punkt, wo man weitergehen muss zu dem Punkt, wo solche negativen Emotionen nicht mehr geschaffen werden. Wenn nicht, dann wird dein "Annehmen" bloß zu einem mentalen Etikett, das deinem Ego erlaubt, weiterhin im Unglück zu schwelgen. Und das verstärkt letztendlich nur dein Gefühl von Getrenntheit anderen Menschen, deiner Umgebung und dem
Hier und Jetzt gegenüber.
Was sagt dieser Text? Erst sagt zunächst, dass es eine erste Stufe gibt, auf der man Annehmen praktizieren kann.
Dann kommt der Text auf eine zweite Stufe zu sprechen, "wo man weitergehen muss".
Und zwar: "zu dem Punkt, wo solche negativen Emotionen nicht mehr
geschaffen werden"
Lieber Opti, was machst du aus diesem Text?
Durch das Hinunterschlucken hat sich die Wut keineswegs aufgelöst. Sie wurde nur verdrängt. Und genau das macht die Sache so gefährlich, denn genau diese Praxis hat man uns seit unserer Kindheit eingetrichtert. Man hat es uns so sehr eingebläut, dass dieses Verhalten unser ganzes Sein bestimmt. Weil wir unsere Wut Jahrzehnte lang heruntergeschluckt haben, werden wir alle sehr stark von einer unterschwelligen Wut bestimmt.
[...]
Mit dem Verhalten, welches ET empfiehlt, ist also keinem geholfen. Es mag zwar für den Moment hilfreich sein, denn man hat uns sehr gut konditioniert. Die Ursache unserer Wut ist dabei allerdings überhaupt nicht erörtert worden. Sie liegt irgendwo im Dunkeln. Es findet keinerlei Auseindersetzung mit den Ursachen der Wut statt.
Du beschreibst den Text so, dass Tolle sagen würden, man sollte etwas hinunterschlucken, etwas verdrängen.
Was bringst du hier durcheinander, Opti?
Tolle sagt eindeutig: "wenn du deinen Arger, deine Launen, deine Wut und so
weiter annehmen kannst, dann wirst du nicht länger gezwungen
sein, sie blind auszuagieren und du wirst sie seltener auf andere
projizieren." Er sagt also genau das, was du hier forderst: den Schmerz nicht unterdrücken, sondern ihn annehmen: dies wird einen Erfolg zeigen.
Wenn Tolle dies aber sagt, dann kann doch der darauf folgende Absatz nicht meinen, dass man den Schmerz nun doch unterdrücken sollte. Irgend etwas kann in deiner Interpretation hier nicht stimmen, Opti.
Was meint er also?
Wenn man den Satz genau liest, dann steht es eigentlich Wort für Wort da:
Punkt, wo solche negativen Emotionen nicht mehr geschaffen werden
Tolle redet nicht mehr über die Stufe, die du thematisierst, Opti. Tolle wirft hier einen Blick voraus und er fragt, was meine Aufgabe wohl sein wird, wenn ich mich selbst angenommen habe. Und die Aufgabe wird Tolle zufolge dann sein, keine NEUEN negativen Emotionen mehr SCHAFFEN.
Und was meint er damit? Er meint damit "Gleichmut":
Upekkhā http://de.wikipedia.org/wiki/Upekkha
Tolle spricht also von zwei Stufen. Du, Opti, blendest die erste STufe aus, verstehst die zweite Falsch, als Unterdrückung, obwohl es um ein Nicht-Schaffen geht, und stellst dann die erste Stufe in Gegensatz zur falsch dargestellten zweiten Stufe. Auf diese Weise entsteht eine Position, auf die du einschlagen kannst.
Man kann darüber streiten, ob dies richtig ist, was hier Tolle sagt. Aber ganz offensichtlich geht deine Kritik überhaupt nicht darauf ein, was Tolle hier schreibt. Wenn du also Tolles Text kritisieren willst, woran dir anscheinend viel gelegen ist, lieber Opti, dann versuche ihn doch auch zu verstehen, sonst kritisierst du nur das, was du selbst in den Text hineinliest.
Liebe Grüße,
Energeia