Reinhard Maß: Offen gestanden habe ich den Eindruck, dass viele Psychiater sich nicht gerne mit solchen Ergebnissen auseinandersetzen. Das betrifft leider auch die meisten führenden Köpfe des Faches – wobei es löbliche Ausnahmen gibt, aber es sind nicht viele. Ich wollte unsere Arbeit ursprünglich im
Nervenarzt, der führenden deutschsprachigen Psychiatriezeitschrift, veröffentlichen, damit sie deutschen Psychiatern und Psychologen einfacher zugänglich ist. Der
Nervenarzt hat zwar in der internationalen Forschung eine eher geringe Bedeutung (niedriger Impact Factor), hat aber eine hohe Auflage und wird viel gelesen. Dort hatte ich das Manuskript zuerst eingereicht. Der zuständige Herausgeber hatte mir dann geantwortet, das wäre alles nicht sehr interessant, es seien methodische Fehler in der Arbeit und sie sei nicht aussagekräftig – das war eine ganz pauschale Behauptung, die noch nicht einmal begründet war. Tatsächlich hat er keine unabhängige Begutachtung eingeleitet. Ich habe dann dieselben Daten an die englischsprachige Fachzeitschrift
Psychopharmacology gesendet, die einen viermal höheren Impact Factor hat als der Nervenarzt, und dort war man von den Ergebnissen sehr angetan und hat den Artikel nach dem Begutachtungsprozess (peer review) angenommen. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus kann man die Ablehnung durch den
Nervenarzt schwer erklären.
Unsere Daten zeigen ganz klar, dass die Streichung von Antidepressiva aus dem Konzept keinen Nachteil hatte – im Gegenteil.
In der zweiten Untersuchungsphase – ohne Antidepressiva – war der Therapieeffekt sogar etwas stärker, es gab etwas weniger Therapieabbrüche, und die Behandlungsdauer war um 4½ Tage kürzer. Die Daten weisen somit darauf hin, dass die Behandlung ohne Antidepressiva etwas effizienter sein könnte als mit. Daher steht in der Zusammenfassung unserer wissenschaftlichen Arbeit in dieser hochrangigen Zeitschrift: „Die gängige Verschreibung von Antidepressiva sollte hinterfragt werden (the current prescribing practices of antidepressants should be questioned)“.
Prof. Dr. Reinhard Maß hat systematisch über einen Zeitraum von knapp 20 Jahren die Besserungen der depressiv erkrankten Patienten auf seiner Station erfasst. Seine aktuelle Studie kommt zu überraschenden Ergebnissen über Antidepressiva, die die Behandlung revolutionieren können.
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