Der kleine Wurm

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SusiQ19

Guest
An einem sehr windigen Herbsttag, an dem buntes Laub von den Bäumen fiel, schlängelte sich ein kleiner Wurm einem Waldweg entlang. Ohne Ziel und ohne Hast, gedankenverloren und einsam, beobachte er Vögel und Hasen, wie sie sich schnell und ohne Bemühungen von ihm fortbewegten. Voller Neid und Missgunst musste er feststellen, wie langsam und schwierig sein Vorwärtskommen doch war. Während er im Augenwinkel beobachten konnte, wie die Vögel bereits über alle Berge verschwunden waren, und auch die Hasen fröhlich von ihm weg hoppelten, ließ er traurig sein kleines Köpfchen sinken, rollte sich am Boden ein und schlief mitten am Waldweg ein.

Als der Tag bereits zur Nacht wurde, wachte der kleine Wurm plötzlich auf. Eisige Kälte und Nebel umhüllte seine Silhouette, als er feststellen musste, dass er noch keinen Unterschlupf gefunden hatte. Also versuchte er, einen Schlafplatz zu finden. In die dreckige Erde wollte er sich nicht mehr verkriechen, zu oft und zu lange, hatte er sich mit der nassen und kalten Erde abgefunden, doch damit konnte der kleine Wurm einfach nicht mehr leben. Er begann also, sich wieder des Waldweges entlang zu schlängeln, als er hörte, wie Rehe, die neben ihm herliefen, sich über ihn lustig machten. Schallendes Gelächter, verächtliche Blicke und Hohn wurde ihm zuteil, aber trotz der Scham die er empfand, schlängelte er sich weiter des Weges entlang.

Nach einigen Stunden mühsamer Wanderung, fand er ein kleines Häufchen buntes Laub. Seelenruhig bastelte er ein kleines Bettchen aus dem Laub, welches aber nicht seinem Schutz diente, denn unter widrigen Bedingungen zu überleben, war seine Lebenskunst. Das Bettchen diente einzig und allein dem Nutzen, sich wohl und geborgen zu fühlen, einen ruhigen und bekömmlichen Schlaf zu finden, und in einen wunderschönen Traum zu flüchten, welcher die Realität für einige Stunden ausblenden sollte.
Als der kleine Wurm es sich richtig gemütlich gemacht hatte, sein müdes Köpfchen in das Laub sinken ließ, verspürte er tiefe Dankbarkeit, für jeden Zentimeter seines Körpers, der nicht mehr frieren und zittern musste. Er schloss seine Augen, reckte und streckte sich, und ließ seiner Fantasie freien Lauf. Nun war es an der Zeit, sich mit all seiner Gedankenkraft und Willensstärke, auf seinen Traum vorzubereiten, wie er es die letzten Wochen und Monate immer tat.

Er schloss seine Augen und stellte sich verschiedenste Bilder in seinem Kopf vor. Anfangs waren es noch Erinnerungen der letzten Tage, die er mit großer Mühe auszublenden versuchte. Doch dann, stellte sich ein wohlig warmes Gefühl in der Herzgegend ein, als er sich selbst als großen starken Wurm vorstellte, mit zwei riesigen Flügeln rechts und links von seinem Körper abstehend. Auf seinem Kopf trug er eine Fliegerbrille, eine mit dickem Rahmen und dunklen Gläsern. So eine Brille wollte er schon immer haben. Aber nicht nur das hatte der kleine Wurm in seiner Vorstellung zu bieten. Es ragten starke und lange Ärmchen und Beinchen aus seinem schmalen Körper hervor, welche über eine solch herausragende Muskelkraft verfügten, dass er alle großen Steine, die ihm Weg lagen, einfach wegschleudern konnte. Während sich diese Bilder in seinem Kopf abspielten, zeichnete sich ein zufriedenes Lächeln in seinem Gesicht ab. Er spürte die Energie die ihn durchfloss, bloß bei dem Gedanken, er könnte mit dieser Vorstellung einschlafen, und in diesen immerwährenden Traum flüchten, um nie wieder davon aufzuwachen. Ganz fest kniff er seine Äuglein zu, um sich das Bild des starken, muskelbepackten Tiers, welches er jetzt war, hochzuholen, mit Flügeln so groß und mächtig, dass selbst die Vögel, die rings um ihn standen, vor Neid erblassten. Jetzt machte sich niemand mehr über ihn lustig, wo er fest auf der Erde stehend, erhobenen Hauptes samt schicker Fliegerbrille seine Muskeln spielen lassen konnte. Er genoss die neidischen Blicke der Vögel, welche sich leise ins Ohr zuflüsterten „Hast du schon jemals so große, elegante Flügel gesehen? Wie weit die wohl fliegen können?“ Während die Vögel ihn mit offenem Mund anstarrten, die Blicke gebannt auf seine Flügel, welche er nun stolz ausbreitete, drehte er den Kopf in die verschiedensten Richtungen. Nun sah er, wie die Rehe und Hasen sich hinter seinem Rücken versammelten, um ihn zu mustern und zu erahnen, um welch exotisches Tier es sich hier handeln könnte. Ein Wurm konnte es schließlich nicht sein, wo doch Flügel aus seinem Rumpf herausragten.
Stolz und erhobenen Hauptes marschierte er mit aufrechtem Gang und hastigen Schritten des Weges entlang. Der kleine Wurm grinste frech, und jedes Tier das ihm auf dem Weg begegnete, wurde von ihm mit einem tiefen und mutigen Blick in die Augen fixiert.
Er fühlte sich jetzt weder klein, hilflos und schwach, noch empfand er nur ansatzweise so etwas wie Scham. Der kleine Wurm fühlte sich mächtig, stark und stolz.
Als er bereits einige Meter zurückgelegt hatte, fing er an, mit seinen Flügeln zu schlagen. Noch immer, wurde er von den Vögeln, Rehen und Hasen am Waldrand beobachtet. Besonders die Rehe, welche erst neulich über ihn lachten, schauten verlegen zu Boden, und schämten sich ihres einfältigen Körpers. „Hätten wir doch auch nur solch große, elegante Flügel…,“stotterte das kleinste von ihnen. „Sei still, so etwas brauchen wir doch gar nicht“, konterte das älteste Reh von allen. Nachdem diese Worte das Maul des Rehs verlassen hatte, schlug der kleine Wurm wilder als je zuvor mit seinen Flügeln und sein Körper flog durch die Luft. Immer höher und weiter flog er, den Wind um die Ohren, mit einem Lächeln auf den Lippen, und einer tiefen Dankbarkeit im Herzen. Es dauerte nicht lang, so verschwand er zwischen den Bergen und Tälern, und das Einzige, was man noch von ihm sehen konnte, war sein wilder Flügelschlag, der sich wie ein Echo durch den Wald verbreitete.
Obwohl er seinen Körper während des Traums kaum bewegte, zuckten seine Augenlider wie wild. Seine Mundwinkel waren noch immer zu einem breiten Lächeln hochgezogen, und man konnte die Freude in seinem schlafenden Gesicht deutlich sehen und spüren. Während er noch immer vor sich hinträumte, begann er seinen langen, kalten Körper auf die Seite zu drehen und öffnete vorsichtig seine Augen.

Mit halb geöffneten Augen sah er das Laub vor sich liegen. Auf dem Laub war sanfter Morgentau, in dem sich die bereits aufgehende Sonne spiegelte. Die Nacht war zum Tag geworden, und in seinem Leben hatte sich rein gar nichts geändert. Er hatte nur geträumt und die graue und harte Realität hatte ihn wieder eingeholt.
Als er halb ausgeschlafen wieder seinen Weg zurücklegen wollte, um endlich einen dauerhaften Unterschlupf zu finden, blieb er an jedem kleinem Steinchen hängen. Jedes kleine Steinchen wurde zum Hindernis des kleinen Wurms. Als er sich nach einigen hundert Metern ausruhen wollte, flog ein Adler, wie aus dem Nichts auf ihn zu. Er wurde immer größer und größer, als er sich plötzlich den Wurm krallte, und mit ihm hinwegflog. Der kleine Wurm baumelte am Greif des Adlers, und während dieser immer schneller und schneller flog, peitschte sich der kalte Wind ins zarte Gesichtchen des Wurms, auf dem Tränen der Verzweiflung kullerten. Er wollte doch nur einen Unterschlupf finden, welcher ihm Wärme, Geborgenheit und Schutz bieten konnte. Während der Adler bereits eine weite Strecke hinter sich hatte, baumelte er noch immer hilflos am Greif des Adlers. Heulend und schluchzend windete er sich in den Adlers Fängen, alles vergeblich. Als es jedoch kurze Zeit an der Aufmerksamkeit dieses opulenten Flugvogels mangelte, lockerten sich dessen Fänge und der Wurm flog abrupt und mit voller Wucht in die Tiefe. Dort angekommen, wurde sein Aufprall von einer großen Welle, welche einer Bachquelle entsprang, aufgefangen. Er plantschte voller Leichtigkeit vor sich hin, um bald feststellen zu müssen, dass ihm ein kleines Stück Holz am Ende dieser Welle mitgetragen hatte. Plötzlich wurde es ihm schlagartig klar. Er war wach, er war geflogen, und er hatte eine weite Strecke in sehr kurzer Zeit zurückgelegt. Das Leben hatte ihn ein Stück mitgetragen trotz seiner Unvollkommenheit, und es waren weder Flügel noch Muskelkraft dafür nötig gewesen. Der kleine Wurm hatte endlich Frieden mit sich und seinem Leben geschlossen.
 
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