Wie angeboten, da von einigen gewünscht, will ich hier mal einen etwas längeren Beitrag über Epidemie-Simulation schreiben.
Das wird jetzt ein Beitrag mit viel Mathematik und Zahlen werden, und auch das Vokabular, was ich verwenden werde, ist weitgehend emotional distanziert/neutral gewählt. Das soll NICHT darüber hinwegtäuschen, dass hier mit der Gesundheit und dem Leben von Menschen gerechnet wird, also dass diese Zahlen das hypothetische Leid und den Tod von Menschen repräsentieren. Solche Rechnungen zu machen, kann einem manchmal die Tränen in die Augen treiben - aber sie sind ein notwendiges Übel, um eben abschätzen zu können, welche Entscheidung welche Folgen haben wird.
Vorweg: Durch meine frühere Arbeit als Wissenschaftler habe ich Ahnung von Simulations-Rechnungen u.ä., aber ich bin kein Virologe und kein Epidemiologe. In diesen Bereichen habe ich bestenfalls Halbwissen - im Gegensatz zu den Wissenschaftlern, die diese Simulationsrechnungen tagtäglich durchführen und programmtechnisch verfeinern. Die Simulation(en), die ich hier vorstellen werde, die ich programmiert habe, sind an drei Abenden etwas Reinlesen und Programmieren entstanden - sind also sicher nicht so ausgereift, detailiert und aussagekräftig, wie die Rechnungen von den Wissenschaftlern, die sich ihr Berufsleben über mehrere Jahre intensiv damit beschäftigt haben. Sollte in meinen Rechnungen irgendetwas anderes herauskommen als bei denen - ich habe (noch) keinen groben Widerspruch entdeckt, aber könnte ja sein... - ist immer deren Ergebnissen der Vorrang zu geben.
Wer selbst mit den Zahlen herumspielen will, aber nicht selbst programmieren kann oder will, kann auch auf dieser Webseite -
https://gabgoh.github.io/COVID/index.html - etwas rumprobieren. Das ist ein Online-Simulations-Tool, und auf der Seite sind auch die Rechnungen beschrieben inklusive Quellenangaben zu den Fachartikeln (wobei sie eine Formel etwas falsch aufgeschrieben haben... aber das nur nebenbei).
Um den Verlauf einer Epidemie/Pandemie simulieren zu können, sind mir zwei Ansaätze bekannt.
Zum einen kann man im Computer tatsächlich eine Art Modell-Population agieren lassen - also virtuelle Menschen, die durch eine virtuelle Welt laufen, sich an Regeln halten oder nicht, und sich ggf. anstecken oder nicht. Solch ein Ansatz wird z.B. in folgenden Videos vorgestellt und erklärt:
Die Max-Planck-Gesellschaft hat auch eine Video-Serie zur Epidemie-Mathematik erstellt, in dem sie diesen Ansatz zur Simulation vorstellen und damit Ergebnisse vorstellen. Ein Video aus dieser Serie ist:
Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass man sehr detailiert auch Clusterung, individuelle Unterschiede im Verhalten der Menschen, Superspreader etc. in die Simulation mit einbeziehen kann. Der Nachteil ist, dass solche Simulationen sowohl von der Programmierung her als auch vom Rechenaufwand bei der Durchführung recht aufwändig sind.
Ein zweiter Ansatz zur Simulation besteht schlicht darin, dass man ein Satz von Gelichungen erstellt/programmiert, mit dem man aus einem Jetzt-Zustand den erwarteten Zustand z.B. am nächsten Tag berechnet bzw. abschätzt. So kann man dann den Zustand an einem Tag 0 definieren und sich dann beliebig Tag für Tag durch die (virtuelle hypothetische) Zeit hangeln.
Dieser Ansatz ist programmtechnisch wesentlich einfacher, dafür aber auch weniger flexibel.
Für mich habe ich diesen zweiten Ansatz gewählt. Detailierte Prognosen o.ä. sind damit nicht möglich, Ergebnisse sind mit äußerster Vorsicht zu genießen, aber ein wenig Phänomenologie ist damit gut zu veranschaulichen.
Ich habe dabei die Gleichungen des sog. SEIR-Modells genommen - das gleiche Modell des Online-Simulaturs, den ich oben verlinkt habe.
SEIR steht für "
susceptible,
exposed,
infectious,
removed" also zu Deutsch in etwa: "verfügbar, ausgesetzt, infektiös, entfernt".
"Verfügbar" beschreibt die Zahl der Menschen, die nicht immun gegen das Virus sind.
"Ausgesetzt" beschreibt die Zahl der Menschen, die sich angesteckt haben, aber noch nicht infektiös sind.
"Infektiös" sind die Menschen, die andere menschen anstecken können.
"Entfernt" sind die Menschen, die nicht mehr verfügbar sind, sei es, dass sie immun sind nach der Erkrankung (günstigenfalls) oder dass sie gestorben (schlimmstenfalls) sind.
Ein wichtiger Parameter in diesem Modell ist die Basis-Reproduktionszahl R0 - also die Zahl an Menschen, die ein infizierter Mensch im Durchschnitt wieder ansteckt, sofern keiner immun ist. Diese Zahl ist zu unterscheiden zur effektiven Reproduktionszahl Reff, die auch den Anteil der schon immunisierten Menschen mit einbezieht. Diese effektive Reproduktionszahl ergibt sich allerdings sehr einfach aus der Basisreproduktionszahl durch
Reff = R0 * susceptible/N
wobei N die Zahl der Population ingesamt bezeichnet.
R0 hängt von sehr vielen Faktoren ab. U.a. davon, wieviele Treffe/Kontakte ein Mensch so im Durchschnitt hat, wie ansteckend das Virus ist etc. Für Sars-Cov2 wird diese Basisreproduktionszahl ohne Eindämmungsmaßnahmen als zwischen 2,8 und 3,8 angegeben. Eindämmungsmaßnahmen reduzieren die Zahl der Kontakte, so dass mit Eindämmungsmaßnahmen - bzw. auch alleine schon mit Verhaltenänderungen der Bevölkerung - R0 gesenkt werden kann.
Für meine Simulation habe ich folgende Parameter gewählt:
83.000.000 Menschen
R0 = 2,8
5 Tage Inkubationszeit im Durchschnitt
2 Tage ist ein Erkrankter dann im Durchschnitt infektiös
Am Tag 0 ist ein Mensch angesteckt.
KEINERLEI Eindämmungsmaßnahmen oder Verhaltensänderungen der Bevölkerung
Hier das Ergebnis:
Anhang anzeigen 82620
Diese Kurven sehen natürlich sehr glatt aus. In der Realität würden sich an einem Tag mal mehr Menschen infizieren, an einem anderen Tag eher weniger. Die Realität würde also statistisch/zufällig um diese Modellkurven herumzappeln.
Zu erkennen ist eine sehr große Erkrankungswelle. Die Zahl der "aktiv infektiösen" Menschen steigt anfänglich exponentiell an, so lange die Zahl der immunen Menschen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung klein ist. Natürlich werden zum Maximum der Epidemie hin sehr schnell die Menschen aus dem Pool " verfügbar" entfernt, und die effektive Reproduktionszahl singt schnell unter eins, so dass die Welle abebbt. Am Ende des Simulationszeitraums werden sich etwa 77.500.000 Menschen infiziert haben.
Solche Kurven wurden auch schon am Anfang der Pandiemie viel gezeigt, und aus ihnen kann man auch die Schwere der Situation abschätzen.
Ungefähr 10% der mit Sars-Cov2 infizierten Menschen, benötigen medizinische Hilfe im Krankenhaus (was nicht unbedingt intensivmedizinische Hilfe bedeutet). Als durchschnittliche Liegezeit habe ich 10 Tage gefunden. So kann ich mit meiner Simulation auch abschätzen, wie viele Krankenhausbetten wann gebraucht würden:
Anhang anzeigen 82621
Zum Maximum bräuchte Deutschland etwa 2.500.000 Krankenhausplätze. Das übersteigt die bestehenden Kapazitäten um ein Vielfaches - Deutschland hat etwas weniger als 500.000 KH-Plätze.
Auch die Zahl der Toten lässt sich so für dieses Szenario abschätzen: Ich habe dafür eine Mortalität von 0,37% (aus der Studie von Streeck et al.) angenommen - ein Wert, der sehr optimistisch und wahrscheinlich etwas nur halb so groß ist wie die Realität. Schaut selbst, was mit diesem optimistischen Wert herauskommt:
Anhang anzeigen 82622
Dabei ist noch die Annahme, dass ein Mensch, der an Covid19 stirbt, im Durchschnitt 30 Tage nach der Infektion verstirbt. Zum Maximum hätte Deutschland etwa 5.500 Tote pro Tag an Covid19 zu beklagen. Und sie summieren sich über den Simulationszeitraum auf etwa 286.000 an Covid19 Verstorbene auf.
Das sind etwas mehr Verstorbene, als eine andere grobe Überschlagsrchnung ergeben hat, die ich hier im Thread auch schon ein paar mal vorgeführt habe. Diese basiert darauf, dass für eine ausreichende Gruppenimmunität - die die Epidemie wieder zum Abklingen bringt - etwa 60% bis 70% (sehr optimistisch) der Bevölkerung immun sein müssten - also 50.000.000. Will man diesen Wert mit Durchseuchung erreichen, stirbt natürlich auch ein entsprechender Anteil. Ich gabe seit dem immer an, dass vollkommen ohne Maßnahmen Deutschland mehr als 200.000 Menschen an Covid19 verlieren würde. Und das passt auch hier gut mit der Simulation zusammen.
Nun kann ich auch simulieren: Wie sieht es aus, wenn z.B. durch Verhaltensänderungen bzw. Maßnahmen die Basisreproduktionszahl auf unter 1 - sagen wir 0,7 - gesenkt wird. Also: Am Tag 85 der Simulation werden Eindämmungsmaßnahmen eingeführt, die die Basisreproduktionszahl R0 von 2,8 auf 0,7 reduzieren. Hier die Ergebnisse:
Anhang anzeigen 82623
Anhang anzeigen 82624
Anhang anzeigen 82625
Deutschland bräuchte zum Maximum nur noch 350.000 Krankenhausbetten (Deutschland hat etwas weniger als 500.000 KH-Plätze) und hätte zum Schluss der Simulation nur insgesamt etwas weniger als 48.000 Covid19-Opfer zu beklagen. Die Maßnahme hat in der Simulation also sehr viele Menschenkleben gerettet.
Das sind jetzt natürlich nur Simulations-Rechnungen, die einem sehr stark vereinfachtem Modell entspringen. Die Realität ist um einiges detailreicher und komplexer. Aber die Rechnungen können Trends und Größenordnungen andeuten.
In der Querdenker-Szene ist die Vorstellung weit verbreitet, dass die Entwicklung der Wellen, wie wir sie beobachten, von alleine auch so verlaufen wäre. Krankheiten kommen halt in Wellen, die dann abebben, wenn ein größerer Anteil der Bevölkerung immun ist (so beschreibt es u.a. einer der Vordenker der Querdenker-Szene Prof. Stefan Homburg). Das Problem dabei ist: Die erste Welle ist abgeebbt und die noch aktuelle zweite Welle ebbt gerade ab lange BEVOR eine ausreichende Durchimmunisierung der Bevölkerung stattgefunden hat. Und es drängt sich als logisch-plausible Erklärung geradezu auf, dass es etwas mit den Maßnahmen zu tun hat, weil eben die Maßnahmen die Anteckungsfähigen Kontakte in der bevölkerung reduzieren. Je weniger Kontakte, desto weniger Ansteckungen. Sehr simple Logik. Wer also meint, dass die Wellen auch ohne Maßnahmen abgeebbt wären, müsste gut beantworten, warum das Virus ohne ausreichende Gruppenimmunität so plötzlich und deutlich an Ansteckungskraft verliert.
Der Vollständigkeit halber will ich auch nochmal kurz auf den Punkt der Qeurdenker antworten, dass die Reproduktionszahl in der ersten Welle ja schon bei 1 abgesenkt war, bevor die Maßnahmen losgingen. Der Punkt ist dabei, dass es vorher ja schon Empfehlungen gab, und z.B. Handy-Bewegungsdaten auch schon zeigen, dass die Menschen vorher schon vorsichtiger wurden. Der Wissenschafts-Journalist Ranga Yogeshwar geht in diesem Video detailiert drauf ein:
Als Fazit kann ich nur wiederholt sagen, was ich schon immer sagte:
Die Eindämmungsmaßnahmen bringen etwas. Sie retten Leben. Und im jetzigen Zustand würden Lockerungen nur wieder zu einem schnellen Anstieg der Fallzahlen führen. Und so lange ich keine konkreten realistisch durchführbaren Pläne sehe, wie die "vulnerablen Gruppen", die nicht nur aus Senioren in Pflegeheimen bestehen, geschützt werden sollen/können, sehe ich auch nicht, dass jetzt schon irgendwie stark gelockert werden kann.