Wenn ich denke, dass ich als sportliche 71jährige eigentlich zu Hause sitzen sollte, noch nicht mal einkaufen dürfte, mich zu einer hilfsbedürftigen degradieren lassen müsste......
Und wer verbietet Dir z.B. das Radfahren? Niemand. Es geht darum, dass u.a. Du engen physischen Kontakt mit anderen Menschen vermeiden sollst. Telefonieren und ähnliche Formen der Kontaktaufnahme auf Distanz sind kein Problem.
Meine Mutter ist jetzt Mitte 85. Sie ist auch relativ sportlich - sie fährt auch noch Rad. Gestern hat sie mir am Telefon erzählt, dass sie wieder eine schöne Rundtour durch den Klövensten - ein kleines Wald- und Landwirtschaftsgebiet nord-westlich nahe Hamburg - gemacht hat. Niemand verbietet ihr das. In normalen Zeiten kann sie auch ihre Einkäufe selbst erledigen. Das hat sie auch immer mit dem Fahrrad gemacht. Für ihr Alter ist sie wirklich sehr fit. Neben ihrem Alter hat sie allerdings auch eine Vorerkrankung, die das Immunsystem leicht schwächt. Eine Covid19-Erkrankung würde sie nicht so leicht wegstecken, wie z.B. ich als gesunder Mitte-40er. Es gilt, u.a. sie zu schützen. Das hat nichts mit degradieren zu tun, sondern damit, dass sie noch ein paar Jahre leben will, und auch wir - ihre Angehörigen - wollen, dass sie noch ein paar Jahre bei uns bleibt.
Zudem mache ich mir wirklich Sorgen um die vielen zerstörten Existenzen und die Folgen.
Wer das alles nicht sieht, meiner Ansicht nach überzogene Einschränkungen befürwortet, muss wohl seine eigenen Tücher im Trockenen haben - oder es glauben.
Wer sieht das denn nicht? Ich sehe diese Gefahr für diverse Gastronomen, Kleinunternehmen, Selbstständige und Künstler sehr wohl. Trotzdem halte ich die Maßnahmen nicht für überzogen, weil es ohne diese Maßnahmen nicht besser aussähe.
Der Wunsch einiger Epidemiologen war es, durch strenge Maßnahmen die Reproduktionszahl auf einen sehr kleinen Wert zu drücken - so um 0,2 herum - damit die Fallzahlen auf eine überschaubare Größe schrumpfen zu lassen, um dann damit wieder Containment-Strategien fahren zu können. Das heißt, individuelle Infektionsketten nachvollziehen und die betroffenen Menschen gezielt isolieren, während die Maßnahmen für alle anderen weitgehend aufgehoben werden könnten. Das hätte weniger als ein Jahr gedauert.
Mit gelockerten Maßnahmen die Reproduktionszahl soweit zu drücken, dass sie knapp unter 1 liegt... was soll das bringen? Damit werden die Fallzahlen nicht schnell genug sinken. Diesen Kurs werden wir ziemlich lange fahren müssen; viel länger als den oben skizzierten Weg.
Und die Eigenverantwortung: Tja, die hat immerhin bewirkt, dass die Reproduktionszahl in Deutschland schon vor dem harten Lockdown auf knapp unter 1 gesunken ist. Das lässt sich u.a. an anonymisierten Handybewegungsdaten, die Google bereitgestellt hat, nachvollziehen, dass die Mobilität deutlich zurück ging, als alleine nur Empfehlungen ausgesprochen wurden. Das ist prima. Aber wie lange hätte diese Disziplin gereicht? Wann wären die Leute wieder zu "normal" hochgegangen? Wenn die Mehrheit zu früh wieder auf "normal" gehen würde, würde die Reprodutionszahl wieder steigen, was vermieden werden muss, um die Kapazitäten von Krankenhäusern nicht zu überlasten. Wenn die Mehrheit lange genug durchhalten würde, wäre das ähnlich einem weichen Lockdown - d.h. der Zustand müsste ziemlich lange anhalten. Das hieße auch, dass Gastronomie-Betriebe ziemlich lange eher nur sehr wenig Gäste hätten - die alle wegen der Eigenverantwortung weg blieben. KEINE Versicherung würde denen irgendetwas davon ersetzen. Bedenke der Lockdown hilft auch diesen Betrieben, Versicherungsleistungen und staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, die es NICHT gäbe, wenn der Lockdown nur aus Eigenverantwortung der Bürger entstünde. So oder so: Mit der alleinigen "Eigenverantwortung" hätten wir entweder die große Gefahr der Überlastung von Intensivstationen oder auch Bankrot gehende Gastronomie-Betriebe und Künstler etc., die daneben auch keinerlei Versicherungen und staatliche Hilfen bekommen könnten. Es würde sie also HÄRTER treffen als der aktuelle Lockdown.
Der schwedische Weg fordert mehr Todesopfer, das ist unbestreitbar.
Der schwedische Weg ist ebenfalls eine Belastung für die Wirtschaft, für Kleinunternehmen etc. Großveranstaltungen werden auch hier abgesagt. Restaurants sind leer; sie dürften zwar Gäste empfangen, aber es kommt kaum jemand. Auch mit dem schwedischen Weg stehen Existenzen vor dem Ruin. Und die haben es mitunter schwieriger, irgendwelche Hilfen oder versicherungsleistungen zu erhalten; z.B. Versicherungen sagen: "Wieso? Ihr könnt doch aufmachen. Wo ist das Problem?"
Vor einem möglichen neuerlichen lockdown sollten vielleicht doch auch die kritischen Stimmen in die Überlegungen miteinbezogen werden.
Und was sollen die dazu sagen? Ein neuerlicher Lockdown wäre dann sinnvoll, falls die Reproduktionszahl wieder über 1 steigt. Denn damit würden eben Krankenhäuser binnen relativ kurzer Zeit überlastet. Frau Merkel hat das in einer Pressekonferenz vor ein oder zwei Wochen mal beschrieben, wie schnell die Krankenhäuser in Deutschland bei welcher Reproduktionszahl voll wären. Bei R=1,1, wäre das im Oktober so weit, wenn ich mich recht erinnere - also noch halbwegs weit weg in der Zukunft - aber schon bei R=1,2 hätten wir den Zustand schon im Juli.