Lieber Kenshin, lieber Hagall,
ja, wenn man Gewissheit hätte! Alles ist letztlich Glaube, wenn man so will, ganz krass, sogar Spekulation. Ich hab immer Angst, dass es abgedroschen oder trivial kingt, aber ich "glaube" eben, dass man, wenn überhaupt, nur in der Liebe mitunter so etwas wie Gewissheit spüren kann, das es stimmt. Dass die, die sagen, dass nach dem Tod nichts mehr kommt, sich irren, gewaltig irren. Vielleicht sagen sie es ja auch nur, weil sie im Grunde ihres Herzens hoffen, dass jemand daher geht und ihre Meinung widerlegt.
Und selbst wenn man ein ganz pragmatischer und logisch denkender Mensch ist, müsste doch angesichts unserer wunderbaren Schöpfung, all dieser unglaublichen Dinge, die geschehen, von der Menschwerdung bis zur Artenvielfalt in der Natur, Zweifel entstehen, dass das alles nur zufällig sein und keinen höheren Sinn haben soll.
Zu den Vorwürfen, die Ihr Euch macht, manchmal nicht richtig hingehört oder keine Zeit gehabt zu haben, kann ich nur sagen, dass das zwar normal, aber wirklich unnötig ist. Wir leben im "Alltag", wir leben nicht in Ausnahmesitationen. Auch wenn wir uns jeden Tag als wunderschönes Geschenk bewusst machen, geht dieses Gefühl doch in der Gewohnheit, in den Pflichten, in den Notwendigkeiten, in der Normalität unter. Wenn ich mir meine statistische Lebenerwartung anschaue und dagegen halte, wie oft ich mich auf das kommende Wochenende gefreut habe, ohne darüber nachzudenken, dass mich das ja in Wirklichkeit meinem Lebensende wieder ein Stück näher bringt, dann ist das doch eigentlich verrückt. Hätten wir eine Lebensuhr neben uns stehen, würden wir bestimmt kein einziges Wochenende mehr herbei sehnen, oder? Aber wer kann schon einen Tag so bewusst leben. Immer im Hier und Jetzt sein, wer kann das und wer kann es sich leisten? Ich habe eine wunderbare kleine Tochter. Weil ich beruflich sehr eingespannt bin, habe ich viel, viel Zeit mit ihr nicht gehabt. Ich habe diese Zeit verloren. Unwiderbringlich. Würde mein Kind sterben, das Schrecklichste, das einer Mutter geschehen kann, würden all diese verschenkten Momente wie eine Riesenschuld vor mir stehen. Aber ich weiß, dass es nicht anders geht. Wir haben unsere Aufgaben, wir haben unsere Pflichten und wir können leider in dieser Gesellschaft nicht nur für unsere Lieben da sein und sie nicht für uns. Und es wäre auch unerträglich immer daran zu denken, dass es ja der letzte Moment, der letzte Tag sein könnte. Ich hätte genauso wie Ihr ein Gefühl von, wie soll ich es nennen, Versagen?, Schuld? Aber selbst wenn ich mir angesichts einer solch schrecklichen Vorstellung vornehme, es zu ändern, bewusster mit meinem Kind, mit den Menschen die ich liebe, umzugehen, so geht doch auch dieser Vorsatz irgendwann im Alltag wieder unter. Will sagen: Wir können es uns vornehmen, aber es wird auch immer wieder Tage geben, wo es nicht gelingt, nicht gelingen kann. So wie ich Euch empfinde, sind Eure liebsten Menschen sehr, sehr geliebt worden. Das haben sie schon gespürt, als sie noch hier waren. Und spüren es noch. Mehr, glaube ich, kann ein Mensch, kann eine Seele von dieser Welt nicht mitnehmen, als das wunderbare Bewusstsein, geliebt zu sein. Es gibt keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen. Ich maße mir einfach an, das zu sagen. Ich spiele nicht den Richter, ich lasse mein Herz sprechen. Ihr habt Euren geliebten Menschen alles Wesentliche gegeben, da bin ich ganz sicher. Sorry, wenn ich einmal in solchen Gedanken drin bin, höre ich nicht so schnell auf. Alles Liebe.