Falsche Töne
Der Neumond lag nun etliche Tage zurück und der Vollmond war ganz nah. Die Kristallstadt hatte sich prall gefüllt mit den Kriegern aus den benachbarten Landen, die Hatora ihre Hilfe angeboten hatten. Es war ein grosser Kraftakt, all die Männer unterzubringen und zu versorgen. Auch waren grosse Mengen an Vorräten in die Stadt geschafft worden, um einer längeren Belagerung standhalten zu können. Die Krieger, die nicht mehr in den Häusern der Stadt untergekommen waren, hatten überall in der Stadt Zelte aufgeschlagen. Alle hatten mitgeholfen und waren zusammen gerückt. Alturin teilte sich sein Zimmer mit seinem alten Freund Bengolf.
Belgomir und Mikkel hatten sich angefreundet. Von Anfang an waren sich beide sehr zugetan gewesen. In spielerischen Probekämpfen hatten sie gegenseitig ihre Fertigkeiten im Kampf ausgetauscht und sich gegenseitig nützliche Kniffe beigebracht und jeder hatte vom Anderen eine hohe Meinung. Ihr freundschaftliches Band gewann täglich mehr an Kraft. Jeder der beiden würde für den anderen durchs Feuer gehen.
Hatora war nur selten zu sehen gewesen in den letzten Tagen. Oft hatte sie sich allein in die Kristallkammer zurück gezogen und Stunden dort verbracht. Allen Freunden und Vertrauten hatte sie ihre Anweisungen erteilt. Alturin, Bengolf und Shenzir waren mit der Versorgung all der vielen Männer betraut worden. Mikkel oblag die Führung der Krieger und er hatte die Befehlsgewalt über alle Streitkräfte bekommen. Seinem Vorschlag diese grosse Verantwortung aufzuteilen, hatte Hatora zugestimmt. Den Befehl über eine Hälfte der Truppen bekam sein neuer Freund Belgomir und wenn die Schlacht begann, sollten Alturin und Bengolf mit ihrer grossen Erfahrung hinzukommen. Hatora gefiel die Weitsicht ihres Schützlings sehr.
Mahala machten die letzten Tage vor der Niederkunft sehr zu schaffen. Manchmal suchte sie die Nähe Hatoras, wenn deren Zeit es zuliess. Sie zogen sich dann in Hatoras Gemächer zurück und sprachen über das Kind. Mahala wusste, dass es ein Junge ist und gemeinsam hatten sie über einen Namen für ihn nachgedacht. Doch die endgültige Entscheidung darüber wollte Mahala gemeinsam mit Mikkel treffen. Das Gewicht des Kindes zog sehr in ihrem Rücken und die letzten Tage waren ihr immer schwerer gefallen. Doch dank Hatoras Hilfe war es für sie letztlich erträglich gewesen.
Alturin und sein Freund Bengolf waren meist den ganzen Tag in der Stadt unterwegs und kümmerten sich um die Versorgung der vielen Menschen. Shenzir unterstützte sie dabei. Karren mit Lebensmitteln und viele Krüge mit Wasser wurden durch die Stadt transportiert, um alle zu versorgen und die Brunnen der Stadt waren niemals zuvor so oft betätigt worden. Kriegsgerät stand überall herum und auf dem grossen Platz vor dem Tor wurden eifrig immer mehr Pfeile gefertigt und mit scharfen Spitzen versehen. Dutzende Feuer brannten überall und entlang der mächtigen Mauer wurde damit begonnen, Pech zu kochen. Die Ställe für die Pferde waren hoffnungslos überfüllt und so hatte man einen grossen Teil der Tiere vor die Stadtmauer gebracht und viele Wachen dafür abgestellt.
Der Sternenwald war nicht mehr wieder zu erkennen. Über zwanzigtausend Krieger aus mehreren Volksstämmen hatten zwischen den mächtigen Sternenbäumen ihr Lager errichtet. Der Qualm der vielen Lagerfeuer lag über dem Wald und sorgte für eine etwas geisterhafte Atmosphäre. Die Männer waren nervös. Der grosse Angriff stand nun kurz bevor und es wurde letzte Hand an die Waffen gelegt. Das Handwerkszeug musste in Ordnung sein für ein gutes Gelingen und überall sah man Schwertschleifer, Schmiede und Pfeilmachr bei ihrer Arbeit. Die Räder der vielen Karren wurden noch einmal geschmiert, um die grossen Lasten sicher ins Feindesland zu tragen.
Rincobal ging durch den Sternenwald und sah dem Treiben der Männer zu. Er war zufrieden. Alle waren auf die grosse Sache eingeschworen und bald würden sie aufbrechen. Es würde ein langer Tross werden, der sich von hier aufmacht und über zehntausend weitere Krieger würden aus anderen Richtungen auf die Kristallstadt zuströmen. Er überlegte, wie wohl der Verteidigungsplan Hatoras aussehen würde und ein verschlagenes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Bald würde er mehr wissen....
Mikkel und Belgomir gingen gerade vor das Stadttor um die äusseren Pferdeställe zu inspizieren, als ein Wachposten oben auf der Mauer einen ankommenden Reiter meldete. Eine kleine Staubwolke kennzeichnete den Weg den er nahm und er bewegte sich den Hügel hinab auf die Stadt zu. Belgomir war der Erste, der ihn erkannte.
"Das ist der Schimmel meines Bruders Bengimir, rief er. Ihn hätte ich hier nicht erwartet. Es muss etwas geschehen sein, sonst hätte er diese Reise nicht auf sich genommen." Langsam ging er auf den herannahenden Reiter zu und erkannte tatsächlich seinen Bruder Bengimir.
"Bruder, Du hier?, was ist geschehen, sprich rasch." Kräftig packte Belgomir die Zügel des unruhigen Schimmels und zog das Pferd zu sich heran.
"Belgomir wir sind verloren!, rief Bengimir mit ängstlicher Stimme. Tausende Krieger stehen vor unserer Burg. Des Nachts sind sie aufgezogen und am Morgen waren wir umzingelt und es gab kein Entkommen mehr. Nur ich konnte mich mit Hilfe einer List davon machen, um Euch zu warnen. Du musst sofort mit unseren Truppen zurückreiten und Südland retten."
"Waas?", rief Belgomir entsetzt.
Mikkel hatte ein merkwürdiges Gefühl, als er Bengimir sah. Er schien ihm nicht ganz bei Sinnen zu sein. Belgomir hatte ihm von seinem Bruder erzählt, dass er ein Mann der schönen Künste sei. Er würde Singen und Lieder komponieren, Dichten und Malen. Ausgerechnet er konnte als Einziger entfliehen? Hier stimmte doch etwas nicht!
"Lasst uns zuerst zu Hatora gehen und ihr berichten," sagte Mikkel.
"Nein Du musst sofort handeln Bruder, sonst ist es zu spät und Südland wird untergehen," rief Bengimir entsetzt. Belgomir zögerte. Er war verunsichert.
Mikkel legte ihm beruhigend seine Hand auf den Arm. "Vertraue mir mein Freund und lass uns zuerst zu Hatora gehen." Er sah ihm dabei tief in die Augen.
Da drehte Belgomir den Schimmel in Richtung Stadttor und führte ihn mit seinem Bruder oben auf in die Stadt. Unter lautem Protest sah sich Bengimir nach allen Seiten um. Besonders die Verteidigungsanlagen schienen ihn zu interessieren, ihn, den Sanftmütigen. Mikkel sah sich ihn genau an. Noch wusste niemand, dass Rincobal dasselbe sah, wie Bengimir. Er war sein Kundschafter, sein spähendes Auges und stand unter seinem Einfluss. Auf einem Baumstumpf im Sternenwald sitzend sah Rincobal wie die Kristallstadt sich gegen seinen bevorstehenden Angriff rüstete. Was Bengimir sah, sah auch er...
Mikkel war vorausgegangen und hatte Hatora berichtet. Auch von seinem Verdacht hatte er ihr erzählt. Als Bengimir vor ihr stand, konnte er nicht in ihre Augen blicken. Als sie ihn ansprach, brachte er kein Wort hervor. Da richtete Hatora plötzlich einen Kristall auf Bengimir und augenblicklich begann er wie wild zu zucken, um dann wie eine Salzsäule kerzengerade stehen zu bleiben. Seine Augen bekamen einen rötlichen Ton und er öffnete seinen Mund. Mit lauter, fremder Stimme, die den ganzen Raum erfüllte begann Bengimir zu reden.
"Deine Tage sind gezählt Hatora! Die Stadt der Toten - so wird bald der Name sein von dem, was noch übrig bleiben wird von Deiner Kristallstadt. Schutt und Staub und blanke Knochen!" Laut hallten die Worte Rincobals durch den Raum, brachen sich an den Wänden und kamen immer wieder zurück.
"Sherem ankhar, Rincobal, - bannuuur!", rief Hatora laut und richtete dabei den Kristall auf Bengimir.
Einen Augenblick später brach Bengimir zusammen und lag vor Hatora auf dem Boden. Der Zauber war gebannt!
Belgomir eilte zu ihm und nahm ihn besorgt auf.
"Sorge Dich nicht, Belgomir. Es wird ihm sofort besser gehen," sagte Hatora. Sie holte ein feuchtes Tuch, benetzte es mit Kristallwasser aus einer Schüssel und legte es Bengimir auf die Stirn. Sofort kam Leben in seinen Körper und verdutzt blickte er in die Runde.
"Wo bin ich? Was mache ich hier?", fragte er verwundert.
"Zunächst bist Du in Sicherheit in der Kristallstadt, Bengimir. Doch sage mir, wie steht es bei Euch daheim in Südland?", fragte Hatora.
"In Südland?, fragte Bengimir überrascht. Dort ist alles friedlich. Ich weiss nur nicht, wie ich hierher gekommen bin. Das Letzte, was ich erinnere ist, dass ich Nachts in meinem Bett wach wurde...und nun bin ich plötzlich hier bei Euch. Was ist geschehen?"
"Du hast unter dem Einfluss eines schwarzen Zauberes gestanden und warst nicht Du selbst. Er muss irgendwann Kontakt mit Dir gehabt haben und hat Dich heute für seine Zwecke eingesetzt. Du solltest für ihn die Lage hier ausspionieren und eure Truppen weglocken. Heim nach Südland. Und so unsere gemeinsame Sache schwächen. Er hat mit Deinen Augen gesehen und heute einen Blick in unsere Stadt und unsere Verteidigung erhalten. Doch trägst Du keine Schuld daran. Rincobal ist listig und verschlagen."
Bengimir überlegte einen Moment. "Der Alte am See!", dämmerte es ihm und er erzählte ihnen die Geschichte von dem Mann mit der Flöte. Nun war allen klar, was hier geschehen war.
Hatora liess einen Bediensteten rufen, der Bengimir ein Zimmer zuweisen sollte.
"Nein nein, ich muss zurück nach Südland, sagte Bengimir. Man wird sich dort schon Sorgen machen wegen meiner Abwesenheit."
"Wir werden eine Taube schicken Bengimir, mit Nachricht, dass Du unversehrt und hier bei uns bist, sagte Hatora. Diese Stadt wird nun niemand mehr verlassen, dazu ist es zu spät...und zu gefährlich."
"Mikkel, lasse die Wachen verstärken und schicke zusätzliche Späher in alle Richtungen aus, damit wir so früh wie möglich wissen, wann unsere Feinde eintreffen."
"Ja Herrin", entgegnete Mikkel und sofort machten er und Belgomir sich auf den Weg.
Hatora ging auf den Balkon ihres Gemaches und blickte auf die Stadt herab. Sorgenvoll sah sie alles an. Der Glanz der Stadt, die grosse Kraft, all das wertvolle Wissen, die Heilkräfte, der Frieden.....
Sollte dies alles verlorengehen?

H.A. - hier genannt Tolkien