@prema
über diesen text stolperte ich eben:
Info 3 Dez.98 Rassismus, Modernität und Anthroposophie
Von Jörn Rüsen
(Der Historiker Prof. Dr. Jörn Rüsen ist Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts des Landes Nordrhein Westfalen in Essen. )
Wo steht die Anthroposophie als spirituelle Bewegung angesichts des rational begründeten Universalismus der Moderne?
Der Historiker Jörn Rüsen nimmt das Gutachten zum Anlaß einer Standortbestimmung.
Der Zwischenbericht der niederländischen Untersuchungskommission Anthroposophie und die Frage der Rassen ist ein beeindruckendes Zeugnis selbstkritischer Analyse. Die Tatsache, daß die Untersuchungskommission ausschließlich mit Anthroposophen besetzt war, kann mißtrauisch machen. Das vorgelegte Ergebnis zerstreut aber dieses Mißtrauen nicht nur, sondern erweckt ungeteilte Zustimmung zur Art des Vorgehens. Die Verfasser sind nicht nur das Gesamtwerk Steiners durchgegangen (soweit sich dies angesichts des gewaltigen Umfanges mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln in relativ kurzer Zeit bewerkstelligen ließ), sondern haben es auch in seiner eigenen geschichtlichen Entwicklung und dann vor allem auch im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte analysiert und gedeutet. Auch die Resultate überzeugen. Sie lassen sich mit wenigen Worten zusammenfassen: Der Rassismusvorwurf gegen die Anthroposophie ist im Kern unberechtigt; nichtsdestoweniger finden sich bei Steiner einige problematische, ja ärgerliche Äußerungen, mit denen er verbreitete Vorurteile seiner Zeit teilt. Diese Vorurteile prägen freilich die gedanklichen Grundlagen und dieprinzipielle Ausrichtung seines Werkes nicht, sondern müssen als beiläufig gewertet werden. Es handelt sich im wesentlichen um spontane Äußerungen in einem Vortrag für die Bauarbeiter des Goetheanums, und es steht zu vermuten, daß Steiner sich hier unachtsam auf eine Stimmungslage seiner Zuhörer eingestellt hat.
Überschreitung ethnozentrischer Grenzen
Die Anthroposophie vertritt ein Menschenbild, in dem die ethnozentrischen Grenzen überschritten werden, in denen Menschsein als Wertbegriff entwickelt wurde. Sie setzt freilich gegen diese ethnozentrischen Traditionen nicht ein abstraktes Gegenkonzept universeller Werte und Normen, sondern argumentiert im Kern historisch: Ausschlaggebend für ihre Bestimmung des Menschen ist eine Vorstellung universalhistorischer Entwicklung, in der sich ethnozentrische kulturelle Praktiken in eine Menschheitskultur transformieren, die (im Herderschen Sinn) die Einheit der Menschheit in der Vielfalt und Differenz von Kulturen sich erfüllen läßt. Damit wird kein kultureller Relativismus vertreten, der jede Differenzbestimmung in sich schon für wertvoll erklärt, sondern kulturelle Differenz an Gesichtspunkten der Individualisierung und der Anerkennungsfähigkeit von Differenz bemißt. Sie macht beides an übersinnlichen Qualitäten des menschlichen Geistes fest, die in der Vergangenheit als religiöse Triebkräfte kultureller Weltgestaltung wirksam waren und die sie in neuer Form zur Geltung bringen will. Sie rückt damit von der Sache her in die Nähe zu all den unterschiedlichen Bewegungen, die im Namen einer neuen Spiritualität die kulturelle Gestalt der Moderne in Wissenschaft und Technik, in formaler und methodischer Rationalität der Wissenschaften, in kapitalistischer Marktökonomie und demokratischer politischer Herrschaft nach dem Mehrheitsprinzip überwinden und dabei Naturzerstörung, Ausbeutung des Menschen, Entzauberung handlungsleitender Sinnsysteme und die vielen anderen Schäden der Modernisierung beseitigen will.
Viele dieser Bewegungen sind romantisch stimuliert und übersetzen nostalgische Rückblicke in die Vergangenheit in Zukunftsvorstellungen und gehören damit, absichtlich oder nicht, zur ersten Gruppe kultureller Strategien menschlicher Identitätsbildung. Sie sind letztlich rückwärtsgewandt, antimodernistisch und damit in ständiger Gefahr, in überholte ethnozentrische Denkformen zu verfallen. Die Anthroposophie ist vor dieser Gefahr nicht gefeit, und man kann im Gutachten auch nachlesen, daß und wie rassistische Elemente sich in anthroposophische Erziehungskonzepte einschleichen können. Die Untersuchung läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß eine solche Richtung anthroposophischen Denkens mit seiner Grundausrichtung durch Rudolf Steiner selber nur schwer vereinbar ist.
Die gehaltvolle Darlegung von Steiners Werk unter dem Gesichtspunkt einer kritischen Frage nach möglichem Rassismus kann den immer wieder gestarteten Versuchen Einhalt bieten, die Anthroposophie in die Nähe antimoderner reaktionärer Bewegungen zu rücken. Sie entstand in der großen europäischen Kulturkrise vor und nach dem Ersten Weltkrieg als ein Versuch, die Moderne aus dieser Krise auf einem Weg herauszuführen, in dem sie nicht romantisch verloren geht, sondern sich neu und zukunftsträchtig gewinnt. Freilich ist diese Richtungsbestimmung der anthroposophischen Bewegung nicht so eingeschrieben, daß sie ein für allemal festläge. Es hängt von den Anthroposophen selber und (indirekt) von ihren Gegnern, ihren Freunden und ihren Kritikern ab, ob diese Richtung beibehalten und wie sie konkret bestimmt und praktisch gelebt wird.