Mooswelt

N

Nahatkami

Guest
Das Land war grün und weich, soweit es sich erstreckte. Es war bewachsen von Moos, überall. Selbst die säulenartigen Gebilde, die sich in die Höhe streckten wie Bäume, waren umgeben von dem grünen Flaum – wie erstarrte leblose Formen bildeten sie Tore, Durchgänge, kleine Höhlen, Pfeiler. Eine warme freundliche gelbe Sonne beschien dieses Land und durchleuchtete die Mooswälder.
Es gab keine Weg hier. Zumindest keine, die ein einfacher Mensch hätte erkennen können. Die Wege befanden sich nicht auf dem Boden, sondern wurden am Tag gezeichnet durch die Sonne, nachts von den Sternen. Ein warmer schwacher Wind wehte, ein Lufthauch nur, eine leichte, sanfte Bewegung, ein Streicheln. Am grünblauen Himmel konnte man gelegentlich große weiße Vögel beobachten, manchmal auch kleinere, schwarze. Sie umkreisten friedlich dieses Land, denn hier gab es kein weiteres Leben. Dennoch war dieses Land nicht unbewohnt, es hatte sogar einen Namen. Es war das Land der Heiligen. Es gab acht an ihrer Zahl. Nie gab es mehr, nie gab es weniger. So war es schon immer und so würde es auch bis in alle Ewigkeiten bleiben. Das sagte ja schon die Acht, die Zahl der Unendlichkeit.
Der jüngste der acht Heiligen bildete immer einen Schüler aus. War diese Ausbildung beendet, wurde der Schüler in das letzte Geheimnis der Mooswelt eingeweiht. Dazu war es notwendig, das alle Einsiedler sich trafen, was alle hundert Jahre geschah, denn solange dauerte die Ausbildung eines Schülers. Nun war es wieder an der Zeit.

„Wo werden wir hingehen?“ fragte Drokas, der einzige derzeitige Schüler im Heiligenland.
Sein Lehrer Nehenb sagte nichts, lachte nur vergnügt in seinen Bart, denn seit ungefähr fünfzig Jahren hatte er seinen Schüler nicht mehr so aufgeregt und aus sich selbst gestürzt erlebt. Doch schließlich sprach er doch.
„Ich werde diese Frage nicht beantworten, denn du wirst es schon selbst sehen. Ich habe dich Geduld gelehrt, also sei geduldig.“
Drokas zuckte leicht zusammen bei diesen Worten, als hätte sein Meister ihn geschlagen. Dieser wandte sich ab und konnte ein weiteres Grinsen nicht unterdrücken. Auch er war ungeduldig, denn auch für ihn war es hundert Jahre her, das er seine letzte Reise getan hatte. Auch er war ungeduldig und schaffte es kaum, dies vor seinem Schüler zu verbergen. Welch schlechtes Vorbild wäre ich, würde ich wie ein kleiner Junge umherspringen und Purzelbäume schlagen, dachte er. Nein, vor seinem Schüler durfte er sich eine solch gelöste Haltung nicht erlauben. Er strich sich durch seinen rabenschwarzen langen Bart und mahnte sich selbst zur Geduld und Ruhe. Der letze Schritt seines Schülers war noch nicht getan, er war noch nicht vollkommen gefestigt und all das Wissen, all die Übungen von hundert langen Jahren konnten noch zerbrechen. Er mußte seinen Schützling auch durch diese letzte Prüfung führen Und er wäre kein guter Lehrer, sollte er darin versagen. Was danach kam...
Er drehte sich wieder um und seine grünen Augen blitzten als sie in die grauen seines Gegenübers fielen.
„Wir werden an einen Ort gehen, den du sehr gut kennst, an welchen du dich aber nicht erinnerst.“
Drokas senkte seinen Blick. Wo ich schon einmal war? „Wann soll das gewesen sein? Seit hundert Jahren habe ich nichts anderes gesehen, als diesen Mooswald... Und davor? Ich weiß nicht, was davor war“, gestand er schließlich zögernd. „Ich war noch ein kleiner Junge...“
„Richtig.“ Nehenb wiegte belustigt seinen Kopf. „Ein ungeduldiger kleiner Wildfang, der mich so manches mal zum verzweifeln brachte.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß überhaupt irgendetwas dich annähernd zum Zweifeln bringen würde, geschweige zum verzweifeln.“
Wenn du wüßtest, dachte Nehenb und lachte innerlich als er längst vergangene Bilder vor sich sah. Schnell schnürte er sein Bündel zusammen und warf es sich über die Schulter.
„Drokas, bist du soweit?“ fragte er ernst und feierlich.
Sein Schüler nickte und griff ebenfalls nach seinem Bündel.
„Bist du dir sicher?“ fragte Nehenb noch einmal.
„Ja.“ Drokas Augen leuchteten tief.
Nehenb verbeugte sich in die Richtung der Wohnstätte, ein Gebilde aus locker verwobenen Moosstäben, in dessen Inneres die Sonne Lichtflecken zauberte und wo es behaglich dunkelgrün schimmerte.
Drokas tat es ihm nach, mit der inneren Gewißheit, daß er es an dieser Stelle zum letzten Mal tun würde, das dies sein zu Hause gewesen war und er woanders neu beginnen müßte. Alleine... Ein undefinierbarer, fremder Schauer überlief ihn, dann wandte er sich um und folgte Nehenb, welcher bereits durch den Mooswald stapfte.

Obwohl selbst hier alles grün und moosbewachsen war, fühlte sich Drokas wie in einer fremden Welt. Die Moospolster schienen ihm heller zu strahlen, feuchter zu sein. Die Säulen des Waldes erschienen ihm so fremd und unbekannt, das er sich nicht sattsehen konnte an ihnen. Wieder und wieder berührte er die ihm so sonderbar erscheinenden Formen, strich über das Moos und blickte in den Himmel, wo die Sonne ein anderes Gesicht zu haben schien. Drokas wollte es nicht glauben, daß die Welt so anders sein konnte, obwohl sie doch überall aus der gleichen Erde bestand, vom selben Wind geküßt wurde. Ohne das es ihm bewußt geworden wäre, hatte er sich in ein staunendes Kind verwandelt, was Nehenb still beobachtete. Er saß abseits auf einem moosbewachsenen Stein und gab seinem Schützling Zeit. Für ihn selbst war es nicht das erste mal. Er reiste zum zweiten mal mit Drokas auf diesem Weg. Nur erinnerte sich Drokas nicht, denn Drokas war damals, vor hundert Jahren, ein Kleinkind und er selbst elendig zerfressen von Gefühlen. Nehenb wollte nicht darüber nachdenken und Drokas durfte sich nicht verlieren.
„Es ist spät. Wir sollten etwas essen bevor die Sonne untergegangen ist.“
Drokas zuckte zusammen als er eine Hand auf seiner Schulter spürte und wurde aus seinen Tagträumen gerissen. „Du hast recht“, sagte er dann nur und hielt nach den kleinen Hügeln Ausschau, die verrieten, das sich Wasserholzwurzelknollen darunter verbargen. Dort begann er vorsichtig das Moos abzuschaben und zu graben. Er befreite sechs der Knollen aus der Erde, schloß die Löcher und legte das Moos wieder darüber, so daß die Stelle unberührt erschien.
„Archka Mu“, sagte er dann und verneigte sich leicht.
Schweigend aßen Nehenb und Drokas die Früchte und beobachteten den Untergang der Sonne, der dem Mooswald einen kupfergoldenen Glanz verlieh. Beide spürten die kommende Veränderung in ihrem Leben ohne das jemand etwas genaueres darüber hätte sagen können. Der Tag hatte sie müde gemacht, nicht die körperliche Anstrengung des Laufens, denn die waren sie gewöhnt. Müde hatte sie das Ungewohnte gemacht, das Ungewisse, was wie ein Geheimnis in ihnen keimte.
Schweigend begrüßten sie das erste Sternenband, dann legten sie sich hin. Warm fühlte sich das Moos unter ihren Gesichtern an, vertraut roch die Erde und der Wind streichelte tröstend ihre Haut.

... Das Wesen hatte seine Verwandlung gespürt und wußte, daß wieder einmal hundert Jahre vorüber waren. Hundert Jahre hatte es an diesem Ort verbracht und gelernt. Nun war der Tag nahe, der Tag seiner achten Zusammenkunft mit den restlichen sieben Heiligen. Es war gespannt auf den Schüler, seine eigene Einweihung lag schon so lange zurück, so lange... Es war immer interessant, den Jüngsten zu sehen, ihn zu beobachten. Denn der Jüngste war die wichtigste Person. Die, die den Kreis schließen und öffnen würde. Das gefährliche war, daß die jüngste Person nie die eigene Wichtigkeit erahnte. Und das machte die Zusammenkunft spannend. Diesmal würde es das Wesen treffen, die Verwandlung hatte begonnen, es konnte nicht mehr lange dauern. Lächelnd blickte es mit blinden, achthundert Jahre alten Augen auf den heiligen Ort, den es den letzten Zyklus gepflegt, behütet und bewahrt hatte. Und es sah alles...

...
 
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...

„Kannst du mir nicht wenigstens etwas über unser Ziel verraten?“ bat Drokas. Sie waren bereits drei Wochen unterwegs und Drokas wurde zunehmend ungeduldiger.
Nehenb saß zufrieden im Moos und zerkaute vergnügt einige der gelben Morgenblüten, während er den Aufgang der Sonne beobachtete. „Man könnte glauben, daß es das gleiche Antlitz wie überall ist, nicht wahr?“ fragte Nehenb ohne auf die Bitte seines Schülers einzugehen.
„Ja, vielleicht“, stammelte Drokas wirsch. „Doch ich bitte dich, mir nicht dauernd auszuweichen.“
Nehenb drehte sich seufzend um. „Mein lieber Drokas. Du solltest deinen alten Lehrer eigentlich kennen, wir haben lange Zeit miteinander verbracht. Wenn ich dir ausweiche, hat das sehr wohl seine Gründe. Doch vielleicht hast du dieses eine mal recht und ich bin dir eine Antwort schuldig. Ich befürchte nur, ich bringe dich damit zu sehr durcheinander, denn es ist wichtig, daß du deine Aufgabe erfüllst. Du mußt dir diesen Weg merken, denn du wirst die Zeichen einst alleine deuten müssen. Erfährt dein hitziger Geist jetzt die Wahrheit, ist es um deine Sammlung und Konzentration geschehen und das, mein lieber Drokas, hätte fatale Folgen für das Reich der Heiligen“ Nehenb unterbrach seine Rede und blickte Drokas tief in die Seele. Dieser wagte es nicht, noch einmal zu sprechen, doch seine Augen glühten vor Wißbegierde.
„Ist dir kalt“ fragte Nehenb plötzlich und brach den Blickkontakt.
Drokas sah verwirrt an seinem nackten Körper herunter, als würde er nur dort einen Hinweis entdecken, der Nehenb zu seiner Frage geführt hätte. Er erinnerte sich, das ihm als Kind in den Morgenstunden oft kalt gewesen war, doch Nehenb hatte ihm alles beigebracht, um diesen Zustand zu vermeiden. Und irgendwann hatte er vergessen, was es bedeutet zu frieren. Was wollte sein Lehrer also mit dieser Frage erreichen?
„Mir ist nicht kalt. Mir ist seit 85 Jahren nicht mehr kalt. Das war das erste, was du mir jemals beigebracht hast!“ Drokas schien wütend und Nehenb blickte wieder in das Licht der Sonne. Es vergingen einige stille Minuten, bevor er sprach.
„Wir besuchen den heiligen Ort. Den Ort der Verwandlung. Dort treffen wir die anderen Einsiedler und werden teilnehmen am Ritus der hundertjährigen Wiederkehr, der zugleich die letzte Einweihung ist, die du durch mich erfährst.“ Die Worte verflogen und schienen etwas in Drokas Haltung zu ändern Nichts allerdings an den Moosformen, die lange Schatten warfen und den Ort in eine unwirkliche Gegend wandelten.
„Einen heiligen Platz? Du hast mir beigebracht, daß es so was nicht gibt, daß alles gleich... heilig ist.“
„Das ist es auch.“ Nehenb wandte sich nicht um, er blickte weiterhin in die Sonne, als er sprach. „Doch es gibt immer ein Zentrum, einen Ort, wo alles beginnt und wo alles endet. Eine Kraft, die die Dinge aufrecht erhält, sowie dein Herz dich am Leben erhält. Es ist das Zentrum.“
„Warum gehen wir jetzt erst hin? Warum waren wir nicht schon früher dort? Du hast mir hundert Jahre lang einen solchen Ort verschwiegen?“ Drokas trat neben Nehenb, dieser lachte.
„Du warst schon mal dort, du kommst von dort. Doch du erinnerst dich nicht mehr daran. Hätten wir den Ort früher aufgesucht, wärst du noch nicht soweit gewesen, ihn zu ertragen. Ich habe dich ausgebildet, damit du es schaffst. Das war meine Aufgabe, all die Jahre. Und nun ist die Zeit gekommen, zu sehen, ob wir unser Ziel erreicht haben.“
Sie schwiegen lange Zeit, dann fragte Drokas „Du machst dir Sorgen, daß ich es nicht schaffe.“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Nun blickte Nehenb seinen Schüler wieder an.
„Nein, mein Sohn, ich weiß das du es schaffst. Das macht mir keine Sorgen, doch unsere Zeit miteinander ist zu Ende. Wir beide werden andere Aufgaben zu erfüllen haben, unabhängig voneinander. Und ich stelle mir vor, wie es wohl sein wird, ohne einen solchen Quälgeist wie du es bist. Ich hätte endlich Zeit, mir die Sonne anzuschauen, ohne durch lästige Fragen unterbrochen zu werden... Doch du wirst mir fehlen.“
„Wir werden getrennt?“ fragte Drokas entsetzt. „Doch was soll ich dann machen?“
Bei dieser Frage lachte Nehenb laut los und rollte sich auf dem Boden umher bis ihm die Tränen kamen. Der bestürzte Ausdruck im Gesicht Drokas ließ ihn nur noch mehr lachen, bis er endlich erschöpft wieder sitzen blieb.
„Das“, brabbelte er dann unter Kichern, „wirst du bald erfahren. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das es langweilig wird. Doch nun konzentriere dich auf die Zeichen, denn sie sind der einzige Weg, den du dir ewig einprägen mußt Noch in dieser Nacht werden wir den heiligen Ort finden müssen und diese letzte Etappe ist ewig gleich. Merk es dir, denn du wirst einst wieder hierher kommen müssen!“

Drokas folgte seinem Lehrer und gab acht auf die Zeichen, sah in die Sterne und versuchte sich jede schwarze Moosformation zu merken, welche in den Himmel ragte. Es strengte ihn an und machte ihm Angst. Es dauerte schon so lange und wie sollte er sich all das nur merken?
„Drokas“, flüsterte Nehenb. „Was starrst du so in den Himmel? Du sollst doch die Zeichen wahrnehmen!“
Frustriert wollte Drokas antworten, daß er doch genau das tun würde, daß er sich doch alle Mühe gab und Nehenb selbst ihm beibrachte, die Wege sind nur mit Hilfe des Himmels zu finden, doch dann verstummte er plötzlich. Er sah einen kleinen sich bewegenden Lichtschein im Dunkel des Mooswaldes. Blau, strahlendes helles blau. Der Schein flatterte umher, stieg auf und ab und schwirrte mal dorthin und mal dorthin, verschwand hinter einem Moosgebilde und tauchte an anderer Stelle wieder auf. Es war unmöglich, ihn zu verfolgen, denn er mußte unwahrscheinlich schnell sein, um dort zu verschwinden und ganz woanders wieder aufzutauchen. Doch dann bemerkte Drokas, das es nicht nur ein Lichtschein war, sondern mehrere. Es waren viele und schienen immer mehr zu werden.
„Was ist das?“, fragte er leise und voll Angst.
„Das sind Schmetterlinge“, antwortete Nehenb. „Dort wo sie sind, ist der heilige Ort. Komm!“
Schmetterlinge? Drokas konnte sich nicht erinnern so etwas schon einmal gesehen zu haben, was sollte das sein? Er versuchte näher an einen solchen zu gelangen, doch sie waren zu schnell und seine Augen waren an solche flatternden Bewegungen nicht gewöhnt.
Je weiter sie kamen, um so mehr dieser Lichtpunkte, die sich Schmetterlinge nannten, gab es. Bald konnten sie eine Lichtung ausmachen , eingetaucht in einen bläulichen Schimmer. Und dann sah Drokas die anderen.
Sie saßen in einem Kreis, in deren Mitte eine uralte Gestalt mit blinden Augen.
„Sie ist das Wesen“, sagte Nehenb. „ Die älteste Kraft von uns allen“, und verneigte sich vor dieser. Unsicher tat es Drokas seinem Lehrer nach und schaute dem Wesen in die blinden Augen.
„Hast du Angst?“ fragte das Wesen mit einer klangvollen Stimme, welche ihrem Aussehen mit Lügen strafte. „Nun, daß brauchst du nicht. Du bist hier, weil du mir bei meiner Verwandlung helfen mußt. Fühlst du dich dazu bereit?“
Drokas konnte nicht antworten, zu fremd war ihm die Gestalt und die Kraft, die sie umgab. Sein Verstand konnte es kaum begreifen, kaum erfassen und ihm schwindelte von den hastigen Bewegungen der Schmetterlinge. Er wurde ohnmächtig.

...
 
Als er wieder zu sich kam, war er alleine. Die Wesen, die sein Meister als Schmetterlinge bezeichnet hatte hatten sich alle an einer Stelle auf dem Boden versammelt und waren ruhig. Wie Blumen verharrten sie dort, auf einem riesigen runden Teppich. Neugierig trat Drokas näher heran, sanft und leise, wie sein Meister es ihm beigebracht hatte, sich nahezu unsichtbar machend. Er wollte diese Lebewesen studieren, betrachten und sie flogen nicht davon. Sie hatten Flügel, doch nicht so wie die Vögel. Sie waren viel, viel zarter, fast durchsichtig und leuchteten so nahe fast unerträglich hell. Ein leichter Goldschimmer benetzte ihren Körper und ihr Gesicht. Über den winzig kleinen Augen befanden sich zwei längliche Dinger, die Drokas mit sehr dicken Haaren verglich. Diese Haare bewegten sich sanft hin und her, als würden sie nach etwas tasten. Die Schmetterlinge hatten alle ihre Flügel ausgebreitet und bewegten sich leicht auf und ab, obwohl sie doch so still verharrten, was Drokas wunderte. Er bemerkte, daß es etwas unter ihnen war, was sich leicht bewegte, das, worauf die Schmetterlinge sich befanden. Er führte einen Finger auf diesen seltsamen Boden zu und berührte ihn. Zutiefst erschrocken sprang er auf, denn sein Finger glitt dort hinein. Hastig drehte er sich um und wollte flüchten, als er das Wesen bemerkte, welches nun plötzlich vor ihm saß.
„Hast du Angst?“ fragte es noch einmal „Das brauchst du nicht. Alles ist wie es ist, alles ist wie es sein soll. Bist du nun bereit für deine Prüfung?“ Das Wesen wartete keine Antwort ab.
„Schau!“
Drokas blickte in die Richtung, in welche das Wesen zeigte. Hinter den Schmetterlingen erschien plötzlich eine Treppe aus Fels. Steil und hoch ragte sie in den Nachthimmel.
„Dort müssen wir hinauf. Bist du bereit?“ Das Wesen wartete keine Antwort ab. „Es wird Zeit, komm, ich werde dich führen.“

Lange dauerte es und beschwerlich war der Weg. Drokas wußte nicht, was Stufen sind und wunderte sich darüber. Er hatte Angst, je höher sie kamen, Angst zu fallen. Die Schmetterlinge folgten ihnen nicht, so wurde es immer finsterer. Die Stelle, auf der sie zusammensaßen wurde immer kleiner, je höher sie kamen und sie verschwammen zu einem einzigen blauen Lichtpunkt. Drokas hatte sich noch nie über dem Mooswald befunden, er hatte nicht einmal geahnt, daß so etwas möglich war, daß man den Sternen so nahe sein konnte. Wie war das nur möglich? Und wie sollte er das nur verkraften? Er schwankte, da er sich nirgends halten konnte und ihm wurde schwindlig bei dem Gedanken an die Tiefe. Sein Herz pochte und sein Körper verkrampfte sich, ihm war übel und er mußte alle Mittel der Selbstbeherrschung aufwenden, die Nehenb ihm all die Jahre beigebracht hatte, um weiter zu gehen zu können.
Als der Schein der Schmetterlinge nur noch ein winziger Punkt war, kaum noch auszumachen, blieb das Wesen stehen und Drokas war vor Anstrengung und Angst halbtot. Lediglich die Scham, zu versagen und seine Hilflosigkeit vor dem Wesen zuzugeben, ließ ihn weiterkämpfen und aufrecht bleiben.
„Du kennst deine größte Angst?“ fragte das Wesen und wartete eine Antwort nicht ab. „Du mußt sie nun besiegen. Im Land der Heiligen darf es keine Angst geben.“
Drokas blickte verwirrt in die blinden Augen und wußte nicht, was er tun sollte, hier oben, den Sternen so unheimlich nahe. Was gab es hier denn noch, außer sie beide - den Schüler und den Erleuchteten?
„Als ich noch du war“, sprach das Wesen und Drokas konnte nicht bereifen, wovon es sprach, „hatte ich Angst vor dem Fallen. Als ich noch du war, war ich als Kind auf ein Moosgebilde geklettert und bin gestürzt. Mein Lehrer mußte mich lange, lange Zeit wieder gesund pflegen. Ich hatte den Schmerz kennengelernt, unheimlichen Schmerz und ich wollte nie wieder fallen. Doch irgendwann tat ich es noch einmal. All das ist lange her und nun sind andere an der Reihe. Der Kreislauf muß erhalten bleiben. Du bist nun derjenige, der entscheidet, ob wir leben oder sterben werden. Ich bin alt, mein Geist braucht eine andere Form. Ich bin nicht länger du, du mußt dich nun selbst erschaffen. Habe keine Angst, du kannst all dies noch nicht verstehen. Ich habe dafür achthundert Jahre gebraucht. Und ich mußte dafür fallen. Tief fallen...“ Das Wesen sah Drokas in die Augen, obwohl es gar nicht sehen konnte und fiel.
Keuchend brach Drokas zusammen und klammerte sich an die oberste Treppenstufe und sah dem Wesen hinterher wie es in der Dunkelheit verschwand. Er sah sich selbst als Jungen von dem Moosgebilde herunterfallen und sich ein Bein und einen Arm brechen. Er wußte, was es bedeutet zu fallen und aufzuprallen. Auf keinen Fall würde er so etwas noch einmal tun! Auf keinem Fall von hier oben, den Sternen so nahe! Doch als Drokas die Stufen hinabsteigen wollte, erkannte er, daß diese nicht mehr da waren. Sie waren verschwunden, unter ihm befand sich nichts mehr, lediglich der Abgrund! Etwas in ihm schrie auf und flehte um Gnade. Das konnte doch unmöglich seine Prüfung sein! Das konnte doch unmöglich die Prüfung sein! Das konnte doch... Verzweifelt weinte er wie ein kleines Kind, weinte er wie damals und es dauerte lange. Als seine Tränen versiegten, fühlte er eine neue Kraft in sich. Langsam setzte er sich auf und schloß die Augen, beruhigte seinen Atem und sein Herz und wurde still. Es war seine Prüfung. Sein Lehrer oder das Wesen, hätten ihm niemals eine Prüfung gestellt, die nicht zu schaffen wäre. Es mußte einen Weg geben, er mußte Vertrauen in sich haben.
Als er die Augen wieder öffnete, versuchte er den blauen kleinen Punkt unter sich auszumachen, es dauerte eine Weile, bis er ihn gefunden hatte, denn er war so winzig klein von hier oben... Noch einmal schloß Drokas seine Augen und hörte tief in sich, suchte Verbindung zu seinem Lehrer und fühlte seine Zuversicht. Dann sprang er.
Er raste der Erde entgegen und versuchte still zu bleiben. Nichts konnte ihm passieren, er mußte nur still und konzentriert und voller Vertrauen sein. Er versuchte, nicht an den Aufprall zu denken, nicht an seine Angst, nicht an seine Schmerzen. Er dachte an Nehenb und vertraute. Und plötzlich verlangsamte sich sein Tempo. Überrascht öffnete Drokas seine Augen und sah das Wesen. Es war da, neben ihm und fiel gleichzeitig mit ihm hinab in die Tiefe. Wie konnte das sein? Das Wesen wandte sich zu Drokas und dessen Herz zog sich zusammen. Die uralten, blinden Augen des Wesen leuchteten golden und ein unendlich friedlicher Gesichtsausdruck hatte sich seiner bemächtigt. Das Wesen strahlte eine so tiefe Liebe und Dankbarkeit aus, das Drokas begann zu weinen vor Freude. Er blickte hinab, um festzustellen, wie weit es noch war bis nach unten und sah die blauen Schmetterlinge. Sie hatten sich erhoben und flatterten ihnen entgegen. Je dichter sie kamen, um so mehr veränderten sie ihre Farbe. Sie wurden so golden, wie die Augen des Wesens. Erstaunt sah Drokas wieder zu dem Heiligen, der sanft lächelte. Die Schmetterlinge umschwebten ihn und sobald sie ihn berührten, hatten sie ihre Farbe verändert. Als alle Schmetterlinge bei ihnen waren und kein blaues Pünktchen mehr zu sehen war, nickte das Wesen Drokas strahlend zu und verwandelte sich selbst in einen Schmetterling.
Drokas bekam einen Schock und plötzlich ging alles wieder ganz schnell. Er raste dem Boden entgegen und sah nach unten. Die Dunkelheit war verschwunden, die Sonne stand glühendrot am Horizont. Dort wo in der Nacht die Schmetterlinge gesessen hatten schimmerte es grünlich und glitzerte. Um diesem glänzenden Kreis standen die anderen sechs Heiligen und sahen zu Drokas auf. Er fiel und fiel und sein Herz verkrampfte sich wieder, doch dann ließ er vollkommen los, es war vorbei.
Er tauchte in den grünen Boden und dieser schloß sich über ihm. Es tat nicht weh. Er war nicht tot. Oder doch? Drokas öffnete die Augen, es fühlte sich unerklärlich an und er konnte nicht mehr atmen, doch er lebte noch! Er sank tief und es wurde wieder dunkler, doch über ihm war das Licht. Dorthin wollte er zurück. Er schloß die Augen, denn sie brannten, er wollte Luft holen doch erstickte fast an dem Versuch. Panisch wedelte er mit Armen und Beinen und durchstieß nach Ewigkeiten endlich die grüne Schicht, die ihn von dem Licht trennte. Er keuchte und schrie und atmete und lebte! Er schrie und schrie und saugte das Leben in sich hinein und wußte, daß die anderen sechs ihn still beobachteten. Schließlich bemerkte er, daß er nicht alleine schrie. Da war noch eine andere Stimme, schriller, fremder. Er blickte sich danach um und sah einen winzigen Menschen neben sich treiben.
Verblüfft suchte er die Augen seines Lehrers, doch sah zunächst nur ein Wesen. Jünger als das, welches sich gerade verwandelt hatte – das mußte der Nachfolger sein, das neue Wesen, die nächste Kraft. Dann endlich sah er Nehenb und in seinen Augen stand ein tiefes wissendes Lachen.

(März 2003 und 25.05.2005)
 
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Oh!

:morgen:

Das Ganze 1x abgescannt.
Sooo grün und kuschelig weich.


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