Die Tür- eine Geschichte über den Tod eines besonderen Menschen

Citare

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19. September 2004
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„Das ist unfair!“, schreie ich „ich will auch mit!“ Mama lässt sich nicht erweichen und hält mich fest, all mein Zappeln und Strampeln hilft nichts, so dass ich mich schließlich schmollend geschlagen gebe und in mein Zimmer renne. Die Tür knallt und ich bin allein. „Die sind doch alle doof“, sage ich mir. „Die“ das sind zum einen mein Bruder Fabian und seine Freunde die mich nicht mit zum Schwimmen nehmen wollten und zum andern meine Mutter die nicht einsehen will, dass das gemein von ihnen ist. Überhaupt ist das immer so, nie will Fabian etwas mit mir unternehmen. „Du bist noch zu klein Anna.“, redet er sich jedes Mal heraus, doch ich weiß genau, dass ich ihm bloß peinlich bin. Mit 13 spielt man doch nicht mehr mit seiner kleinen Schwester. Ich kann ihn ja verstehen, doch das macht mich nur noch wütender.
Es klopft an der Tür. Ich weiß, dass es meine Mutter ist, die draußen steht und mich mit irgendetwas bestechen will. So macht sie es immer weil sie ja weiß wie schwer das alles für mich ist und weil es ihr leid tut, dass sie nichts mit mir unternehmen kann.
Ich habe eigentlich keine Lust auf sie und sage nichts, doch da kommt sie auch schon herein. „Anna mein Schatz, was hältst du davon wenn ich dich auf dem Weg zur Arbeit bei Oma vorbei bringe?“ Plötzlich vergesse ich meine Wut. Zu Oma fahren, etwas schöneres gibt es für mich nicht, nicht einmal Schokoladeneis kann da mithalten. Ich springe übermütig herum und obwohl es noch etwas dauert bis wir fahren packe ich schon meine Tasche. Hinein kommt mein Teddybär, eine Jacke und Buntstifte. Oma und ich malen schrecklich gerne, doch im Altenheim da haben sie nur Bleistifte, kein Rot, kein Blau, kein Gelb. Überhaupt finde ich, ist dort alles grau und langweilig, alles bis auf Oma. Die ist immer fröhlich.

Nun fahren wir los. Im Auto kann ich kaum stillsitzen und Mama droht mir schon mit dem Umkehren. Zu spät, denn da fahren wir schon die lange Auffahrt hinauf. Ich springe regelrecht aus dem Wagen und hätte fast einen alten Mann umgerannt. Es ist Paul, den kenne ich schon von früheren Besuchen, doch für sein „Hallo Anna, na, willst wohl die Tinka besuchen?“ habe ich kaum Zeit und nicke ihm nur kurz zu, bevor ich durch die Drehtür stürme. Mama kommt mir nicht hinterher, ich kenne mich hier ohnehin besser aus als sie. Drinnen ist es angenehm kühl und so leise, dass meine Schritte sich wie Hammerschläge anhören. Hier und da sehe ich eine der Pflegerinnen und grüße sie artig. Als ich dann endlich vor der Tür mit der Nummer 158 stehe bin ich ganz außer Atem. Ich klopfe ganz laut obwohl Oma doch noch gut hören kann und gehe hinein. Drinnen ist alles noch genau so grau und langweilig wie ich es in Erinnerung habe und neben dem weichen Bett meiner Oma steht eine junge Frau mit ordentlich nach hinten gebundenem Haar und der typischer Pflegerkleidung. Als sie mich sieht da lächelt sie und begrüßt mich herzlich, fragt ob ich meine Ferien genieße und noch mehr unwichtiges Zeug auf das ich so kurz wie möglich antworte. Ich möchte viel lieber dass sie mich mit meiner Oma alleine lässt.
Ein Glück, dass diese Pflegerinnen aufmerksame Leute sind, denn so macht sie sich auch schon bald daran das Zimmer zu verlassen. „Einen schönen Tag Elisabeth und vergessen sie nicht was der Doktor gesagt hat, keine Süßigkeiten!“, damit schließt sie die Tür hinter sich und ich klettere auf die Bettkante. Oma ist immer noch so schön wie immer. Mit der Hand streichle ich über ihre faltige Wange und das silberne Haar und gebe ihr einen Kuss auf die blassen Lippen. „Hallo Oma Tinka“. Sie lächelt und nimmt mich in den Arm „Hallo mein Schatz.“. Oma Tinka, so nennen sie nur ganz besondere Leute. Den Namen Elisabeth mag sie nicht weil er genau so langweilig wie alles hier drinnen ist und ich denke das auch.

Wir machen uns einen wunderschönen Mittag und nach dem Mittagessen gehen wir nach draußen in den Park. Dort blühen die Blumen kunterbunt in Rot und Gelb und Blau und die Vögel zwitschern als wollten sie uns zeigen wer von ihnen es am besten kann. Oma Tinka und ich schwatzen und lachen und im Mund haben wir beide ein Zitronenbonbon, obwohl sie doch eigentlich nicht darf. „Einer wird mir schon nicht schaden.“, sagt sie und damit hat sie recht.
Nach einer Weile in der wir einfach nur geradeaus und den Weg entlang gewandert sind kommen wir an eine hohe Hecke und noch etwas später an einen schmalen versteckten Durchgang. „Was ist da hinter?“, frage ich und Oma beginnt zu lachen. „Weißt du Anna, so genau kann dir das keiner sagen, möchtest du nicht nachschauen?“. Ich überlege kurz. Ein wenig mulmig ist mir schon, denn hinter der Hecke sieht es viel schattiger und unheimlicher aus als hier, doch dann schaue ich auf Oma Tinkas Lächeln und nicke. Zusammen kämpfen wir uns durch die Äste die in den schmalen Durchgang hängen und kommen schließlich ans andere Ende.

Ich staune nicht schlecht über das was ich sehe. Es ist eine richtige Zauberwelt. Auf dem Boden hüpfen Eichhörnchen herum und in einem kleinen Teich springen die bunt schillernden Fische so hoch, dass ich sie ganz leicht fangen könnte. Die Blumen, so finde ich, strahlen hier noch viel bunter und farbenfroher und meine Oma ist plötzlich nicht mehr die alte Dame die ich kenne, sondern tanzt auf dem flauschigen Moosteppich herum, fast so wie ein junges Mädchen. Ich tanze mit, so lange bis wir beide völlig erschöpft ins grüne Gras fallen und uns die Bäuche halten, weil wir so lachen müssen.
So liegen wir dann eine Weile, bis ich in einiger Entfernung eine hohe Tür entdecke, die über und über mit Efeu bewachsen ist. „Was ist das?“ möchte ich wissen und Oma ist mit einem Mal ganz ernst. „Weißt du Anna, durch diese Tür da gehen die ganzen Leute, die in dieser Welt schon so viel gesehen und erlebt haben, das es ihnen reicht. Dahinter liegt ein noch viel größerer und schönerer Garten als dieser hier und dort warten sie dann auf alle die, die sie lieb haben.“. Darüber muss ich erst nachdenken, doch schließlich frage ich „ist Opa dann auch da drüben?“. Irgendwie glaube ich, dass sie mir schon einmal von so etwas erzählt hatte, doch Oma Tinka macht ein nachdenkliches Gesicht. „Bestimmt.“, sagt sie dann und ich überlege wieder. „Und gehst du auch irgendwann durch diese Tür?“ „Ja, irgendwann und wenn es so weit ist, dann darfst du nicht traurig sein hörst du?“. Das verstehe ich nicht, denn ich glaube fest daran, dass ich sie dort besuchen kommen kann. „Das wird wohl nicht gehen, denn sobald einer hindurch gegangen ist, schließt sich die Tür von ganz alleine ab.“, erwidert sie. Gerne würde ich wissen warum das so ist, aber selbst Oma kann es mir nicht erklären und so frage ich auch nicht weiter.

Drei Wochen nach meinem Besuch im Altersheim hat Mama Oma Tinka zu uns nach Hause geholt. Wir trinken zusammen Tee, essen Kuchen und reden über alles Mögliche. Das Mama von dem Theater erzählt, das ich immer mache wenn Fabian ohne mich weg geht, gefällt mir gar nicht und ich protestiere. Mama und Oma lachen daraufhin nur und Oma Tinka erzählt das meine Mutter in meinem Alter auch nicht besser war.
Später, als es schon Abend wird, schaut noch mein Bruder mit seinen Freunden vorbei. Oma freut sich sehr und verhätschelt ihn übermütig, so dass er ganz rot anläuft. Als er dann mit seinen Freunden das Wohnzimmer verlässt, lachen diese immer noch über ihn und um sich wiedereinmal heraus zu reden sagt er „die Alte hat echt ne Schraube locker.“ Da lachen sie alle noch mehr, lachen über meine Oma Tinka und weil mein Stuhl ganz nah bei der Tür steht, kann ich das alles hören. Es ist nicht fair so was zu sagen, schließlich hat Oma es nur gut gemeint und stinksauer wie ich bin beschließe ich, dass ich mit denen bestimmt nie mehr etwas unternehmen will.

Nachdem ich jetzt öfter meine Oma besuche, gehen die Ferien viel schneller vorbei als ich gedacht hatte und schon bald sitze ich wieder mit rauchendem Kopf in der Schule und strenge mich an. Wenn ich gute Noten schreibe hat mir Mama versprochen, dann darf ich bald mal ein ganzes Wochenende mit Oma Tinka verbringen und das will ich unbedingt.

Das treibt mich Woche um Woche an, bis zu dem Tag, an dem etwas seltsames passiert.. Mitten in der Mathestunde kommt meine Mutter in die Klasse uns spricht kurz mit meiner Lehrerin. Ich darf meine Sachen packen und gehe mit ihr nach draußen, Fabian sitz bereits im Auto und wartet. Auch er weiß nicht was passiert ist.
Mama fährt stumm die Straße entlang, ich kenne den Weg, er führt zum Altenheim. Dieses Mal gehen wir alle zusammen durch die Drehtür und an den Pflegerinnen vorbei zu der Tür mit der Nummer 158. Mein Papa ist auch schon da und lächelt uns ganz traurig an, als Mama zu ihm schaut schüttelt er ganz schwach den Kopf, gesehen habe ich es trotzdem. Da fängt meine Mutter plötzlich an zu weinen, warum das weiß ich nicht. Alle zusammen gehen wir in Oma Tinkas Zimmer. Sie liegt auf ihrem Bett und scheint ganz fest zu schlafen. Als ich mich wie gewohnt auf die Bettkante setze und über ihre Wange streiche ist sie ganz kalt. Ich drehe mich zu meiner Mutter um, die ganz dicht hinter mir steht und sich die Tränen weg wischt. Als sie den Mund aufmacht, da kommt kein einziger Ton heraus. „Du Mama, warum schläft Oma Tinka, es ist doch gar nicht Schlafenszeit.“ Da setzt sich Mama neben mich und nimmt mich fest in den Arm. „Weißt du mein Schatz, Oma wird jetzt noch ganz, ganz lange schlafen.“ Das finde ich komisch und frage warum. „Weil sie tot ist Anna, deshalb!“, das war Fabian. Er klingt ganz zornig und zittert, das sehe ich an seinen Händen, doch das was er gesagt hat, das begreife ich nicht. „Oma ist ganz weit weg gegangen meine Kleine.“, versucht Mama zu erklären, doch ich höre ihr nur halb zu. Weit weg gegangen, damit kann sie nur die Tür in dem kleinen Garten meinen, aber wie...? „Wie kann sie denn weg gegangen sein, wenn sie noch hier liegt? Wie soll sie denn so durch die Tür gehen?!“. Alle starren sie mich verwirrt an und so erzähle ich ihnen von der Tür und von dem was Oma sagte. Sie glauben mir nicht, das sehe ich an ihren Gesichtern und deshalb renne ich heulend weg, ich will sie alle nicht mehr sehen.

Ich laufe zu dem kleinen Garten, zu der Tür und rüttle daran, trommle mit den Fäusten dagegen aber sie geht nicht auf. Irgendwann da setzte ich mich einfach davor und weine noch ein bisschen, bis mich plötzlich jemand an der Schulter packt. Ich hoffe erst es ist Oma Tinka, doch als ich mich umdrehe ist da nur Fabian. „Geh weg!“, sage ich, doch er hört nicht und setzt sich neben mich. In seiner Hand hält er einen knittrigen Umschlag doch der ist im Moment nicht wichtig. „Anna?“, ich antworte nicht. „Glaubst du das Oma vielleicht als Geist durch die Tür gegangen ist? Ich meine könnte doch sein, dass alte Leute da drüben einen neuen Körper bekommen.“. Er flüstert fast, ich glaube es ist ihm peinlich, dass er noch an Geister glaubt, doch ich bin ihm dankbar. Ich selbst wäre nie auf so eine Idee gekommen, aber jetzt verstehe ich auch warum man nicht einfach als Besucher durch die Tür gehen kann.
Ein bisschen sitzen wir so nebeneinander, dann drückt er mir den Umschlag in die Hand und als ich reinsehe, da ist nichts weiter drin als ein Schraubenzieher und ein Zettel. Auf dem Papier steht „Hiermit habe ich immer meine alten Schrauben fest gezogen, ich hoffe ihr haltet ihn immer in Ehren und denkt an mich.“ Ich muss lächeln, hat sie es damals also auch gehört und einfach nichts gesagt die liebe alte Oma. „Glaubst du, dass sie weiß, wie leid mir das tut?“, fragt mich Fabian und muss fast weinen. „Ganz sicher.“, antworte ich ihm und dann nimmt er mich in den Arm, mich seine kleine Schwester. Sicher, er wird mich immer noch nicht mit zum Schwimmen nehmen aber immerhin habe ich jetzt etwas besseres als das, denn seine Freunde wissen nichts von der Tür und dem Garten dahinter, das wissen nur wir beide und das finde ich toll.


Meine Großeltern leben noch, diese Geschichte entstand nach einem Besuch bei ihnen, meiner Oma ging es da gerade ziemlich schlecht...
Ich habe sie für meine kleine Schwester geschrieben, sie hat große Angst vor dem Tod. Ich hoffe sie hilft ihr, wenn es irgendwann einmal soweit ist.

Mira
 
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